Samstag, Dezember 28

Die vorislamische Dichtung war häufig politisch engagierte Poesie. Sie war ein bedeutendes Vehikel in den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Völkern. In ihrem Licht kann auch die Gegenwart neu gedeutet werden.

Um das Jahr 630 sah sich der Dichter Ka’b bin Zuhair mit einer lebensgefährlichen Situation konfrontiert. Sein Bruder war zum Islam übergetreten und forderte Ka’b nun auf, es ihm gleichzutun: Der Prophet würde alle Dichter töten lassen, die über ihn Spottverse verbreiteten wie Ka’b. Wer sich ihm jedoch unterwerfe, der werde verschont.

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Ka’b zögerte. Er war nicht irgendwer, sondern der Spross einer der bedeutendsten Familien der Arabischen Halbinsel. Sein Grossvater Zuhair zählt zu den Poeten der Mu’allaqat, das sind legendäre Oden, die in vorislamischer Zeit auf Tücher gestickt an der Ka’ba in Mekka aufgehängt worden sein sollen. Und seine Tante war keine Geringere als al-Khansa, eine Trauerdichterin, von der jeder Kenner mit der grössten Hochachtung redete. Sich Mohammed zu unterwerfen, käme einem Bruch mit den überlieferten Sitten gleich, ja wäre ein Verrat an der Poesie selbst – hatte der Prophet im Koran die Dichter doch als Lügner beschimpft.

Ka’b löste sein Dilemma auf geniale Weise: Er schrieb ein doppelt lesbares Gedicht, worin er zwar dem Propheten huldigte, jedoch auf die überlieferte, vorislamische Weise. Vordergründig unterwirft sich Ka’b dem Islam, hintergründig wird der Prophet von Ka’bs Dichtung vereinnahmt und erscheint entsprechend dem vorislamischen Wertekanon als ein Stammesführer unter vielen, wenn auch ein besonders furchterregender.

Ka’bs «Mantelode», wie dieses Gedicht genannt wird, kennt bis heute jeder Muslim. Und bis heute stehen Lyrik und Religion in scharfer Konkurrenz zueinander. Wenn man die arabische Welt nur über die Religion verstehen will, greift man daher zu kurz. Älter und mindestens ebenso mächtig ist die Dichtung, sind die mit ihrer Hilfe verbreiteten weltlichen, später auch nationalistischen Weltvorstellungen. Sie eröffnet auch für die gegenwärtigen Konflikte einen eminenten Deutungshorizont.

«Sei wie Samau’al», rief al-A’scha, ebenfalls ein Mu’allaqat-Dichter, seinen Zeitgenossen zu, als der Prophet seine ersten Offenbarungen empfing. Damals war der rund fünfzig Jahre zuvor gestorbene Samau’al bereits eine legendäre Gestalt: Herr der uneinnehmbaren Burg Ablaq nahe der Oase von Taima, ein anerkannter Dichter («Von gutem Ruf dem Mann / steht jedes Kleid gut an» lautet sein bekanntester Vers) und, nicht zuletzt, Jude!

Geiselnahmen waren verbreitet

Samau’al war für seine Treue berühmt. Der noch berühmtere Dichter und Königssohn Imru’ al-Qais hatte auf der Flucht vor seinen Verfolgern auf Ablaq Zuflucht gefunden und bei der Weiterreise Samau’al seine wertvolle Rüstung zur Aufbewahrung anvertraut. Als die Verfolger zur Burg kamen, verlangten sie die Herausgabe der Rüstung. Andernfalls brächten sie Samau’als Sohn um, den sie als Geisel genommen hatten.

Hier al-A’schas Verse mit Samau’als legendärer Antwort: «Einen Moment schwankte er, dann / sagt er ihm: ‹Töte deinen Gefangenen! / Ich dagegen beschütze, was mir anvertraut. (. . .) Ich zahle doch für eine Schande / nicht mit meiner Ehre!› Also wählte er in dieser Welt / statt der Schande die Ehre.»

Geiselnahmen, ein häufiges Motiv der Dichtung, waren in altarabischer Zeit die Regel, sei es, um Angehörige freizupressen oder um Güter auszulösen. Der Islam bekämpfte diese und andere brutale altarabische Sitten, etwa die Blutrache. Wenig erfolgreich, wie wir heute wissen. Kennt man die vorislamischen, in der Poesie überlieferten Spielregeln nicht, versteht man weder die Hamas mit ihren Geiseln noch Netanyahu, der heute in der Lage des Samau’al ist, mit seiner Weigerung, sich auf einen scheinbar ehrlosen Deal einzulassen.

Die Dichtung, nicht die Religion, liefert die Geschichten, welche die heutigen Konflikte in der arabischen Welt lesbar machen. Um das zu begreifen, muss man sich zunächst eingestehen, dass die Aufklärung in Europa nicht nur die Religion zurechtgestutzt und entzaubert hat, sondern auch die Poesie – weshalb die Dichter heftig gegen sie aufbegehrten!

Europa ist seither nicht nur, wie Max Weber von sich sagte, religiös unmusikalisch geworden, sondern auch unpoetisch. Man versteht nicht mehr, dass es in der Dichtung, der arabischen zumal, um mehr ging als um Gefühle, Stimmungen und feinsinnige Gedanken, auf die sich die Poesie in unseren Breiten seither zurückgezogen hat. Gegenwärtig ist die Unvermittelbarkeit der deutschen Gegenwartslyrik das letzte Bollwerk gegen ihre Entzauberung, wie man zum Beispiel an der Poesie des diesjährigen Büchner-Preis-Trägers, Oswald Egger, sieht.

