Die geopolitischen Spannungen wachsen zwischen den USA und China. Auch Schweizer Konzerne werden hineingezogen. Sie könnten gezwungen werden, sich für einen Block zu entscheiden.
Tausend Tonnen Stahl können einen Sturm aushalten. Ob sie auch einen politischen Tornado zwischen China und den USA überstehen, ist offen. Die massiven chinesischen Kräne, mit denen in Amerika Container von Frachtschiffen an Land gehoben werden, sind ins Zentrum eines solchen Sturms geraten – und mit ihnen der Industrieriese ABB. Das wirbelt eine Frage auf: Wenn die Geopolitik der Weltmächte aggressiver wird, werden Schweizer Firmen dann häufiger ihre Geiseln? Oder schützt die neutrale Marke Schweiz?
Die Probleme von ABB in den USA
ABB hat sie nicht geholfen. Im Januar 2024 erhielt der Konzern Post von zwei Ausschüssen des amerikanischen Repräsentantenhauses, die sich unter anderem mit der nationalen Sicherheit befassen. Der Vorwurf: ABB habe es versäumt, wichtige Fragen zu beantworten. Ob dem Konzern noch zu trauen sei, müsse geklärt werden. So etwas dürfte dem Unternehmen noch nicht passiert sein.
Im Februar traf sich der ABB-Länderchef Michael Gray mit den Abgeordneten zu einem Austausch. Seither fragt man sich wohl in der Zürcher Zentrale, wie es weitergeht. Das Problem: Die Parlamentarier der USA sind besorgt über die Vielzahl chinesischer Kräne, die in amerikanischen Häfen installiert sind. ABB hat für die Kräne Hardware und Software geliefert.
Die Datensysteme der Kräne könnten für chinesische Spionage und Cyberangriffe missbraucht werden, so die Befürchtung. Hergestellt wurden die Kräne des Anstosses vom Weltmarktführer ZPMC, einem Staatsunternehmen aus Schanghai. 80 Prozent der Containerkräne in den USA stammen von ZPMC, dem weltgrössten Hersteller. Beliefert wurde ZPMC unter anderem von ABB – nach eigenen Angaben mit Standardprodukten, die man auch an andere Kranhersteller verkauft.
Wie konnte ABB ins Fadenkreuz geraten? Man lebe in einer Periode der Postglobalisierung mit einer angespannteren Weltwirtschaft und zunehmend belasteten geopolitischen Beziehungen, heisst es von unternehmensnahen Kreisen. Das betrifft vor allem das Verhältnis zwischen den USA und China. Im laufenden Präsidentschaftswahljahr der USA würden die Bedenken gegenüber China über Parteigrenzen hinweg geäussert. Dabei sind viele technologische Sektoren und Unternehmen betroffen.
Der abnehmende Nutzen der Neutralität
Früher waren geopolitische Spannungen nicht immer ein Problem: Sie können für Firmen aus neutralen Staaten sogar ein Vorteil sein, weil sie keine Seite wählen müssen. «Es war wichtig für ein Unternehmen, schweizerisch zu sein, um überall und mit jedem Land Geschäfte zu machen und von dem hervorragenden Image der Schweiz in der Welt zu profitieren», sagt der Schweizer Wirtschaftshistoriker Pierre-Yves Donzé, der an der Universität von Osaka lehrt. Es half während der Weltkriege, in den Zwischenkriegsjahren und dem Kalten Krieg, dass die Schweiz als kleines und machtloses Land wahrgenommen wurde.
Eine Umfrage der Credit Suisse im vergangenen Jahr spiegelt diese Aussage: Mehr als drei Viertel der befragten Unternehmen sind der Auffassung, dass die Wahrung der Schweizer Neutralität im Interesse der eigenen Firma ist. Zugleich spüren rund 40 Prozent der befragten Unternehmen negative Reaktionen von Geschäftspartnern, weil die Schweiz die internationalen Sanktionen gegen Russland mitträgt.
