Sonntag, September 29

Islamische Länder kontrollieren die Ausübung der Religion. Im Westen haben Glaubensgemeinschaften freie Hand. Staaten, die vom Ausland finanzierte Moscheen zulassen, treten faktisch einen Teil ihrer Souveränitätsrechte ab.

Der Schweizer Islamwissenschafter Tariq Ramadan ist eine der wichtigsten Persönlichkeiten, die im Westen die Ideologie der Muslimbruderschaft-Bewegung verbreiten. In einem 2016 veröffentlichten Artikel wurde er mit der Aussage zitiert, in westlichen, säkularen Staaten könnten die Ziele der Scharia besser umgesetzt werden als in vielen islamischen Ländern. Ramadan spitzte dies zur These zu: «Es gibt Gesetze von Nichtmuslimen, die in ihrem Geist islamischer sind als Gesetze in islamischen Ländern.»

Ramadans Grossvater war Hassan al-Banna, einer der Begründer der Muslimbruderschaft, auf welche die Mehrheit der islamistischen Organisationen der Welt sunnitischer Prägung ideologisch zurückgeht. Die Muslimbrüder wurden 1928 gegründet – sicherlich auch als Reaktion auf die Entwicklungen in der jungen türkischen Republik, die 1923 aus den Trümmern des Osmanischen Reiches hervorgegangen war.

Nur vier Monate nach der Gründung der türkischen Republik hatte das türkische Parlament auf Anordnung von Mustafa Kemal, der erst später den Nachnamen Atatürk erhalten sollte, drei Gesetze verabschiedet. Mit dem Gesetz Nr. 429 wurde das Präsidium für religiöse Angelegenheiten Diyanet gegründet. Damit wurden alle Imame, die in der Türkei predigen durften, zu weisungsgebundenen Staatsbeamten.

Sie hatten von nun an die Aufgabe, einen Islam zu predigen, der dem säkularen Staat nicht in die Quere kam und die moderne Gesellschaftsordnung mit den Reformen Atatürks, die nun folgen sollten, nicht infrage stellte. Mit dem Gesetz Nr. 430 übertrug das Parlament das gesamte Bildungssystem dem bereits 1920 gegründeten Ministerium für nationale Erziehung und liess die religiösen Schulen, die sogenannten Madrasas, schliessen. Mit dem Gesetz Nr. 431 schliesslich wurde das Kalifat abgeschafft.

Der Staat sagt, was gepredigt wird

Man kann die Bedeutung dieser drei Gesetze nicht genug betonen. Ohne sie hätte es die moderne Türkei nicht gegeben. Obwohl dies oft gesagt wird, hatte Atatürk beispielsweise nie ein Kopftuchverbot erlassen. Das entsprechende Verbot kam erst später, veranlasst durch die Militärjunta, die im Jahr 1980 nach einem Putsch an die Macht kam. Vielmehr entschleierten sich die türkischen Frauen nach und nach freiwillig, weil die neue Gesellschaftsordnung dies gestattete.

Für das Verständnis des türkischen Laizismus ist es wichtig, dass dieser nicht etwa eine Trennung von Kirche – oder besser Moschee – und Staat bedeutete. Vielmehr wurde damit eine Überordnung des säkularen Staates gegenüber der islamisch-sunnitischen Mehrheitsreligion festgelegt, die genau vorgab, wie diese auszusehen hatte und was in den Moscheen gepredigt wurde.

In der muslimischen Welt gab es einerseits positive Reaktionen auf diese Entwicklungen, namentlich aus Iran und Afghanistan. Sowohl der Vater des später gestürzten Schahs als auch der afghanische König wurden massgeblich von Atatürk inspiriert. Die beiden Monarchen besuchten den türkischen Staatsgründer und begannen, ihre eigenen Länder zu reformieren.

Der afghanische König hatte weniger Erfolg und wurde bald gestürzt. In Iran hingegen war die herrschende Pahlavi-Dynastie erfolgreicher. Die Modernisierung Irans endete erst, als der Schah im Jahr 1979 gestürzt wurde, unter dem tosenden Applaus linker Intellektueller, unter anderem von Michel Foucault, einem der Überväter der heutigen postmodernen Linken. Er hatte Iran 1978 bereist und in der italienischen Zeitung «Corriere della Sera» beschönigende Artikel über die sogenannte «islamische Revolution» veröffentlicht.