Politische Dichtung ist heute verpönt

Dagegen war Poesie in altarabischer Zeit ein Sprechakt, ein gezielter Eingriff in den Lauf der Welt, war Politik, Widerstand, Botschaft, diente der Selbstvermarktung oder der Abschreckung von Gegnern. Sie hatte damit Funktionen inne, die heute die sozialen Netzwerke übernommen haben, inklusive Hassbotschaften und Mordaufrufen. So konnte die Trauerpoesie von al-Khansa, der Tante von Ka’b bin Zuhair, unversehens in einen Aufruf zur Blutrache, in Beleidigungen des feindlichen Stammes, in regelrechte Kriegserklärungen münden: Denn die betrauerten Brüder waren bei Stammesfehden ums Leben gekommen.

Heute kennen wir in Europa solche Anwendungen der Poesie nicht mehr und akzeptieren sie nicht als Dichtung, wenn wir sie in alten Texten antreffen. Bei Goethe und Rückert war das noch anders. Zumal Rückert, ein Nationalliberaler, der mit patriotischen Versen berühmt wurde (den «Geharnischten Sonetten» von 1814), sah in der altarabischen Poesie ein historisches Vorbild. Seine aufwendige Übersetzung der Anthologie alter arabischer Volkslieder («Hamasa», 1846) ist ohne Herders und Goethes Nexus von Nationalismus und Poesie nicht zu erklären.

Die Araber erkannten natürlich das politische und säkulare Potenzial der vorislamischen Lyrik, als Aufklärung und Nationalismus im Lauf des 19. Jahrhunderts von den europäischen Kolonialmächten in den Orient getragen wurden. Dichter standen an der vordersten Front des antikolonialen Befreiungskampfes und nahmen in Form und Inhalt Bezug auf alte Vorbilder. Der Islam spielte dabei die meiste Zeit keine Rolle – er galt unter den Gebildeten als abgewirtschaftet und unfähig, zu einer Emanzipation der Völker beizutragen.

Nationalistische Dichtung

Auch Mahmud Darwish (1941–2008), der Nationaldichter der Palästinenser, beherrschte den aus der alten Poesie überlieferten Tenor von Selbstbehauptung und Abschreckung perfekt. In Versen aus dem Gedicht «Identitätskarte» (1964), die ihn berühmt machten, heisst es: «Schreib’s auf, ich bin Araber (. . .) Ich hasse die Menschen nicht und greife niemanden an. / Aber wenn ich hungere, esse ich das Fleisch des Usurpators. / Hüte dich, hüte dich vor meinem Hunger / Vor meiner Wut.»

Darwish war Mitglied der kommunistischen Partei Israels, später Politbüro-Mitglied von Arafats PLO. Mit dem Islamismus der Hamas verbindet ihn nichts. Als Israel jedoch letzte Filmaufnahmen des Hamas-Führers Yahya Sinwar veröffentlichte und darin zu sehen war, wie dieser kurz vor seinem Tod in einem letzten Akt des Aufbäumens einen Stock nach einer Drohne wirft, fühlten sich viele Araber plötzlich an die Verse von Darwish aus der Zeit der israelischen Belagerung Beiruts 1982 erinnert. Sie lesen sich in der Tat wie die Beschreibung der letzten Minuten Sinwars: «Belagere Deine Belagerung – es gibt keinen anderen Ausweg. / Dein Arm fiel ab, also heb ihn auf und schlag damit deinen Feind – es gibt keinen anderen Ausweg.»

Die Hamas hat den palästinensischen Widerstand zwar gekapert, aber die Poesie des palästinensischen Nationaldichters hüllt noch den inzwischen als Märtyrer geltenden Hamas-Führer in ihr restlos säkularisiertes Leichentuch – ganz so, wie Ka’b den Propheten entsprechend den Massgaben der vorislamischen Stammesethik schildert und das Schwert des Glaubens zugunsten traditioneller, säkularer Zugehörigkeiten umschmiedet.

Man sieht an diesem postumen Sieg der Poesie, wie dünn der islamistische Lack ist, den die Hamas auf den Kampf der Palästinenser aufgetragen hat. Selbst vielen Hamas-Anhängern geht es letztlich weniger um den Islam als um die Durchsetzung der nationalstaatlichen Ansprüche der Palästinenser.

Dass der Islam und zumal der Islamismus der nationalstaatlichen Souveränität und dem Ansehen der Araber einen Bärendienst erweisen, haben mittlerweile sogar die Staaten erkannt, die bis vor kurzem die islamistischen Bewegungen gefördert haben. Fast alle arabischen Golfstaaten vergeben inzwischen sechsstellig dotierte Literaturpreise. In den Genuss sind bisher fast ausschliesslich progressive, oft religionskritisch ausgerichtete arabische Autorinnen und Autoren gekommen.

Besonders erstaunlich ist die Entwicklung in Saudiarabien. Die Neubewertung der vorislamischen Poesie geht dort mit der archäologischen und der touristischen Erschliessung der vorislamischen Zivilisationen des Landes einher. Das entspricht der vom Kronprinzen geforderten Neuausrichtung des Landes als ein moderner, selbstbewusster Nationalstaat viel besser als der zuvor geförderte Panislamismus. Und während früher Koranübersetzungen zu Missionszwecken nach Europa geschickt worden sind, werden inzwischen Neuübersetzungen der vorislamischen Gedichte unter dem Titel «Mu’allaqat für Millennials» in allen grossen Sprachen der Welt verbreitet.

Stefan Weidner ist Arabist und Übersetzer. Anfang Dezember erschien die von ihm übersetzte Anthologie altarabischer Lyrik unter dem Titel «Der arabische Diwan» in der Anderen Bibliothek. Sie enthält auch die im Text erwähnten vorislamischen Gedichte.

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