Donzé sieht aber eine Veränderung gegenüber früher: «Wir leben in einer Welt, in der die internationale Ordnung des 20. Jahrhunderts keinen Sinn mehr ergibt. Die schweizerische Neutralität kann als Teil dieser schwindenden internationalen Ordnung verstanden werden.» Sicherheitsbedenken, die Forderung nach Versorgungssicherheit, protektionistische Industriepolitik und polarisierende Klimapolitik führen zu Trennlinien zwischen den grossen Wirtschaftsblöcken – mit Folgen für Unternehmen, die sich auf der ganzen Welt zu Hause wähnen.
In den USA ist China-Phobie ein verbreitetes Phänomen geworden. Im Fall der Hafenkräne drohen schärfere Auflagen. Ende März verabschiedete das Repräsentantenhaus bereits ein Gesetz, das den Einsatz von gewisser ausländischer Software in Häfen einschränkt. Sollte ABB grundsätzlich in Ungnade fallen, steht viel auf dem Spiel: Die USA sind der grösste Markt des auf Elektrifizierung und Automatisierung spezialisierten Konzerns. Sie steuern 26 Prozent zum Umsatz bei; China folgt mit 14 Prozent auf dem zweiten Platz.
Im Februar kündigte Biden an, eine amerikanische Kranproduktion mit mehr als 20 Milliarden Dollar zu fördern. Profitieren soll der Hersteller Paceco, eine Tochter des japanischen Mitsui-Konglomerats – der dafür aber eine Fertigung in den USA aufbauen wird. ABB hat das Krangeschäft in Europa angesiedelt.
Damit werden die Grenzen der «Local for local»-Strategie deutlich, die ABB seit Jahren verfolgt. Sie soll den Konzern vor Zerwürfnissen in den Lieferketten schützen: Für 95 Prozent der in Europa hergestellten Produkte werden die Vorleistungen lokal eingekauft. In China sind es 85 Prozent, in den USA 75 Prozent. Aber es bleiben Löcher, durch die selbst Hafenkräne passen. Für den Moment wartet ABB ab. Es gebe aber keinen Grund für ABB, die Strategie zu ändern, heisst es aus dem Umfeld des Unternehmens.
Die neue Gefahr der Geografie
Manche Schweizer Konzerne gehen weiter: Holcim, einer der weltgrössten Zementhersteller, hat Ende Januar die vollständige Abspaltung seines bedeutenden Nordamerika-Geschäfts angekündigt. Die direkte Ursache sind nicht politische Spannungen, sondern die Diagnose, dass ein rein amerikanisches Unternehmen den amerikanischen Markt am besten bedienen kann – und nicht ein in der Schweiz domizilierter Weltkonzern. «Wir leben in einer multipolaren Welt. Als Unternehmen müssen Sie Ihre Strategie darauf abstimmen», sagte der Firmenchef Jan Jenisch im Gespräch mit der «NZZ am Sonntag».
Eine organisatorische Aufspaltung eines Unternehmens nach geografischen Kriterien: Das klingt tatsächlich nach einer Rückabwicklung der Globalisierung. Holcim begründete die Aufteilung damit, dass dadurch Kunden und Investoren besser betreut werden könnten und dass die unterschiedlichen Regulierungen in den USA und im Rest der Welt eine Trennung rechtfertigen würden.
Organisatorische Aufspaltungen aufgrund der Geografie sind indes noch selten. So teilt sich seit kurzem das ursprünglich amerikanische Wagniskapitalunternehmen Sequoia in drei Gesellschaften mit unterschiedlichen Aktionären und verschiedenen Managements auf: in eine amerikanische, in eine chinesische sowie in eine indische und südostasiatische. Sequoia gehörte zu den frühen Investoren von Whatsapp, Zoom, Google, Apple, Nvidia, aber auch zu jenen der chinesischen Tiktok-Mutter Bytedance, die von Washington kritisch beäugt wird.
In Taiwan überlegen Unternehmen, ob sie ein zweites Hauptquartier im Ausland installieren sollen, um sich vor den Auswirkungen einer möglichen chinesischen Attacke zu schützen.