Die Linke hilft

In Ägypten war die Reaktion auf diese Entwicklungen weitaus negativer. Nach dem Beschluss der türkischen Nationalversammlung, das Kalifat abzuschaffen, richtete eine Gruppe von Gelehrten eine Ansprache an alle Muslime, in der sie die Unrechtmässigkeit des türkischen Beschlusses betonte und die Gläubigen dazu aufrief, Einspruch zu erheben.

Dieser Einspruch liess nicht lange auf sich warten, erst recht nicht, nachdem Mustafa Kemal seine gesellschaftspolitischen Reformen mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit vorangetrieben hatte. Der Grossvater von Tariq Ramadan, Hassan al-Banna, schrieb in seinen Memoiren, der Orient ruhe auf Sitten und Glauben. Wenn er diese beiden verliere, verliere er alles.

Deshalb müssten sich die Führer des Ostens um die Festigung des Geistes und die Wiedergewinnung der verlorenen Moral bemühen. Und das Festhalten am Islam sei der einzige Weg dazu, auch wenn andere eine andere Ansicht vertreten. Hassan al-Banna nennt den Namen von Atatürk nicht ausdrücklich, aber es gibt keine Zweifel, gegen wen sich seine Äusserungen richteten.

Tariq Ramadan, der seine Dissertation seinem Grossvater widmete, steht in dessen Tradition und verfolgt dieselben Ziele, und zwar mit linker Unterstützung. Etwa durch den Schweizer Soziologieprofessor Jean Ziegler, der Ramadan zur Seite stand , als diese Dissertation von der Universität Genf zunächst abgelehnt wurde und nur nach intensivem Lobbying von Ziegler später dennoch angenommen wurde.

Nur das Kalifat fehlt noch

2002 gewann die Partei von Recep Tayyip Erdogan die Wahlen in der Türkei. Unmittelbar darauf begann er, die Weisungsgebundenheit der Imame und das Monopol über den Staatsislam für seine politischen Zwecke zu missbrauchen. Diyanet wurde mit viel Geld ausgestattet – mehr, als die meisten anderen Ministerien der türkischen Republik zur Verfügung hatten. Während Atatürk Diyanet gegründet hatte, um einen laizistischen Staat und eine säkulare Gesellschaftsordnung zu schaffen, setzte Erdogan sie ein, um einen totalitären Gottesstaat auf der Grundlage der Scharia zu errichten.

Nach dem Putsch von 2016 brachte Erdogan auch das Erziehungsministerium unter seine Kontrolle. Viele unbescholtene Staatsbeamte und Lehrer verloren ihre Stellen. Erdogan hatte damit zwei Grundpfeiler der laizistischen Republik seinen Zielen dienstbar gemacht. Nun fehlt nur noch die Wiedereinführung des Kalifats. Das ist das Ziel der türkischen Islamisten, und sie sprechen es auch offen aus. In einem Zeitungsartikel von 2019 wird Erdogans Ehefrau Emine wie folgt zitiert: «Wir tragen die Verantwortung dafür, auf der Erde Kalif zu sein.»

In westlichen Ländern ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit verfassungsmässig garantiert. Das bedeutet, dass es kaum Einschränkungen gibt, neue Glaubensgemeinschaften zu gründen, nicht nur im Bereich des Islam. Ein Beispiel dafür ist die kleine muslimische Glaubensgemeinschaft von Seyran Ateş, die in ihrer Moschee ihren Privatislam betreibt, der global betrachtet keinerlei Bedeutung hat.

Als Ateş ihre Moscheegemeinde begründete, erhielt sie Drohungen aus islamischen Kreisen. Aber nicht nur das: Die Al-Azhar-Universität in Kairo, eine der wichtigsten Schulen des sunnitischen Islam, sprach sich im Rahmen einer Fatwa, also eines religiösen Rechtsgutachtens, auch theologisch gegen diese Moschee aus.

Die Freiheit im Westen

Das schiitische Mullah-Regime kann also im wahhabitischen Saudiarabien kein Islamisches Zentrum einrichten – in Deutschland war das ohne weiteres möglich. Umgekehrt kann Katar, eines der wichtigsten Zentren der globalen Muslimbruderschaft-Bewegung, keine Moscheen in Iran bauen und dort nicht einen Islam nach der Lesart der Muslimbrüder predigen lassen.

