Dienstag, November 26

Vor etwa fünfzig Jahren erschien mit Edward Saids «Orientalism» die einflussreichste Kritik des westlichen Imperialismus. Sein Werk steht am Beginn des gegenwärtigen Kulturkampfs.

«Damit ist belegt, dass jeder Europäer in dem, was er über den Orient sagen konnte, ein Rassist, ein Imperialist und fast völlig ethnozentrisch war.» So urteilte der Literaturwissenschafter Edward Said in seinem 1978 veröffentlichten Buch «Orientalism». Mit Orientalismus meinte er die eurozentrische Aneignung einer fremden Kultur. So hätten Generationen von gebildeten Europäern seit dem 18. Jahrhundert die Unterwerfung insbesondere des Islam betrieben.

Mithilfe derselben Ideologie sei die westliche Herrschaft nach dem Zweiten Weltkrieg über das Zeitalter der Dekolonisierung hinaus befestigt worden. Mit seiner Diagnose entlarvte Said die Wissenschaft der Orientalisten als Fake News aus dem Abendland.

Mit seinem Buch überspannte der begabte Intellektuelle mit palästinensisch-christlichen Wurzeln den Bogen der guten Analyse. Es ist dieses Überdehnen einer fruchtbaren Perspektive, das sein Buch zum Pamphlet geraten lässt. Denn es trifft ja zu: Macht ist in der Moderne nicht nur eine Funktion von Reichtum und Kampfflugzeugen. Ebenso wichtig ist ein Narrativ, in dem das fremde Andere als rückständig und inferior ausgewiesen wird. Wer wissen will, wie das vonstattengeht, dem seien die originellen Beiträge von James C. Scott, Dipesh Chakrabarty, Reinhart Koselleck, Johannes Fabian oder Pierre Bourdieu empfohlen.

Doch Edward Said hat ungleich stärker gewirkt als diese Gelehrten. Sein Buch machte den in Jerusalem geborenen Sohn eines reichen Unternehmers zum Liebling der einen und zum Feind der anderen Seite. Diese Vereinnahmung seines Schaffens scheint den politisch bewegten Professor überrascht zu haben. 1994 beklagte er sich in «The Culture of Imperialism» über die schrecklichen Simplificateurs.

In der kurz darauf erschienenen Neuauflage von «Orientalism» bezeichnete er sein Buch als Plädoyer für den Multikulturalismus. Als Forschungsbereiche zur Weiterentwicklung seiner These nannte er die Situation von Schwarzen und viktorianischen Hausfrauen, den Patriarchalismus sowie die postkolonialen Nationen der Entwicklungsländer.

Multikulturalismus als linksliberale Verheissung

Es wäre naiv, Said für das linksliberale Weltbild verantwortlich zu machen, das heute in Politik, Medien und Hochschulen dominiert. Mit seinem Weltbestseller bediente er aber zweifellos das Bedürfnis, das Defizitäre nicht mehr im Orient zu finden, sondern vor der eigenen Haustür. Heute wissen wir, dass damit nicht die eigene Haustür gemeint war, sondern jene der weniger aufgeklärten und deshalb noch uneinsichtigen Nachbarn ausserhalb der urbanen Zentren.

Ähnlich wie Saids Kritik am Orientalismus handelt auch die linksliberale Meistererzählung von einem Drama, in dem sich der Fortschritt und das Unzeitgemässe, die Tugend und die Sünde, die Aufgeklärten und die Orientalen als zivilisatorische Antipoden begegnen. Ebenso augenfällig ist allerdings die Differenz, die sie trennt. Said setzte auf den herrschaftsfreien Austausch der Kulturen, den er im Sinne einer realistischen Utopie propagierte. Dagegen verkörpert der linksliberale Multikulturalismus ein Erziehungsprogramm; und damit jenen Zugang zum Fremden, den Said mit seiner Orientalismus-These verurteilte.

