Ein Segelboot donnert gegen die Bohlen der Hamburger «Barca»-Bar, in Serbien wird protestiert, und in den sozialen Netzwerken verbreitet sich eine Falschnachricht. Mitten in dieser Welt sitzt die österreichisch-serbische Autorin Barbi Marković und erzählt von ihrem eigenen verrückten Leben.
Es ist ein Tag zum Draussensein, wie er in Hamburg nicht oft vorkommt. Die Sonne scheint. Glücklich legen die Pensionisten ihre mitgebrachten Sitzkissen auf die Stühle der «Barca»-Bar. Von der Alster weht ein kühlendes Lüftchen, und am Steg liegen Elektroboote, die «Oscar», «Lotti», «Anja» und «Charlie» heissen. Die Schriftstellerin Marković heisst Barbi mit Vornamen. Sie passt gut hierher.
Marković trägt eine runde Sonnenbrille und trinkt einen Americano. Man könnte Boot fahren mit ihr, ihr gewelltes Haar im Wind, und darüber reden, wie alles begann: mit einem Diebstahl.
Die Lederhosen ausgezogen
Von Thomas Bernhard hat Barbi Marković 2006 ein ganzes Buch geklaut. Aus «Gehen» wurde «Ausgehen». Thomas Bernhard fängt so an: «Während ich, bevor Karrer verrückt geworden ist, nur am Mittwoch mit Oehler gegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Karrer verrückt geworden ist, auch am Montag mit Oehler.» Barbi Marković schreibt: «Während ich, bevor Bojana vom Clubben genug hatte, nur am Samstag mit Milica ausgegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Bojana vom Clubben genug hat, auch am Sonntag mit Milica aus.»
Da hat jemand dem österreichischen Schriftsteller die Lederhosen ausgezogen und ihn fürs Belgrader Nachtleben neckisch zurechtgeschminkt. Für Discos und Klubs wie «Basement» oder «Idiot». Der Belgrader Bernhard ist sehr komisch. Und damit das auf Serbisch geschriebene Buch nicht tragisch endet, hat die Jungschriftstellerin damals bei Suhrkamp angefragt, ob sie denn das dürfe, den Österreicher remixen. Man war nicht amüsiert, gab dennoch die Erlaubnis und riet: «Die Autorin soll sich in Zukunft von solchen Projekten fernhalten.» Pointe zum Schluss: In seiner deutschen Version erschien «Ausgehen» natürlich bei Suhrkamp und wurde ein Erfolg.
Familie der Diebe
Jetzt hat Barbi Marković ein Buch geschrieben, das eine Art Poetikvorlesung ist und «Stehlen, Schimpfen, Spielen» heisst. Da steht diese Geschichte drin und «dass Stehlen in meiner Familie normal war». Markovićs Grossmutter hat ihr einmal eine Kette gestohlen und sie ihr dann zum Geburtstag wieder geschenkt.
Am Anfang gibt es bei der 1980 in Belgrad geborenen Schriftstellerin eine Art Robin-Hood-Idee des Schreibens. Man nimmt von denen, die haben, und gibt denen, die es brauchen können. «Weil Literatur ein pauschaler Racheakt der kleinen, in die Ecke gedrängten Seelen ist.»
So steht es in der Poetikvorlesung. Es ist von der Hoffnung die Rede, mit Thomas Bernhard «den Samen der Bitterkeit» gegenüber der eigenen Gesellschaft zu säen. Nimm dies, Heimat! Spar dir deinen serbischen Nationalismus! Damit ist man auch schon beim zweiten Teil der Poetikvorlesung, dem Schimpfen. Von Marcel Proust hat sich Barbi Marković ein bisschen was für den Titel ihres 2021 schon auf Deutsch geschriebenen autobiografischen Romans «Die verschissene Zeit» ausgeborgt.
Der Sound serbischer Herzensgüte
Verschissen war die Zeit in Belgrad zwischen den achtziger Jahren und 1999. Ein paar Belgrader Heranwachsende durchleben sie mit einer Zeitmaschine, die sie immer wieder hin und her wirft zwischen der Kindheit und ihrem finalen Stadium: der Bombardierung Belgrads durch die Nato. Banovo brdo ist ein Stadtteil, in dem man nicht geboren sein will. Ist man es aber, hilft nur noch fluchen. «‹Pass auf, dass du dir nicht das Genick brichst, dass deine Zehen nicht erfrieren und dass du nicht vergewaltigt wirst›, wirft deine Mutter dir noch zu, bevor du die Wohnung verlässt.»
Barbi Marković hat den Sound serbischer Herzensgüte sehr unverfälscht in ihre Bücher übertragen und legt Wert darauf, dass das damals keine schöne Kindheit war. Auf dem Hamburger Bootssteg sagt sie: «Als ich in den Kindergarten kam, habe ich mich gewundert. Die anderen kannten alle irgendwelche Lieder. Ich war diesbezüglich nicht gut informiert.»
Nein, sie kannte keine Lieder. Die Ballettschule hat sie geschwänzt und ist stattdessen stundenlang mit dem Bus durch die Stadt gefahren. «Schon als Kind haben mich eher die nicht schönen Sachen interessiert. Mit bösen Büchern habe ich meinen Blick auf die Realität geschult. Mit Charles Dickens’ ‹Oliver Twist› zum Beispiel, der Geschichte vom Waisenjungen.»
