Montag, Oktober 7

Seit Jahrzehnten lebt Agi Mishol an der Grenze zum Gazastreifen. In ihrem jüngst ins Deutsche übersetzten Gedichtband findet sich auch ein nach dem Massaker am 7. Oktober entstandener Text.

Manchmal bestehen Agi Mishols Gedichte nur aus knappen vier Zeilen: «Still dasitzen / am Wegrand im Feld / Fische angeln ohne Fluss / und ohne Haken.» In andern Fällen holen sie weiter aus, ob es um eine Hündin oder einen Zitronenbaum, die Muttersprache oder den Atem, eine Nacht im Dorf oder die Zeit geht.

Die israelische Lyrikerin widmet sich im Band «Gedicht für den unvollkommenen Menschen» vielen Themen, zumal aus ihrem ländlichen Alltag. Sie registriert genau, nimmt die feinsten Risse und Widersprüche wahr, idealisiert weder die Natur noch die Liebe, weder das eigene Ich noch den Lauf der Welt. Doch ihr Blick ist immer empathisch, und ihr mit Wehmut vermischter Schalk verdankt sich dem Bewusstsein eigener Unvollkommenheit und Verletzlichkeit.

All das macht Mishols Gedichte so nahbar. Selbst wenn sie über ihr poetisches Tun schreibt. Da sitzt die Muse vor ihr, tratscht mit ihr und mahnt sie zum Erzählen. «Komm ich diktier dir / dich selbst. / Du musst dich nicht so persönlich nehmen / kannst jederzeit / das Blatt zusammenknüllen / und wegwerfen / (. . .) lass einfach locker / lass los / lass die Wörter machen.»

Nur die Natur darf Kitsch

Die Wörter folgen bei Mishol aber nicht einer blinden Zufallsregie, sondern klaren Setzungen: durch die Vermischung von Hoch- und Umgangssprache, von Bibelzitaten und Redensarten, was Anne Birkenhauer stilsicher wiedergegeben hat. Nie drängt es Mishol zur Abgehobenheit. Wenn sie in dem Gedicht «Ein Boot auf dem Wasser» auf ein bekanntes hebräisches Wiegenlied anspielt, um sich dem Geliebten als «sintflutfeste» Arche zu empfehlen, tut sie dies nicht ohne den Zusatz, all ihre Matrosen seien auf Ritalin.

Pathos ist für sie keine Option. Zartheit wünscht sie sich aus der «linken Hemdtasche» des Geliebten, und schön geerdet verbietet sie sich, bei Sonnenuntergang Gedichte zu schreiben, denn «solchen Kitsch darf nur / die Natur».

Agi Mishol hatte kein leichtes Leben. Sie wurde 1946 als Kind ungarischer Holocaust-Überlebender in Transsilvanien geboren, ihre ältere Schwester starb in Auschwitz. 1950 kam sie mit ihren Eltern nach Israel. Zu Hause wurde wenig gelesen, doch in der Familiensprache Ungarisch oft über das «Lager» geredet.

Mishol wandte sich leidenschaftlich dem Hebräischen zu und entwickelte jenes geschärfte Gehör, das Menschen, die «im Niemandsland der Synonyme» aufwachsen, auszeichnet. In Jerusalem studierte sie hebräische Literatur. Seit Jahrzehnten lebt sie mit ihrem Mann, einem Landwirt, unweit der Grenze zu Gaza. Sie bauen Persimonen und Granatäpfel an, Flora und Fauna bestimmen ihren Alltag.

Auf Heimat angesprochen, nennt Agi Mishol stets die hebräische Sprache. An Israels Politik, etwa im Westjordanland, hat die Lyrikerin viel auszusetzen; den Landraub an den Palästinensern bezeichnet sie im Gedicht «Der Olivenbaum» als Schande. Andererseits beschönigt sie auch die Taten der Terroristen nicht. Im erschütternden Gedicht «Keine Verletzten» geht es um einen weissen Esel, «lebenslang eingespannt ins Joch von Schrott / und Wassermelonen», dem ein Dynamitsattel umgebunden wird, um Feinde umzubringen. Schliesslich fährt der Esel allein «mit Getöse zum Himmel», wo er «zum Sprengstoff-Messias befördert» wird und «zweiundsiebzig unbefleckte Eselinnen» seine Wunden lecken. Trauer, Wut und Ironie grundieren das Gedicht.

Dichten im Krieg

«Schutzraum» heisst das einzige Gedicht des Bandes, das nach dem 7. Oktober 2023 entstanden ist. Während «rundherum Tod kriecht / und Pekannüsse sich an ihre Schalen drücken», sucht das «eingegeiselte» Ich seinen Schutz im Hebräischen. Mit seltener Emphase heisst es: «Geliebte heilige Sprache – / jetzt wo alles seine Zeit hat / alles Entsetzen ist / wo der Hain uns seine Früchte reicht / und die Erde gepflügt ist / tue ich nur was Rilke sagt: / lasse mir alles geschehen / Schönheit und Schrecken / ohne zu denken / dass sie endgültig sind».

Was soll man sagen angesichts eines Krieges, der einem die Sprache verschlägt? Wie das sagen, was sich dem Sagbaren entzieht? Agi Mishol ist nicht eine Dichterin der grossen Worte. Was sie über den Tod, das Sein der Dinge und Verantwortung schreibt, berührt durch einen Tiefsinn, der im Konkreten wurzelt. «Im Hof hinterm Haus / blüht heute / (für einen Tag) / dieser Kaktus dessen Namen / ich nicht weiss / wenn ich ihn nicht anschaue – / wer sieht ihn dann?»

Poesie gründet auf einer Sensibilität der Wahrnehmung und der Sprache. So lesen wir von einem «Zikaden-Requiem / rosa Schafen auf der Himmelsböschung / und dem weichen vielgekosten Flaum / hinter dem Katzenohr». Und erfahren, dass das von «Alltagsrost» und nagender Sehnsucht bestimmte «Leben, wenn man’s so nennen kann», darin besteht, «jemandem sagen zu können / ich bin um sechs zurück». Agi Mishol weiss, wovon sie schreibt. Zugleich wissen die Worte noch mehr als sie. Denn Poesie ist und bleibt, mit Joseph Brodsky gesprochen, «die Kunst des nicht Voraussagbaren».

Agi Mishol: Gedicht für den unvollkommenen Menschen. Gedichte. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Mit einem Nachwort von Ariel Hirschfeld. Edition Lyrik-Kabinett bei Hanser, München 2024. 107 S., Fr. 37.90.

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