Auch der mittlerweile nationalislamistische Staatsislam der türkischen Religionsbehörde Diyanet hat keinen uneingeschränkten Zugang in anderen muslimisch geprägten Staaten, es sei denn, das wäre gewollt. Auch wenn Erdogan mit den Taliban sympathisiert, wie er dies nach deren Machtergreifung auch öffentlich verkündete, würde er es niemals zulassen, dass diese in der Türkei eine Taliban-Moschee aufbauen. Jeder muslimisch geprägte Staat kontrolliert seinen eigenen Staatsislam, weil damit auch die Bevölkerung und ihre Einstellungen überwacht und beeinflusst werden.

Auch in den türkischen Moscheen im Westen, die von der Diyanet finanziert und kontrolliert werden, wird der türkische Staatsislam gepredigt. Deshalb ist es absurd, wenn deutsche Politiker von Ditib, der deutschen Sektion von Diyanet, verlangen, dass sie sich von Erdogan distanziere. Auch die Diyanet-Moscheen in der Schweiz funktionieren nach diesem Konzept. Sie sind von Ankara nicht unabhängig und können das auch nie sein. Die Überwachung des türkischen Staatsislam ist ein Wesensmerkmal dieser Institutionen. Der türkische Islam ist gegenwärtig nationalislamistisch, und das sind auch sämtliche von Diyanet geförderten und gelenkten Moscheen im In- und Ausland.

Das heisst letztlich: Westliche Staaten, die diese vom Ausland finanzierten und gelenkten Moscheen zulassen, haben ihre Souveränitätsrechte, was die Praxis der islamischen Religion auf ihrem Territorium betrifft, an die jeweiligen Staaten abgetreten. Jeder muslimisch geprägte Staat, der auf europäischem Boden seinen Staatsislam predigt, betreibt dort seine eigene Politik.

Die Naivität der Europäer

Kein Türke oder Kurde, der gegen Erdogan ist, käme je auf die Idee, eine solche Moschee zu besuchen, um dort einer Predigt beizuwohnen. Man sollte sich auch nicht darüber wundern, dass in diesen Moscheen immer wieder Wahlkampf für Erdogan und seine Partei, die AKP, betrieben wird. Diese Moscheen sind nicht nur Glaubenseinrichtungen, sie sind politische Machtinstrumente.

Man kann den Islam und seine Präsenz in Europa deshalb nicht durch eine rein westliche Brille betrachten, indem man auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit verweist. Die Charakteristika der staatsislamischen Einrichtungen widersprechen diesem Grundrecht fundamental. Deshalb verbietet es sich, das Thema mit einem Hinweis auf die Grundrechte abzuhaken.

Mit den Grundrechten westlicher Verfassungen hat der von der nationalislamistischen Diyanet kontrollierte türkische Staatsislam wenig bis nichts zu tun. Das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit wurde geschaffen, um zwischen verfeindeten christlichen Religionsgemeinschaften eine Friedensordnung herzustellen – und sicher nicht, um einem muslimisch geprägten Staat die Kontrolle über seinen Staatsislam auf europäischem Boden zu gewährleisten.

Genau das aber geschieht, wenn man es zulässt, dass in Deutschland Diyanet-Moscheen gebaut werden, oder wenn mit türkisch-islamischen Einrichtungen in der Schweiz ein interreligiöser Dialog geführt wird. Das türkische Monopol über den türkischen Staatsislam, der heute nationalislamistisch ist, existiert aufgrund der Naivität der Europäer auch in den europäischen Ländern. Unter dem Schutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit.

Wenn Tariq Ramadan sagt, dass sich die Ziele der Islamisten im Westen besser erfüllen liessen als in vielen islamischen Ländern, meint er genau dies. In einem muslimisch geprägten Staat wäre es nicht möglich, weil sie Herren im eigenen Haus sind. Sie lassen ausländische Prediger grundsätzlich nicht zu und kontrollieren die Ausübung des Islam in ihrem Land. Tariq Ramadan hat leider recht. Die westliche Glaubens- und Gewissensfreiheit gibt den Islamisten eine Narrenfreiheit, von der sie in muslimisch geprägten Staaten nur träumen könnten.

Emrah Erken ist Anwalt in Zürich und Publizist.

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