36 Jahre nach dem Bombenanschlag auf den Flug Pan Am 103, bei dem im schottischen Dorf Lockerbie 270 Menschen ums Leben kamen, ermittelt jetzt erstmals die US-Justiz. Im Zentrum der Ermittlungen steht ein winziges Beweisstück – und ein schillernder Geschäftsmann aus Zürich.

Edwin Bollier, bald 88 Jahre alt, sitzt in seinem Büro an der Badenerstrasse in Zürich und sagt: «Das Buch ist geschrieben – ich muss es nur aus der Schublade ziehen.» Im Buch will Bollier endlich die ganze Wahrheit zu «Lockerbie» erzählen, dem bis heute grössten Terroranschlag in Europa.

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270 Menschen wurden getötet, als 1988 ein Passagierflugzeug der amerikanischen Fluggesellschaft Pan Am nach der Explosion einer Bombe über besiedeltem Gebiet in Schottland abstürzte.

Jetzt befasst sich erstmals die US-Justiz mit dem «Angriff auf Amerika», wie ihn der damalige Präsident Ronald Reagan nannte. Schon vor vielen Jahren wurde in Schottland ein mittelklassiger Geheimdienstmitarbeiter aus Libyen schuldig gesprochen, am Anschlag beteiligt gewesen zu sein. Doch die Einwände gegen den Schuldspruch verstummten nie. Derzeit sitzt in den USA ein mutmasslicher Komplize des Verurteilten in Untersuchungshaft – der Fall wird neu aufgerollt.

US-Justiz in Zürich

Zwei Staatsanwälte und eine Richterin reisten im vergangenen Jahr nach Zürich, um Edwin Bollier als Zeugen zu befragen. Er ist zuversichtlich, dass das amerikanische Gericht in seinem Sinne entscheiden wird. «Ich habe alle nötigen Informationen geliefert, um die Verschwörung endlich aufzudecken.»

Nach Bolliers Darstellung steckt nicht der libysche Geheimdienst von Muammar al-Ghadhafi hinter dem Attentat, sondern eine syrisch-palästinensische Kommandogruppe im Auftrag Irans.

Mit der Publikation seines Buches wartet Edwin Bollier, bis das Urteil aus den USA vorliegt. Allerdings hat das zuständige Gericht den ursprünglich auf Mai angesetzten Prozesstermin gerade verschoben, unter anderem wegen der «Komplexität der Materie».

Das kümmert Edwin Bollier wenig. Er hält sich bereit, auszusagen, wann immer der Prozess stattfinden wird.

Keiner kennt PT/35 (b) so gut wie er

Auch in dem amerikanischen Verfahren ist der Zürcher Geschäftsmann die Schlüsselfigur. Niemand kennt das Beweisstück mit dem Aktenzeichen PT/35 (b) so gut wie er. Es ist nicht grösser als ein Fingernagel, nur einen Millimeter dick, und es wiegt weniger als ein Gramm.

An diesem winzigen Teilchen hängt seit mehr als dreissig Jahren der ganze Fall Lockerbie.

Es stammt von einer elektronischen Leiterplatte, steckt heute in jedem Smartphone und wird auch Platine genannt. Eine Platine ist flach, besteht aus Metall und dient als Grundlage, auf der all die nötigen Bestandteile für ein elektronisches Gerät aufgebaut sind. Die Leiterplatte oder die Platine, aus der das fragliche Fragment durch die Explosion in der Boeing 747 herausgebrochen wurde, gehörte zu einem Zeitzünder.

Aus dem riesigen, mehrere Tonnen schweren Trümmerhaufen von Lockerbie ist PT/35 (b) das einzige Teilchen, das eine Spur nach Libyen legt: Ohne das winzige Fragment hätte der libysche Geheimdienstmitarbeiter namens Abdelbasset al-Megrahi nicht angeklagt werden können.

Im Büro an der Badenerstrasse beugt sich Edwin Bollier über die Akten. Er liest sie ohne Lesebrille, sogar das Kleingedruckte. Wenn er von Lockerbie erzählt, und das tut er zumeist ohne Punkt und Komma, bringt er manchmal Namen oder Jahreszahlen durcheinander. Dann kommt ihm seine Frau Mahmaz zu Hilfe, eine gebürtige Perserin, die nach dem Sturz des Schahs in die Schweiz kam.

Schon bald gehörte sie zum Team Bollier, inzwischen kennt sie den Fall Lockerbie fast so gut wie ihr Mann.