Nestlés Erfahrungen mit der Doppelstruktur
Es sind noch wenige Unternehmen, die ihre Organisation nach Geografie und Einflusssphären neu aufteilen. Wenn sich der geopolitische Wettbewerb verschärft, dürfte dies jedoch zunehmen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wie Schweizer Unternehmen versucht haben, zwischen verschiedenen Machtblöcken zu manövrieren. In den 1920er und 1930er Jahren zwischen den zwei Weltkriegen haben Unternehmen wie Roche oder Nestlé begonnen, dem zunehmenden Nationalismus und der Aufteilung der Märkte mit Doppelstrukturen zu begegnen.
So gründete der Lebensmittelkonzern Nestlé neben der Zentrale in Vevey eine zweite Holding in Panama: Unilac, in der vor allem die Unternehmen in Nord- und Südamerika vereinigt wurden. Die beiden Gesellschaften hatten identische Aktionäre. Kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kamen so gut wie alle Konzernteile ausserhalb Kontinentaleuropas zur Unilac. Später wurde eine weitere Holding in Uruguay gegründet, in die die meisten Vorzugsaktien von Nestlé in der Schweiz an Unilac eingebracht wurden, um die Unternehmensteile noch besser zu schützen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg vereinfachte Nestlé die Struktur wieder und betonte vermehrt die Schweizer Herkunft. Das Unternehmen löste Unilac dennoch erst im Jahr 1985 ab, als ein Ende des Kalten Krieges wahrscheinlicher wurde. Nicht nur die Unternehmen, auch Bundesbern stellte sich die Frage in den 1950er Jahren, wie Schweizer Firmen vor einer möglichen Invasion der Sowjetunion geschützt werden könnten. Bern schloss deshalb ein Abkommen mit Kanada ab, um im Fall der Fälle den Sitz Schweizer Unternehmen nach Nordamerika verlegen zu können. Die Bundesbeschlüsse wurden erst 2017 aufgehoben.
Für den Wirtschaftshistoriker Donzé ist die gegenwärtige Situation eher mit der Zeit des Kalten Krieges als mit der Zwischenkriegszeit vergleichbar: «Der Kalte Krieg bedeutete eine Vervielfachung der Risiken. Neben Protektionismus und Kriegsgefahr wie in der Zwischenkriegszeit kamen noch Autoritarismus in vielen Ländern, Entkolonisierung, Staatsstreiche, antiwestliche Stimmung, Nationalismus und die Missachtung internationalen Rechts hinzu.» Donzé erwartet, dass es verstärkt zu unterschiedlichen Geschäftsmodellen abhängig von Branche und politischem Risiko kommen wird.
Während des Kalten Krieges half es Schweizer Unternehmen, aus einem kleinen Land zu stammen. Donzé verweist darauf, dass Neutralität, die Guten Dienste und humanitäre Hilfe auch für Schweizer Unternehmen wichtig waren. Jetzt profitiert die Schweiz zudem davon, als reiches und wirtschaftlich innovatives Land wahrgenommen zu werden.
Wenn die Botschaft aushilft
Eine Episode wie in Japan während der 1950er Jahre ist wohl derzeit undenkbar: Nestlé war auch während des Zweiten Weltkriegs in Japan geblieben, das zu den Achsenmächten mit Deutschland und Italien gehörte. Tokio hielt nach Kriegsende an Kapitalkontrollen fest. Nestlé konnte seine Gewinne nicht ausführen. Bern half jedoch: Der Lebensmittelkonzern transferierte seine Guthaben an japanischer Währung an die Schweizer Botschaft in Japan und erhielt dafür Franken in der Schweiz.
Würden Schweizer Unternehmen ein ähnliches Vorgehen heutzutage in Russland anstreben, dürfte es wohl heftige internationale Proteste hageln. Die Schweizer Aussenhandelspolitik ist vielmehr darauf bedacht, sich nach allen Seiten die Wege mithilfe von Handelsabkommen offenzuhalten. Das letzte Beispiel ist die Einigung mit Indien. Die Schweiz, zusammen mit den Efta-Partnern, ist das einzige europäische Land, das ein Abkommen mit Indien geschafft hat.
Die Schwierigkeiten für ABB sollten aber Warnung genug sein. Die Welt ist verflochtener als früher. Das macht eine Aufteilung kostspieliger. Gleichzeitig können Druckversuche auch wirkungsvoller sein, wenn von einem Unternehmen gefordert wird, sich auf eine bestimmte Seite zu stellen.