Das Schöne an Barbi Marković, die mit ihrem neuen Buch zum deutschen Grossverlag Rowohlt gewechselt hat: Melancholie und Reflexion ergeben ein dialektisches Drittes, mit dem man bei diesen Ingredienzen nicht gerechnet hätte: Spass. Oder «Spiel», wie es in der Poetikvorlesung heisst. 2005 ist Marković nach Wien übersiedelt, hat sich hier als «schlechte Kraft in schlechten Jobs» über Wasser gehalten und wollte das Deutsch ihres Belgrader Germanistikstudiums verbessern. Mit teilweise tragischen Ergebnissen.
Ihr Deutsch war das von Thomas Mann. Aber beim Operettenheurigen, wo sie arbeitete und der einer ehemaligen Operettensängerin gehörte, sprach man Wiener Dialekt, als wären heute noch alle Völker der ehemaligen Monarchie amtlich verpflichtet, ihn zu verstehen.
Marković musste österreichische Tracht tragen und kann heute immerhin die Niederträchtigkeiten der neuen Heimat zu Geschichten machen. Sie ist ein serbisch-österreichischer Proust, ein «Satz-Freak» und mag am Original «die crazy Vergleiche und Wahrnehmungsprobleme. Das Lyrische, Zittrige.»
Comichaft überzeichnete Welten
Vielleicht, sagt Barbi Marković, habe sie bei ihrem Vater solche Wahrnehmungsprobleme und habe ihn deshalb zum Charakter, zur Figur erhoben. Mit vollem Namen, als Slobodan Marković, geistert er durch die Bücher – und soll in Wirklichkeit noch seltsamer sein. Er hat sein Auto mit Muscheln vollgeräumt, um sich jederzeit ans Meer erinnern zu können. Er hat Dutzende Zahnbürsten in seinen Taschen und drängt sie den Menschen auf, um sie an die Wichtigkeit der Mundhygiene zu erinnern. Er geht barfuss durchs Leben und naturgemäss auch durch die Bücher seiner Tochter.
Seine Welt ist absurd, aber absurd sind auch die comichaft überzeichneten Welten von Barbi Markovićs Werken, die Titel tragen wie «Superheldinnen», «Piksi-Buch» oder «Minihorror». Für Letztgenanntes hat die Schriftstellerin voriges Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen.
Ein bisschen wurde für «Minihorror» bei Disney abgekupfert. Schreiben als Vintage-Laden: «Ich bin die Marie Kondo der Literatur. If it doesn’t spark joy – weg damit in die Mülltonne.» Im Buch erleben die Figuren Miki und Mini einen Horror, bei dem sich Reales und Surreales nicht immer unterscheiden lassen. So wie auch jetzt gerade in Hamburg: Ein Segelboot donnert gegen die Bohlen der «Barca»-Bar, die Pensionisten am Nebentisch schnellen von ihren Sitzkissen hoch, und da kommt per SMS die Nachricht, dass Elfriede Jelinek gestorben sei. Später kommt die Nachricht, dass sie doch nicht gestorben sei. So kann man sich den Tod vorstellen: Wenn er nicht auf X widerrufen wird, ist man wirklich tot.
Proteste in Serbien
Es senkt sich die Sonne drüben über der Binnenalster, vom Hotel Atlantic strömen die Gäste zu den Restaurantschiffen, die Möwen sind mit sich selbst beschäftigt, und 1300 Kilometer entfernt perpetuiert sich ein Ausnahmezustand. Millionen Menschen haben seit November gegen den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić protestiert.
Auslöser war der Einsturz eines Bahnhofsvordachs in der Stadt Novi Sad. Fünfzehn Menschen starben, weil der Präsident Druck gemacht hatte, den Bahnhof nach Bauarbeiten wieder zu eröffnen. Die Chancen stehen gut, dass das Volk die Regierung wegdemonstrieren wird. Nächste Woche soll Barbi Marković in Belgrad eine Lesung haben. Ausgerechnet am 28. Juni, dem Nationalfeiertag, an dem der Schlacht auf dem Amselfeld gedacht wird. «Es kann sein, dass es an diesem Tag die grössten Protestveranstaltungen geben wird», sagt die Schriftstellerin.
«Gegenproteste werden noch dazukommen. Vučić lässt Leute vom Land in Bussen in die Stadt bringen. Er bezahlt sie mit Sandwiches, so lautet das Gerücht.» Wahrscheinlich habe Vučić schon längst irgendwo einen Helikopter stehen, der ihn nach Russland bringe.
«Heimatlandbeschönigung» sei nichts für sie, sagt Marković. Das gilt auch für die neue, längst zur Gewohnheit gewordene Heimat Österreich. Sie klage gern, meint die Schriftstellerin, und wenn jemand klage, dann sei sie gerne mit dabei. Das sei ihr Blues.
Nie hat man einen Blues gehört, bei dem so viel gelacht wird. «Stehlen, Schimpfen, Spielen» ist ein grossartig komisches Buch über eine Autorin am Rande des Scheiterns. Poetikvorlesung? Ich?, tönt der Zweifel aus allen Seiten, aber der Zweifel ist der Vater des Guten. Barbi Marković schreibt mit einer Gelassenheit, die daher kommt, dass sie eigentlich nichts wollte. Aus einer Stilübung wurde eine Karriere. Gerade entsteht ein neues Theaterstück, und abends wird dann im Hamburger Literaturhaus aus «Stehlen, Schimpfen, Spielen» gelesen. Es soll dieser Autorin nichts Schlimmeres passieren als der klassische Arbeitsunfall, von dem im Buch die Rede ist: die «Szenenschreibenentzündung».
Barbi Marković: Stehlen, Schimpfen, Spielen. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2025. 144 S., Fr. 30.90.