Auch die Filmindustrie beschäftigt sich gerade ausgiebig mit dem Absturz der Pan Am 103. Mehrere Produktionen stellen das schottische Gerichtsurteil infrage oder sprechen offen von einem Fehlurteil. Auf der Streamingplattform Sky läuft eine aufwendige Dokumentation, begleitet von einer gelungenen Verfilmung mit Colin Firth in der Hauptrolle. Bald folgt auch die Konkurrentin Netflix mit einem Beitrag, den sie zusammen mit der BBC produziert hat.

Zu heikel für al-Jazeera

Am brisantesten aber ist eine mehrteilige Serie des arabischen Fernsehsenders al-Jazeera. Eine Folge zog man nach der Ausstrahlung zurück, die letzte Folge strahlte man gar nicht erst aus. Offenbar war sie den katarischen Besitzern zu heikel. Der NZZ liegen alle Folgen der Serie vor. Darin werden bisher nicht bekannte Hinweise offengelegt, die den Verdacht erhärten, Iran stehe hinter dem Attentat.

Früher oder später führt der Weg jeden Dokumentarfilmers an die Badenerstrasse 414, ins Büro von Edwin Bollier in Zürich Albisrieden. BBC hat hier ebenso gedreht wie Sky oder al-Jazeera. Der mehrstöckige Betonbau im Zürcher Nova-Park wirkt etwas aus der Zeit gefallen. Wer in der dritten Etage das Büro mit der Aufschrift «MEBO LTD» betritt, fühlt sich zurückversetzt in die siebziger Jahre.

Seit Edwin Bollier vor fünfzig Jahren eingezogen ist, hat sich wenig verändert – vielleicht sogar nichts: Ein dunkelbrauner Spannteppich geht nahtlos über in einen hellbraunen Wandteppich, ein mattbraunes Ledersofa und ein mächtiges Pult aus Eichenholz ergänzen das Interieur. Hinter bleichen Gardinen bleibt das Büro selbst tagsüber schummrig.

In dieser skurril wirkenden Kulisse könnte man sich eine Folge aus den Anfängen des «Tatorts» vorstellen. Doch im Unterschied zum Sonntagabendkrimi ist der Fall «Lockerbie» nicht in anderthalb Stunden gelöst. Im Gegenteil: Nach mehr als 36 Jahren wird noch immer über die Täterschaft gerätselt.

Sprengstoff im Kassettenrecorder

Am Abend des 21. Dezember 1988 erreichte der Flug Pan Am 103 von London nach New York gerade die Reiseflughöhe von 9000 Metern, als im Frachtraum eine Bombe explodierte. Ein Zeitzünder, eingebaut in einen Toshiba-Kassettenrecorder, hatte die Explosion ausgelöst. Das Flugzeug stürzte ab.

Alle 259 Insassen, die Mehrheit von ihnen US-Bürger auf dem Weg in die Weihnachtsferien, starben. Auch 11 Bewohner an der Absturzstelle in Lockerbie kamen ums Leben.

Die Lieferung nach Libyen

Bereits 1985 hatte das kleine Elektronikunternehmen Mebo von Edwin Bollier 20 Timer jenes Modells nach Libyen geliefert, das die Explosion auslöste. Die Lieferung ist aktenkundig und unbestritten.

Mebo steht für die Anfangsbuchstaben der zwei Firmengründer: Erwin Meister und Edwin Bollier. Während sich Meister schon längst aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat, kämpft Bollier noch immer an vorderster Front um den Ruf seines Unternehmens.

Die Mebo Ltd. war ein einfaches Handelsunternehmen für Elektrogeräte. Einige wenige Geräte entwickelte sie selber. Dazu gehörte eine Zeitschaltuhr, Modell MST-13. Ein Ingenieur, der einzige Angestellte der Mebo, hatte das Modell in einer kleinen Werkstatt entwickelt. Eine Drittfirma stellte die Schaltuhren MST-13 nach dessen Plänen her.

Die libysche Armee war fast die einzige Abnehmerin dieser Timer, einige wenige Exemplare gingen zudem an den Geheimdienst der DDR, die Stasi.

«Aber wir haben nicht Zeitzünder nach Libyen geliefert, sondern bloss elektronische Zeitschaltuhren», hält Bollier im Gespräch in seinem Büro fest.

Dieser Unterschied ist ihm wichtig – eine Zeitschaltuhr ist keine Waffe. Zu einer Waffe wird eine Zeitschaltuhr erst, wenn man einen Zünder anschliesst. Das hat die Mebo nicht gemacht, den Zünder hat Libyen eigenständig eingebaut.