Die linksliberale Losung lautet: Wer unsere Vision des Multikulturalismus herausfordert, stellt sich ausserhalb des Tolerierbaren. Dieser missionarische Multikulturalismus ist dem Nationalismus verwandt, der die Kulturkämpfe des 19. Jahrhunderts befeuerte. Hier wird die Exklusion der Fehlbaren zum Aufnahmeritual ins neue Juste Milieu, das sich trotz seiner hegemonialen Stellung unentwegt radikal gibt. Zu den Auszugrenzenden gehören die Kritiker von «Black Lives Matter» oder der geschlechtsneutralen Aufladung des olympischen Frauenboxkampfs genauso wie die Skeptiker der «Brandmauern gegen rechts» oder die Sympathisanten von Donald Trump und Brexit.

Alt-neue Wilde

Im Englischen hat sich für diese Gruppierungen der Begriff der «Left Behinds» eingebürgert, also der Abgehängten. Es geht um jene Männer und Frauen, die man früher Kleinbürger und Arbeiter nannte. Aus ihren Restbeständen rekrutieren sich die neuen Unbelehrbaren, die sich mit ihren populistischen Neigungen und ihren mitunter brachialen Protestritualen gegen den Zeitgeist auflehnen. Sie sind die neuen Wilden, die sich im Fegefeuer des missionarischen Multikulturalismus politisiert haben.

Um diese zerstörerische Dynamik an einem britischen Beispiel aufzuzeigen: In einem Leitfaden der National Education Union zur Ausbildung von Lehrern ist rund 400 Mal von «white» (mit Bezug auf die Hautfarbe) und 121 Mal von «whiteness» (dito) die Rede. Der Leitfaden will die Lehrer über den allgegenwärtigen Rassismus in der britischen Gesellschaft aufklären und ihnen antirassistische Unterrichtstechniken vermitteln. Das Ziel besteht darin, die «Zentralität der weissen Vorherrschaft» zu brechen.

Nicht mehr als Konflikt zwischen sozialen Klassen innerhalb ein und derselben Nation wird die Gesellschaft hier beschrieben, sondern als Kampf innerhalb eines rassistisch verseuchten Raums. Die Unruhen, die sich in jüngster Zeit in England zutrugen, werden von den Autoren des besagten Leitfadens nicht als sich selbst erfüllende Prophezeiung begriffen, sondern als Beweis für die Richtigkeit ihres antagonistischen Weltbildes.

Solche Umerziehungsphantasien sind in der modernen europäischen Geschichte nichts Neues. Gebildete Europäer äusserten regelmässig ihre Verachtung der Bevölkerung Osteuropas. Etwa wenn der österreichische Politiker Heinrich Jacques um 1860 feststellte, in den östlichen Kronländern des Habsburgerreiches lebte noch «eine ganz grosse Bevölkerung christlichen und jüdischen Glaubens», die «noch ein gutes Stück europäischer Civilisation» bedürfe, «um erst recht zu Menschen zu werden».

Oder wenn Max Weber 1896 auf den Vorwurf, Polen würden im deutschen Kaiserreich diskriminiert, entgegnete: «Das Gegenteil ist wahr: Wir haben die Polen aus Tieren zu Menschen gemacht.» Zu den Kandidaten dieser internen Kolonisierung gehörten neben Juden lange auch organisierte Arbeiter und romtreue Katholiken.

Die einstigen Vertreter der heute dem Populismus zuneigenden Schichten – die ehemaligen Volksparteien, allen voran die Sozialdemokratie – sind längst zu neuen Ufern aufgebrochen. Sie vertreten heute die mehrheitlich universitär gebildeten Angestellten des privaten und ständig wachsenden staatlichen Sektors. Aus ihnen rekrutieren sie, mit soziologisch geschulter Berechnung, ihre neuen Wahlverwandten.

Und was die ehemaligen Kleinbürger und Arbeiter anbelangt: Heute sind es nicht mehr die Arbeiterstreiks und Fronleichnamsprozessionen, mit denen sie ihre Devianz dokumentieren, sondern die Proteste gegen die Vision einer Welt ohne Grenzen. Sie spielen in diesem Drama den Part der Orientalen.

Topografie der Verachtung

Dabei ist bemerkenswert, wie stark der in Europa grassierende Populismus immer noch als Folge sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit verstanden wird. Der Begriff der «Left Behinds» deutet es an. Diese Sichtweise ist zwar nicht falsch, doch sie unterschätzt die psychologische Seite des Problems. Plausibler erscheint eine andere Annahme: Populisten partizipieren am gegenwärtigen Kulturkampf, weil sie sich davon einen Gewinn an sozialer Anerkennung erhoffen.

