Sonntag, Oktober 6

Hunderttausende fordern in Israel einen Waffenstillstand, nachdem die Armee am Sonntag sechs von der Hamas ermordete Geiseln aus dem Gazastreifen geborgen hat. Der Druck auf Netanyahu nimmt zu.

Die israelische Wirtschaft ist am Montagmorgen weitgehend zum Stillstand gekommen. Am Flughafen von Tel Aviv hoben für einige Stunden keine Maschinen ab, Hafenarbeiter in Haifa löschten keine Waren mehr, Lehrer im ganzen Land beendeten vorzeitig den Unterricht. Viele Israeli folgten dem Streikaufruf von Israels grösstem Gewerkschaftsbund Histradut, Unternehmensverbänden und dem Forum der Geiselfamilien.

Schon um 14 Uhr 30 herrschte jedoch wieder Normalität. Israels Arbeitsgericht hatte geurteilt, dass der Streik dreieinhalb Stunden vor dem angesetzten Ende abgeschlossen sein müsse. Laut dem Richter wäre die Gewerkschaft rechtlich verpflichtet gewesen, den Streik länger im Voraus anzukündigen. Die Histradut hatte erst am Vortag mobilisiert.

Wenige Stunden nach der Streikankündigung war der grösste Protestzug seit Kriegsbeginn durch die Strassen von Tel Aviv gezogen: Knapp 300 000 Menschen versammelten sich am Sonntagabend auf den Strassen der grössten Stadt des Landes, um ein Geiselabkommen und einen Waffenstillstand in Gaza zu fordern. Auslöser der Demonstrationen war ein tragischer Fund am Sonntagmorgen: Die Armee barg im südlichen Gazastreifen sechs von der Hamas ermordete Geiseln. Eine Obduktion ergab, dass die Geiseln 72 bis 48 Stunden vor Ankunft der Soldaten aus nächster Nähe erschossen worden waren.

Das Land ist nun noch zerrissener, als es ohnehin schon war. Für die Kritiker der Regierung von Benjamin Netanyahu sind die getöteten Geiseln das Zeugnis einer verfehlten Politik. Hätte der Ministerpräsident früher bei den Verhandlungen um ein Geiselabkommen eingelenkt, wären die sechs Landsleute vielleicht noch am Leben, argumentieren sie. Die Unterstützer seines harten Kurses ziehen einen gegenteiligen Schluss: Die Morde der Hamas zeigten, dass die Terroristen aus Gaza an einer Übereinkunft nicht interessiert seien.

«Netanyahu wird abwarten und schauen»

Das letzte Mal waren so viele Israeli im März 2023 auf die Strasse gegangen, als sie gegen die von Netanyahu vorangetriebene Justizreform protestierten. Die Demonstrationen führten dazu, dass die Regierung wichtige Gesetzesvorhaben aufschob. Auch damals hatte Israels grösster Gewerkschaftsbund mit einem Generalstreik gedroht.

Ob der Streik und die Demonstrationen dieses Mal einen substanziellen Effekt haben werden, muss sich erst noch zeigen. Das Ausmass des Protests gegen die Regierung sei signifikant, sagt der Politikwissenschafter Gideon Rahat von der Hebräischen Universität Jerusalem. Dennoch bleibt er skeptisch, was die Auswirkungen der Proteste angeht. «Sagen wir es so: Wenn Netanyahu seine Meinung zu einem Geiselabkommen jetzt nicht ändert, wird er sie nie ändern.»

Dem Ministerpräsidenten gehe es allerdings vor allem um sein eigenes politisches Überleben, ist Rahat überzeugt. «Netanyahu wird nun einfach abwarten und schauen, so wie er es immer tut», sagt der Politikwissenschafter. Der Regierungschef werde darauf spekulieren, dass die Protestwelle wieder abebbe, was auch wahrscheinlich sei.

Die Verhandlungen werden schwieriger

Der Druck auf Netanyahu wächst nun, sich bei den Verhandlungen flexibler zu zeigen – auch in der eigenen Regierung. Verteidigungsminister Yoav Gallant sagte am Sonntag, das Kabinett müsse umgehend die Entscheidung vom Donnerstag rückgängig machen, nach welcher israelische Soldaten auch nach einem Waffenstillstand weiterhin an der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen präsent bleiben sollen. Die Hamas lehnt dies ab, Netanyahu besteht darauf. Die israelische Militärpräsenz an der Grenze ist einer der Knackpunkte bei den Verhandlungen um einen Waffenstillstand.

Doch nicht nur die Soldaten an der Grenze, sondern auch die Ermordung der sechs Geiseln verkompliziert die Gespräche. In einer ersten Phase eines möglichen Geiselabkommens sollten Frauen, Ältere und Verletzte im Austausch für palästinensische Gefangene freikommen. Zwei der Getöteten waren Frauen, und der 23-jährige Hersh Goldberg-Polin zählte zur Kategorie der Verwundeten. Er verlor einen Arm durch Granatenbeschuss bei dem Hamas-Massaker am 7. Oktober.

Die Hamas und Israel streiten seit langem darüber, welche spezifischen Geiseln für welche Gefangenen ausgetauscht werden. Laut der Armee befinden sich immer noch 101 israelische Geiseln in den Händen der Hamas, gemäss Medienberichten sind aber wohl rund ein Drittel von ihnen bereits tot. Netanyahus rechtsextreme Koalitionspartner lehnen jedwede Vereinbarung mit der Hamas weiterhin ab.

Der Druck aus den USA nimmt zu

Weiterer Druck kommt nicht nur von der israelischen Strasse, sondern auch aus dem Ausland. Am Montag berichtete die «Washington Post», die USA würden bald ein letztes Angebot für beide Seiten auf den Tisch legen. Sollte dieser Vorschlag nicht angenommen werden, zögen sich die Amerikaner aus den Verhandlungen zurück.

«Ich habe grössere Hoffnungen, dass der amerikanische Druck Netanyahu dazu bewegt, seine Position zu verändern», sagt Manuel Trajtenberg im Gespräch. Der Ökonom leitete bis vor wenigen Monaten das israelische Institute for National Security Studies. «Denn wenn Netanyahu ein letztes Angebot der USA ablehnt, wird er für das Scheitern verantwortlich gemacht werden.»

Der amerikanische Präsident Joe Biden hat seine Taktik offenbar angepasst, um doch noch ein Geiselabkommen abzuschliessen. Am Montag sagte er, ein Waffenstillstand im Gazastreifen sei in greifbarer Nähe. Doch Netanyahu tue nicht genug, um die Verhandlungen zu Ende zu bringen.

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