Edwin Bollier nimmt eine Zeitschaltuhr, die in seinem Büro auf dem Pult steht, in die Hände. Die MST-13 ist so gross wie eine Faust. Sie sei nichts anderes als eine simple Schaltuhr, erklärt Bollier. «Ähnlich wie ein Wecker oder wie eine Eieruhr, nur etwas robuster, feuerfest und wasserdicht».

Für die Lieferung der Zeitschaltuhren nach Libyen und in die DDR lag der Mebo eine Ausfuhrbewilligung vor. Die Kontrollbehörde hatte keinen Verstoss gegen das Kriegsmaterialgesetz festgestellt.

Weil es ihm so wichtig ist, einigen wir uns mit Edwin Bollier, für diesen Artikel weitgehend das englische Wort Timer zu verwenden – für Zeitschaltuhren mit und ohne Zünder.

Und wofür verwendete die libysche Armee die Timer aus der Schweiz? Die Armee habe sie als Defensivwaffe eingesetzt, beteuert Bollier. Das war im Wüstenkrieg gegen das Nachbarland Tschad. In umkämpften Militärcamps habe man die Timer scharf geschaltet. Konnte man die Stellung halten, hat man sie wieder entschärft. Falls aber das Camp vom Feind erobert wurde, gingen sie irgendeinmal los.

Was feststeht: Angeklagt wurde Bollier wegen des Bombenanschlags von Lockerbie nie, weder als Mittäter noch als Gehilfe, auch wenn die schottischen Behörden das erwogen hatten. In der Schweiz führte die Bundesanwaltschaft ein Strafverfahren, nach vier Jahren wurde es eingestellt.

Vor Gericht stand Bollier immer nur als Zeuge. Seit mehr als dreissig Jahren sagt er stets dasselbe: Das Fundstück von Lockerbie, PT/35 (b), das winzige Teilchen des zerbombten Timers, unterscheide sich in verschiedenen Details von jenen Schaltuhren, die Bollier einst nach Libyen geliefert hatte.

Das Fragment weise Merkmale auf, die erst ab 1990 produziert worden seien, also mehr als ein Jahr nach dem Absturz der Pan Am 103.

Daraus könne nur ein Schluss gezogen werden, sagt Bollier: «Jemand muss das Fundstück nachträglich in die Absturzstelle gelegt haben, um eine falsche Spur nach Libyen zu legen.»

Braun statt verkohlt

Das habe er sofort erkannt, als ihm die Ermittler aus Schottland und den USA erstmals ein Foto des Fundstücks zeigten. Das war 1990. «Auf dem Foto war das Fragment braun», erinnert sich Bollier. «Aber nach der Explosion hätte es doch verkohlt sein müssen.»

Als er PT/35 (b) später im Original zu Gesicht bekam, war es plötzlich nicht mehr braun – sondern verkohlt. Woraus Bollier schliesst: Das angebliche Fundstück ist nicht nur eine Fälschung, es wurde nachträglich auch noch manipuliert.

Das ist ein ungeheuerlicher Vorwurf, den Bollier erhebt, doch er hält daran fest. Die angeblichen Fälscher und Manipulatoren des einzigen Beweisstücks von Lockerbie nennt er die «Gruppe XXX». Damit meint er die Verantwortlichen der schottischen und der amerikanischen Justiz, in Kooperation mit dem Schweizer Geheimdienst, der damaligen Bundespolizei.

Doch als Ankläger hat Edwin Bollier ein Problem: Seine Glaubwürdigkeit ist ramponiert.

Jemand hat einmal gesagt, Bollier sei der schlechtestmögliche Zeuge, den man sich vorstellen könne – wegen seiner zwielichtigen Vergangenheit. Wer im Kalten Krieg dubiose Geschäfte machte mit den Geheimdiensten Libyens und der DDR, mit der Jamahiriya und der Stasi, dessen Ruf ist nachhaltig beschädigt.

Bolliers Kampf für die Wahrheit, wie er es nennt, ist deshalb auch ein Kampf für seine Rehabilitation. Zudem: Wenn die Spur nach Libyen tatsächlich gefälscht und manipuliert sein sollte, würde das Bollier nicht nur moralisch entlasten – er hätte wohl auch Anspruch auf finanzielle Entschädigung in Millionenhöhe.

