Montag, Oktober 7

Noch nie war Frankreich derart lange ohne rechtmässige Regierung. Emmanuel Macron lässt Frist um Frist, die Parteien oder Medien streuen, verstreichen. Während sich die Opposition empört, arbeitet der Präsident beharrlich an seinem Ziel. Ob das gutgeht?

Die Olympischen Spiele sind vorbei, die langen Sommerferien bald auch – und Frankreich hat noch immer keine Regierung. Am Dienstag hat Präsident Emmanuel Macron eine weitere, von seinem Umfeld in Umlauf gebrachte Frist verstreichen lassen, in der endlich der Name einer Regierungschefin oder eines Regierungschefs bekanntgegeben werden sollte. Der offizielle Grund für das Schweigen ist: Noch zeichnet sich keine stabile Lösung ab.

Macron liess sich nach dem Ende der Olympischen Spiele – einer ersten Frist – Zeit, bis er mit den offiziellen Beratungen begann. Vergangenen Freitag und am Montag lud er schliesslich nacheinander die Vertreter aller in der neuen Nationalversammlung sitzenden Parteien in den Élysée-Palast ein. Er wie auch die Vertreter der Opposition lobten die ehrliche Gesprächsatmosphäre.

Die LFI zieht sich zurück – aber es hilft nichts

Seit Montagabend allerdings ist es mit der Freundlichkeit vorbei. Denn da machte Macron offiziell, was er zuvor schon angedeutet hatte: Er lehnt es ab, dem linken Nouveau Front populaire (NFP) die Verantwortung für die Regierungsbildung zu übertragen. Macron ignorierte deshalb den Vorschlag, die NFP-Kandidatin Lucie Castets zur Regierungschefin zu ernennen. Der NFP, ein Zusammenschluss aus vier linken Parteien, hatte bei der Parlamentswahl Ende Juni zwar die meisten Sitze erobert. Allerdings sind es nicht genug für eine einfache, geschweige denn die absolute Mehrheit, die eine stabile Regierungsführung erlauben würde.

Dabei hatte der NFP noch am Wochenende versucht, Macron eine Entscheidung in seinem Sinn abzupressen. Jean-Luc Mélenchon, der Chef der linksextremen Bewegung La France insoumise (LFI), hatte am Samstag angekündigt, er würde auf einen Ministerposten verzichten, sollte der NFP den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten. Für die Parteien der Mitte, unter ihnen auch jene von Macron, ist Mélenchons LFI der Grund, weshalb sie eine Koalition mit dem Linksbündnis ausschliessen. In den Reihen von LFI tummeln sich nicht nur Kreml-Freunde, sondern auch Politiker, die ihre Ablehnung gegenüber Israel sehr offen äussern.

Macron aber liess sich nicht ein auf diesen Handel. Er begründete das damit, dass sich auch mit dieser Lösung keine stabile Regierung abzeichnen würde. Das rechtsnationalistische Rassemblement national und seine Verbündeten hatten gedroht, eine rein linke Regierung – auch ohne LFI – sofort mit einem Misstrauensantrag zu konfrontieren. In seiner Stellungnahme vom Montagabend wiederholte Macron, dass keine Partei auf der Durchsetzung ihres Programms bestehen könne.

Wenig überraschend reagierte die Linke verärgert über Macrons Entscheidung. Mehrere Vertreter des Bündnisses monierten am Dienstag, der Präsident verweigere sich der Demokratie, indem er die wahren Wahlsieger ignoriere. Sie lehnen es ab, sich weiter an den Beratungen zu beteiligen, die Macron am Dienstag fortsetzte. Stattdessen ruft LFI für den 7. September zu einer grossen Demonstration gegen Macron auf.

Macron hat alle Zeit, die er will

Der Staatspräsident arbeitet damit beharrlich auf sein Ziel hin, eine Koalition der Mitte zu finden. Er hat die Parteien der Extreme von den weiteren Sondierungsgesprächen ausgeschlossen; weder LFI noch das rechtsnationale Rassemblement national mit seinen Verbündeten um den Konservativen Éric Ciotti sind am Dienstag in den Élysée-Palast eingeladen worden. Aus Macrons Statement wird deutlich, dass er sich die Beteiligung von Parteien wünscht, die nicht darauf bestehen, dass der künftige Regierungschef oder die Regierungschefin aus ihren Reihen stammt. Seit einigen Wochen werden in den Medien die Namen von Personen herumgeboten, denen eine Konsenskultur nachgesagt wird: Dazu gehören der ehemalige Sozialist Bernard Cazeneuve oder der ehemalige Konservative Xavier Bertrand. Beide verliessen ihre Partei in den vergangenen Jahren, beide tendieren mehr zur Mitte als zu den Extremen.

Gesetzlich gibt es für Macron keinen Grund zur Eile bei der Regierungsbildung. Frankreich kennt keine festgelegte Frist, in der nach einer Wahl ein Premierminister ernannt werden muss. Die gegenwärtige Lage ist dennoch ungewöhnlich, und die Nervosität im Land ist gross: In den Medien wird besorgt darauf hingewiesen, dass Frankreich noch nie so lange ohne voll handlungsfähige Regierung gewesen sei. Die Frage ist, welche Parteien noch wie lange verhandeln wollen.

Die nunmehr nur geschäftsführenden Minister sind zwar alles andere als untätig; laut «Le Monde» haben sie seit Mitte Juli mehr als 1100 Amtshandlungen vorgenommen, allerdings nur solche der sehr niederschwelligen Art: Sie haben Gemeinden umbenannt, hohe Funktionärsposten besetzt, besondere Sicherheitszonen deklariert. Auch hat der Premierminister seine Kabinettsmitglieder darauf hingewiesen, dass es mit Blick auf das kommende Jahr angesichts des Spardrucks möglicherweise eine Ausgabensperre geben werde.

Die Unterschiede zum Normalbetrieb werden sichtbar, wenn sich wichtige Daten nähern, etwa der landesweite Schulbeginn vom kommenden Montag. Traditionell gibt das Bildungsministerium kurz davor (gesetzliche) Neuerungen bekannt. Am Dienstag hat die geschäftsführende Magistratin Nicole Belloubet zwar die Medienkonferenz zur «rentrée» durchgeführt. Doch von den Reformen, die meist noch von ihrem Vorgänger angeregt wurden, werden die meisten auf Eis gelegt oder aber in einem Testbetrieb belassen. Darunter fällt etwa die landesweite Einführung einer Schuluniform. Solche Massnahmen brauchen eine gesetzliche Grundlage, die durch eine rechtmässig handlungsfähige Regierung ausgearbeitet werden müsste, bevor sie, nach den Beratungen im Parlament, in Kraft treten können. In Frankreichs Schulzimmern bleibt daher vorerst vieles, wie es war.

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