Darauf hat die Soziologin Arlie Russell Hochschild in ihrem Buch über die amerikanischen Rechtspopulisten schon vor Jahren hingewiesen. Was deren Sympathisanten bewege, seien enttäuschte Erwartungen und ein Gefühl der Marginalisierung durch die dominante Kultur. Allgemein formuliert: Die Agglos und Provinzler, die Ossis und die Rednecks, sie wissen um die Geringschätzung, mit der sie das urbane Establishment betrachtet. Als Hillary Clinton die Trump-Supporter 2016 einen «Haufen von Bedauernswerten» schimpfte, waren sie deshalb kaum überrascht.

Flugs liessen sie sich T-Shirts mit der Aufschrift «Adorable Deplorables» drucken und trugen ihr Stigma fortan als Ehrenabzeichen. Im Grunde imitieren sie damit den radikalen Multikulturalismus, indem sie ihm einen alternativen Zivilisationsdiskurs entgegenstellen. Die meisten von ihnen sehen sich als Verteidiger nationaler Tugenden. Eine radikale Minderheit geht weiter, indem sie ihre helle Hautfarbe zum Politikum erklärt. Damit reagiert sie auf das antirassistische Erziehungsprogramm, das speziell für sie geschaffen wurde.

Überhaupt orientiert sich der linksliberale Zivilisierungsdiskurs an einer mentalen Landkarte, die ohne das Bild rückständiger Orientalen nicht auskommt. Diese ist gespickt mit Zonen, deren Bewohner die Verachtung durch das Zentrum als kulturelles Startkapital mit auf den Weg bekommen. In England ist es schon lange der Norden («Northeners»), in den USA ist es der Süden («Rednecks»), und in Deutschland ist es der Osten («Ossis), der als in mehrfacher Hinsicht rückständig gilt.

Universalisiert wird diese Topografie der Herabsetzung durch den Kontrast von Urbanität und Provinz. Ich werde nie vergessen, wie liebenswürdige Kollegen über jene sprachen, die nicht in Oxford, Cambridge oder London lehrten: «He now lives in the provinces.»

Von Populisten lernen

Dabei zeigt die populistische Bewegung Widersprüche auf, in die sich der linksliberale Zeitgeist verstrickt hat. Mit mehr oder weniger akzeptablen Methoden weisen ihre Anhänger darauf hin, dass der Gesellschaftsvertrag nicht mehr trägt. Genau hier müssten verantwortungsvolle Liberale hellhörig werden. Denn zum einen verstösst dieser Zeitgeist gegen das, was man das Dahrendorf-Diktum nennen könnte: Universale Grundrechte genügen nicht als Fundament eines staatlichen Gemeinwesens; dazu bedarf es als zusätzlicher Legitimation einer demokratischen Politik, die bürgerliche Pflichten ebenso betont.

Die Verwirklichung dieses Liberalismus der Rechte und Pflichten sah Dahrendorf als wichtigste Errungenschaft des modernen Nationalstaats. Zudem verstösst der dominante Linksliberalismus gegen ein zweites Prinzip des modernen bürgerlichen Gesellschaftsvertrags, das Milton Friedman formuliert hat: Ohne gesteuerte Zuwanderung lässt sich der Sozialstaat in seiner jetzigen Form kaum halten. Hier steht in allen westlichen Ländern ein demokratischer Grundsatzentscheid aus.

Wer Vernunft nicht bloss als eine Frage des Habitus betrachtet, wird sich periodisch die Frage erlauben: Wer ist hier eigentlich vernünftiger unterwegs, das linksliberale Establishment oder die Populisten, die heute etwa einen Drittel der europäischen Stimmberechtigten vertreten? Jedenfalls ist die Umerziehung der neuen Wilden gescheitert, das zeigen die politischen Ereignisse der letzten Wochen und Tage. Gefragt sind nun nicht Schnellschüsse in Form neuer Koalitionen und leicht durchschaubarer rhetorischer Konzessionen. Gefragt wäre Mut zu ernst gemeinter Selbstkritik.

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