Mit seiner Behauptung, das Beweisstück PT/35 (b) sei erst nachträglich im Trümmerfeld von Lockerbie platziert worden, steht Edwin Bollier nicht alleine da. Auch Jim Swire ist davon überzeugt.

Das Gegenteil von Bollier

Was die Glaubwürdigkeit anbelangt, ist Jim Swire das Gegenteil von Bollier. Der englische Arzt hatte beim Bombenanschlag auf Pan Am 103 seine 23-jährige Tochter Flora verloren. Integer und unabhängig, avancierte er schon bald zum anerkannten Sprecher der Angehörigen von britischen Opfern.

Bollier und Swire vertreten dieselbe These, aber es ist kein Zufall, dass Colin Firth in der Verfilmung von Sky nicht den Schweizer «Gschäftlimacher» spielt, sondern den englischen Landarzt.

Seit dem Absturz von Pan Am 103 ist es Jim Swires Lebensinhalt, die Mörder seiner Tochter, wie er sie konsequent nennt, ausfindig zu machen. Mit 89 Jahren hat er sein Ziel immer noch nicht erreicht.

Einst hatte sich Swire mit grossem Eifer dafür eingesetzt, den libyschen Angeklagten Abdelbasset al-Megrahi und dessen mutmasslichen Komplizen vor ein schottisches Gericht zu bringen. Als der Prozess nach langem Hin und Her schliesslich auf neutralem Terrain stattfand, auf dem ehemaligen Militärstützpunkt Camp Zeist in den Niederlanden, verpasste Jim Swire keinen einzigen der 85 Verhandlungstage.

Nichts wäre ihm lieber gewesen, als endlich einen Schuldigen für den Tod seiner Tochter zu kennen. Doch am Ende des Prozesses war er überzeugt: Megrahi ist unschuldig, mit dem Bombenanschlag hatte er nichts zu tun.

Mit dem verurteilten Attentäter angefreundet

Am Tag der Urteilsverkündung erlitt Jim Swire einen Zusammenbruch, so aufgewühlt war er. Vom Schuldspruch gegen Megrahi – bei gleichzeitigem Freispruch des vermeintlichen Komplizen – war er schockiert und von der schottischen Justiz enttäuscht.

Jim Swire besuchte Megrahi mehrmals im Gefängnis, und er freundete sich mit ihm an. Als bei dem Libyer Krebs diagnostiziert wurde, sprach sich Swire entschieden für dessen Freilassung aus. «Je eher er freikommt, desto besser», so zitierte ihn die «NZZ am Sonntag».

Als Megrahi 2012 im Sterben lag, reiste Jim Swire, mitten in den Unruhen nach dem Sturz Ghadhafis, nach Tripolis. Auf dem Totenbett beteuerte ihm Megrahi seine Unschuld.

Jim Swire erfüllte ihm den letzten Wunsch. In seinem 2021 veröffentlichten Buch lautet die Kernaussage: Das Fragment PT/35 (b) kann nicht aus einem der 20 Timer stammen, die Bolliers Mebo einst nach Libyen geliefert hatte – folglich war der Schuldspruch gegen Megrahi ein Fehlurteil.

Das FBI mit im Boot

Die Ermittlungen hatte die schottische Polizei geleitet. Beteiligt war aber von Anfang an auch die amerikanische Bundespolizei, das FBI – ein Zugeständnis, das die schottische Justiz gegenüber den USA machte, angesichts der vielen Opfer aus Amerika.

Die ungewöhnliche Zusammenarbeit machte die gigantischen Ermittlungen – allein das Trümmerfeld erstreckte sich auf mehrere Dutzend Quadratkilometer – noch komplizierter. «Wir waren es nicht gewohnt, nicht im Lead zu sein», sagt der selbstbewusste FBI-Special-Agent Richard Marquise in einer der vielen Dokumentationen zu «Lockerbie».

Gleichzeitig nutzte das FBI seine weltweite Vernetzung und öffnete verschiedene Quellen, die der schottischen Polizei verschlossen geblieben wären. «Sogar die CIA hat uns unterstützt», sagt Marquise einmal. Angesichts der Rivalität zwischen den beiden grossen Diensten sei das ungewöhnlich gewesen.

Doch trotz jahrelangen Ermittlungen und einem riesigen Aktenberg führte der Fall letztlich nur zur umstrittenen Verurteilung des libyschen Geheimdienstmitarbeiters.

Die Spur nach Iran

Anfangs deutete alles auf eine andere Spur hin, schon nach wenigen Monaten schien der Fall Lockerbie geklärt: Man vermutete eine Vergeltungsaktion Irans.

Am 3. Juli 1988, wenige Monate vor «Lockerbie», hatte ein Kriegsschiff der US-Navy im Persischen Golf – nach offiziellen Angaben versehentlich – ein iranisches Passagierflugzeug abgeschossen. Alle 290 Insassen kamen ums Leben, unter ihnen 66 Kinder.

Irans Revolutionsführer Ayatollah Khomeiny schwor Rache: Ein amerikanisches Flugzeug mit vielen Passagieren sollte vom Himmel geschossen werden. Vieles sprach dafür, dass das iranische Mullah-Regime für die Vergeltungsaktion eine Kommandogruppe aus Syrien mit dem Kürzel PFLP-GC beauftragt hatte, die Volksfront zur Befreiung Palästinas – General Command.

Die PFLP-GC agierte von Syrien aus, unter dem Kommando von Ahmed Jibril. Bereits 1970 hatten seine Leute den Flug Swissair 330 mit einer Paketbombe über Würenlingen zum Absturz gebracht, alle 47 Insassen wurden getötet. Damals war der Sprengstoff in ein Radio eingebaut und von einem Höhenmesser ausgelöst worden.

Wegen der Untersuchungen im Fall Würenlingen kannte kaum jemand die PFLP-GC so gut wie die Schweizer Bundesanwaltschaft. Ein halbes Jahr nach «Lockerbie», Ende Mai 1989, reisten deshalb drei schottische Ermittler nach Bern, um sich mit ihren Schweizer Kollegen auszutauschen.

Das geheime Meeting dauerte zwei Tage, die Parallelen waren frappant. In Lockerbie wurde Semtex eingesetzt, derselbe Plastiksprengstoff aus der Tschechoslowakei wie schon in Würenlingen. Sogar der Bombenbauer schien derselbe zu sein, ein Jordanier namens Marwan Khreesat.

Wenige Wochen vor «Lockerbie», Ende Oktober 1988, wurde dieser Marwan Khreesat in Düsseldorf im Rahmen der Operation «Herbstlaub» verhaftet. Insgesamt nahm die deutsche Polizei mehr als ein Dutzend Mitglieder der PFLP-GC fest – ein schwerer Schlag gegen die Terrorgruppe.

Bei der Razzia beschlagnahmte die Polizei auch vier elektronische Geräte, die alle mit Sprengstoff präpariert waren. Eines dieser Geräte war ein mobiles Radio der Marke Toshiba.

Es schien, als habe die deutsche Polizei eine geplante Anschlagsserie durch die PFLP-GC vereitelt. Aus den Befragungen der Inhaftierten ging allerdings hervor, dass die Terroristen nicht vier, sondern ursprünglich fünf solcher Geräte präpariert hatten.

Die Schlussfolgerung lag nahe: Beim fünften Elektrogerät musste es sich um jenen Toshiba-Kassettenrecorder handeln, der dann auf dem Flug Pan Am 103 über Lockerbie explodierte.

Als sich die schottische Delegation am 25. Mai 1989 von ihren Schweizer Kollegen verabschiedete, schien der Fall gelöst: Der Toshiba-Kassettenrecorder, der den Sprengstoff enthielt, war am Flughafen in Frankfurt am Main in den Frachtraum der Boeing 747 gelangt, auf dem Zubringerflug Pan Am 103 A nach London Heathrow.

So steht es im Protokoll, das die Bundesanwaltschaft vom Treffen mit ihren Kollegen aus Schottland erstellt hatte. Der «Beobachter» hatte das Protokoll vor einigen Jahren nach einem längeren Tauziehen öffentlich gemacht.

Doch dann kam alles anders – völlig anders.

Der Schwenk nach Libyen

Es gab weder einen Haftbefehl gegen den mutmasslichen Bombenbauer Marwan Khreesat noch gegen ein anderes Mitglied der tatverdächtigen PFLP-GC.

Vielmehr erliessen die schottische Polizei und das FBI, die eben erst noch im Umfeld von Iran ermittelt hatten, Haftbefehle gegen zwei bis dahin unbekannte Libyer: neben Abdelbasset al-Megrahi auch gegen einen angeblichen Komplizen, den Stationsleiter der Libyan Arab Airlines auf Malta.

Wie es zu diesen Haftbefehlen kam, bleibt unklar. Offenbar beruhten sie auf geheimen Informationen der CIA und eines zwielichtigen Agenten in Malta.

In seinem Büro kramt Edwin Bollier in einem der vielen Stapel, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in einem Nebenzimmer seines Büros aufgetürmt haben.

Jetzt hat er den gesuchten Zeitungsartikel gefunden. Er fasst zusammen: Die überraschende Kehrtwende bei den Ermittlungen war das Resultat der geostrategischen Grosswetterlage. Die USA und Grossbritannien, die sich im Krieg mit dem Irak befanden, wollten es sich nicht auch noch mit dem iranischen Mullah-Regime verderben.

Da habe es sich angeboten, die Schuld für «Lockerbie» dem libyschen Machthaber Muammar al-Ghadhafi und seinen Geheimdienstleuten zuzuschieben. Deren Anschlag auf eine Westberliner Diskothek, die vor allem von amerikanischen Soldaten besucht wurde, war ungesühnt geblieben.

«So einfach ist das», kommentiert Bollier und wirft den Zeitungsartikel auf den Stapel zurück.

Dass Libyen den USA und Grossbritannien in jenen Jahren als Schuldiger gelegener kam als Iran, mag ein mögliches Szenario sein. Belegen lässt sich die These aber nicht, wie so vieles im Fall Lockerbie.

Ghadhafis Foto auf dem Beistelltisch

Das beeindruckt Edwin Bollier nicht. In seinem Büro an der Badenerstrasse ist der längst gestürzte libysche Despot Muammar al-Ghadhafi omnipräsent. Ein gerahmtes Foto des jungen Ghadhafi steht auf dem Beistelltisch neben dem Sofa, zusammen mit einer eisernen Palme.

Während Ghadhafis über vierzigjähriger Herrschaft wurden die Menschenrechte systematisch verletzt. Es gab eine Unzahl von willkürlichen Festnahmen, Oppositionelle wurden inhaftiert und gefoltert, viele von ihnen verschwanden oder wurden hingerichtet.

Edwin Bollier sagt stattdessen: «Ghadhafi mag Blut an seinen Händen haben.» Aber aus seiner Sicht habe er sich für das Wohl der libyschen Bevölkerung eingesetzt. Bollier zählt auf: Strassen, Wohnungen, Infrastruktur – «alles picobello».

Solche Aussagen irritieren und kratzen am Bild des unerschrockenen Kämpfers für die Wahrheit.

Ein Büro für den Attentäter

Wie eng Bolliers Beziehung mit dem international geächteten Regime von Muammar al-Ghadhafi war, zeigt ein weiterer erstaunlicher Umstand: An der Badenerstrasse 414 vermietete die Mebo zeitweise ein Büro an zwei Mitarbeiter des libyschen Geheimdienstes – einer von ihnen war Abdelbasset al-Megrahi.

Bollier wiegelt ab. Das sei rein geschäftlich gewesen, in Zürich sei Megrahi bloss zwei- oder dreimal pro Jahr aufgetaucht.

Bollier war bereits Mitte der siebziger Jahre mit Libyen ins Geschäft gekommen. Noch bevor der Medienpionier Roger Schawinski vom Pizzo Groppera aus mit seinem Radio 24 die Schweizer Radiolandschaft aufmischte, hatte der ausgebildete Radiomonteur in der Nordsee einen Piratensender betrieben. Edwin Bollier tuckerte mit einem umgebauten Schiff in der internationalen Zone, von wo aus er die staatlichen Sender in England und den Niederlanden konkurrierte.

«Eine Weile war das ein einträgliches Geschäft», erinnert sich Bollier – bis die Behörden den Piratensender verboten.

4,9 Millionen Dollar von Ghadhafi

Jetzt sass Bollier auf einem teuren, mit Elektronik vollgestopften Schiff, das niemand haben wollte. Nur einer zeigte Interesse: Muammar al-Ghadhafi. Der libysche Machthaber zahlte Bollier 4,9 Millionen Dollar.

Es blieb nicht das einzige Geschäft. Zwar sah er ihn nie persönlich, aber Ghadhafi wurde zu Bolliers wichtigstem Kunden. Bald folgten Aufträge für das Militär und den Geheimdienst. In den achtziger Jahren installierte er in Tripolis die ersten Faxgeräte – die er zuvor in Zürich bei einem Zwischenhändler eingekauft hatte. «Dafür feierten mich die Libyer, die zuvor noch nie ein Faxgerät gesehen hatten, wie einen Helden.»

Nach den Faxgeräten folgte schon bald die Lieferung der MST-13-Timer nach Libyen.

Die Umstände, wie das fingernagelgrosse Fragment PT/35 (b), das von einem solchen Timer aus Zürich stammen soll, entdeckt wurde, sind bemerkenswert: Die schottische Polizei fand es erst ein halbes Jahr nach dem Absturz, Ende Mai 1989, in einem Waldstück mehr als dreissig Kilometer vom Absturzort entfernt. Das Fragment war versteckt im Kragen eines Hemdes der Marke Salomon, das einst in Malta gekauft worden war.

Das Hemd landete in einem kastanienbraunen Samsonite-Koffer, zusammen mit dem mit Sprengstoff präparierten Toshiba-Kassettenrecorder.

Teile des deutlich grösseren und robusteren Gehäuses des Timers wurden nie gefunden. Verschiedentlich wird der Zeitpunkt des Fundes in offiziellen Dokumenten nicht mit Mai 1989 angegeben, sondern erst mit Januar 1990, mehr als ein Jahr nach dem Absturz. Für Bolliers Beweisführung sind diese Daten wichtig.

Die schottische Polizei konnte mit ihrem Zufallsfund zunächst nichts anfangen. Erfolglos fahndete sie in 17 Ländern bei 54 Unternehmen nach der Herkunft von PT/35 (b).

Mithilfe des FBI und der CIA

Anfang 1990 bat die schottische Polizei ihre Kollegen vom FBI um Hilfe. Diese wurden schnell fündig: Das Teilchen passte exakt zu einem Zeitzünder, den die CIA 1985 bei einer Razzia in Togo beschlagnahmt hatte. Ein Timer MST-13 der Mebo war offenbar auf verschlungenen Wegen zu den Rebellen in Togo gelangt.

Doch im Laufe der Jahre stiessen Investigativjournalisten auf Ungereimtheiten. Zu ihnen gehört Otto Hostettler vom «Beobachter». Schon mehrfach hat er zu den Unstimmigkeiten im Fall Lockerbie publiziert.

Wie Bollier kommt auch Hostettler zu dem Schluss: «Das Fundstück mit der Bezeichnung PT/35 (b) kann nicht aus der Lieferung nach Libyen stammen, die Edwin Bollier 1985 getätigt hat.» Es weise technische Komponenten auf, die damals noch gar nicht entwickelt gewesen seien.

Neben dem Angehörigenvertreter Jim Swire und dem Investigativjournalisten Otto Hostettler lassen sich weitere unverdächtige Akteure finden, die mit Edwin Bollier einiggehen: Mit PT/35 (b) kann etwas nicht stimmen.

Die seltsame Rolle des Schweizer Geheimdiensts

Frappant ist die Rolle eines leitenden Mitarbeiters der Bundespolizei, des damaligen Nachrichtendienstes der Schweiz. Aktenkundig ist: Am 22. Juni 1989, ein halbes Jahr nach «Lockerbie», tauchte dieser Geheimdienstmitarbeiter an der Badenerstrasse 414 auf. In der dritten Etage gelangte er nicht ins Büro der Mebo Ltd, sondern in die Werkstatt auf der anderen Seite des Flurs. Dort traf er den Ingenieur, der den Timer MST-13 entwickelt hatte.

Das ist bekannt, weil Edwin Bollier den Geheimdienstmitarbeiter später angezeigt hat. Er warf ihm vor, einen Timer aus dem Bestand der Mebo gestohlen und an das FBI weitergegeben zu haben, alles ohne Durchsuchungsbefehl. Bollier verlangte vom Geheimdienstmitarbeiter 6 Millionen Franken Schadenersatz.

Im Rahmen des Strafverfahrens fasste die Bundesanwaltschaft den Sachverhalt in einer schriftlichen Stellungnahme zusammen. Die Stellungnahme datiert vom 30. Juli 2012, unterzeichnet ist sie vom Leiter der Abteilung Staatsschutz.

Gemäss ihr hatte der Mitarbeiter der Bundespolizei vom Ingenieur der Mebo tatsächlich einen Timer erhalten, «den er an die amerikanischen Behörden weitergab».

«Das Beweisstück soll in der Folge manipuliert worden sein», heisst es im Schreiben der Bundesanwaltschaft. Und dann: «Diese Behauptung Bolliers ist nicht aus der Luft gegriffen.»

Wieso Bolliers Behauptung aus Sicht der Bundesanwaltschaft stimmen könnte, wird wie folgt erläutert: «Jedenfalls liegt ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Kantons Zürich vor, das belegt, dass der an den Bundespolizisten übergebene Timer und das als Beweisstück präsentierte Timerfragment der schottischen Behörden nicht identisch sein können.»

Keine andere Behörde hat Bolliers These der Fälschung von PT/35 (b) derart deutlich übernommen wie die Schweizer Bundesanwaltschaft in ihrer schriftlichen Stellungnahme.

Bloss: Das Gutachten der Kantonspolizei Zürich, auf das sich die Bundesanwaltschaft beruft, wurde nie gefunden. Das sagt der bekannte Zürcher Rechtsanwalt Marcel Bosonnet, der Bollier in diesem Verfahren vertrat.

Das Bundesgericht ging nicht auf das Schadenersatzbegehren ein – Bollier hatte es zu spät eingereicht.

«Aus meiner Sicht hat der Wille gefehlt, der Wahrheit auf die Spur zu kommen», sagt der Strafverteidiger Bosonnet. Die Schweiz habe eine einmalige Chance verpasst, den Fall Lockerbie zu klären.

Al-Jazeera spricht von Geheimtreffen

Umso mehr legten sich die Rechercheure des englischsprachigen Kanals von al-Jazeera ins Zeug. In ihrer inzwischen zurückgezogenen Dokumentation wird aufgezeigt, wie es im Laufe von 1988, wenige Monate vor «Lockerbie», zu mehreren Treffen kam mit Vertretern der Geheimdienste von Iran, Syrien, Libyen, des Hizbullah und der PFLP-GC. Das gemeinsame Ziel soll eine militante, von Iran finanzierte Kampagne gegen Ziele der USA und Israels gewesen sein, zu der auch der Abschuss von Passagierflugzeugen gehörte.

Gemäss al-Jazeera fanden die Geheimtreffen zwischen März und Oktober 1988 in Malta, Zypern und Libanon statt.

Ausgiebig zu Wort kommt in der Dokumentation Robert Baer. Der frühere CIA-Agent und heutige Buchautor vertritt seit längerem die These, nicht Libyen, sondern Iran stehe hinter dem Terroranschlag von Lockerbie. Damit stimmt er überein mit weiteren Stimmen aus amerikanischen Geheimdienstkreisen.

Gegenüber al-Jazeera sagte der Amerikaner, er habe Belege, wonach wenige Tage nach dem Anschlag auf die Pan Am 103, Ende 1988, 11 Millionen Dollar von Iran auf ein Bankkonto in Lausanne überwiesen worden seien. Ein Teil des Geldes sei später auf die Konten von zwei führenden Mitgliedern der PFLP-GC geflossen.

Zwar ist Robert Baer längst nicht mehr im Dienste der CIA. Trotzdem gilt für ihn das Prinzip, dass alles, was er mit Wissen aus seiner Dienstzeit öffentlich macht, vorab von der CIA bewilligt werden muss.

Das sei auch in diesem Fall geschehen, sagt Baer in der gesperrten Doku-Serie von al-Jazeera. In Kreisen der CIA und des FBI sei es Konsens, dass Iran verantwortlich für «Lockerbie» sei.

Ist also Muammar al-Ghadhafis Libyen mehr als dreissig Jahre lang fälschlicherweise für den verheerendsten Terroranschlag in Europa verantwortlich gemacht worden?

Trotz den zahlreichen Befürwortern dieser These ist die Frage nicht einfach zu beantworten. Dagegen spricht etwa ein neues Buch, das Anfang Jahr erschienen ist.

Handgeschriebene Briefe, «top secret»

Darin legen die Autoren erstmals Archivmaterial aus dem libyschen Geheimdienst vor. In handgeschriebenen Briefen, die mit «top secret» gekennzeichnet sind, wird geschildert, wie im Oktober 1988 eine Abteilung des Geheimdienstes in Tripolis Experimente mit Sprengstoff durchführte, darunter die Explosion in einem Koffer.

Leiter dieser Geheimdienstabteilung war damals Abdelbasset al-Megrahi: jener libysche Geheimdienstmitarbeiter, der auf dem Totenbett seine Unschuld beteuert hatte.

Der US-Justiz ist der Archivfund bekannt. Die Verschiebung des Gerichtsprozesses dürfte auch mit der Verifizierung der bis dahin nicht bekannten Dokumente zusammenhängen.

Derweil hält Edwin Bollier sein Buch in der Schublade bereit. Zumindest den Titel gibt «Mr. Lockerbie», wie er sich in seiner E-Mail-Adresse nennt, preis: «Die Wahrheit starb vor Lockerbie».

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