Dienstag, November 12

Ein Software-Update macht aus Airpods vom Typ Pro2 kleine Hörgeräte. Als Einsteigermodell könnten sie vielen der 1,3 Millionen schwerhörigen Schweizern helfen, früher Hilfe zu erhalten. Hörakustiker fürchten trotzdem nicht um ihre Kundschaft.

In Tram und Bus, beim Shoppen und Joggen ragen sie fast allgegenwärtig aus den Ohren der Mitmenschen – Mini-Kopfhörer, die per Bluetooth-Verbindung Telefonate, Musik oder Podcasts in den Gehörgang streamen. Was viele Nutzer nicht wissen: Ende Oktober mutierten ihre Hearables in kleine, weisse Hörgeräte – zumindest wenn sie vom Typ Airpods Pro2 sind, für den der Hersteller Apple eben ein entsprechendes Software-Update veröffentlicht hat.

Ein Mikrofon haben die bereits seit gut zwei Jahren erhältlichen Ohrstöpsel von Apple wie alle modernen Kopfhörer ohnehin an Bord, sein Signal wird bisher vor allem für Telefonate und die aktive Geräuschunterdrückung genutzt. Das Update eröffnet nun die Möglichkeit, aus dem Mikrofonsignal genau jene Frequenzen verstärkt ins Ohr zu leiten, auf denen es schwächelt. Der notwendige Hörtest lässt sich auf der dazugehörigen App machen, die allerdings nur auf iPhones und iPads mit dem neuesten Betriebssystem (iOS 18) läuft. In den USA hat Apple dafür im September eine offizielle Zulassung der Arzneimittelbehörde FDA als erste «Over-the-Counter Hearing Aid Software» erhalten.

Für die Airpods des Typs Pro2 – und nur diese taugen momentan als Hörhilfe – wird ein Listenpreis von 229 Franken fällig. Ein Schnäppchen im Vergleich zu einem professionellen Hörgerät, das schnell in die Tausende gehen kann. Für die grosse Schar von devoten Apple-Jüngern, die sich ohnehin immer die neuesten Gadgets ihres Lieblingskonzerns zulegen, kommt die neue Hörgerätefunktion quasi kostenlos. Dabei stellt Apple klar: Die neue Funktion eignet sich nur für leichten bis moderaten Hörverlust, in schwereren Fällen bleibt der Gang zum HNO-Arzt oder Hörakustiker obligatorisch.

Wird hier der Bock zum Gärtner?

Rund 16 Prozent aller erwachsenen Europäer hören laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) schlecht. Die Folgen für Individuum und Gesellschaft sind beträchtlich. Da sind neue Ansätze zur Linderung des Problems willkommen. Man könnte sich natürlich fragen, ob Kopfhörer als Hörgerät nicht eine etwas zynische Lösung sind: Erst schädigt man sich den Hörsinn durch jahrelange Dauerbeschallung, dann sollen dieselben Kopfhörer es richten.

Dem widerspricht Michael Deeg vom Deutschen Berufsverband der HNO-Ärzte vehement: «In-Ear-Modelle sind in dieser Beziehung nicht schädlicher als andere Kopfhörer oder der Besuch eines Rockkonzerts.» Am Ende zähle der Schalldruck, der im Ohr ankomme – und da schützen moderne Hearables ihre Nutzer, indem sie die Lautstärke automatisch begrenzen.

Wenn die weitverbreiteten Ohrknöpfe sich nun über Nacht in Hörgeräte verwandelten, könnte sich dies für manche Menschen sogar als nützlich erweisen, so Deeg. Er erhofft sich einen «Brückeneffekt»: Vielen Betroffenen mit leichten Hörschäden ist ihr Problem entweder noch gar nicht bewusst, oder sie verleugnen es erfolgreich. Ihnen könnte die Erfahrung mit den Airpods helfen, den inneren Schweinehund zu überwinden und einen Spezialisten aufzusuchen. Denn für viele seien Probleme mit dem Hören immer noch ein sozialer Makel, ein Indiz für fortgeschrittenes Alter und körperlichen wie geistigen Abbau.

Das Ohrstöpsel-Hörgerät öffnet Türen

Das sieht auch Dorothe Veraguth so, Leiterin der Audiologie am Universitätsspital Zürich. Sie vergleicht die neue Hörhilfe-Option mit einer Lesebrille aus dem Supermarkt. «Die reicht für eine beginnende Altersweitsichtigkeit noch völlig aus. Und die positive Erfahrung, dass man solche Probleme nicht einfach erdulden muss, kann die Schwellenangst davor nehmen, im nächsten Schritt professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.»

Und auch Heike Zimmermann von Pro Audito, einer unabhängigen Nonprofitorganisation mit Sitz in Zürich, sieht die Hearables mit Hörhilfefunktion als Türöffner: «Die Hürden, sich um seine Hörgesundheit zu kümmern, sind leider für viele Menschen hoch. In der Schweiz hören rund 1,3 Millionen Menschen schlecht. Nur rund die Hälfte aller Betroffenen versorgen sich mit der Therapie Nummer eins gegen Schwerhörigkeit: einem Hörgerät.»

Die andere Hälfte kümmere sich entweder gar nicht oder erst arg spät, so Zimmermann. «Im Schnitt warten Menschen in der Schweiz sieben Jahre, bis sie ihren Hörverlust behandeln lassen. Das ist zu lange und hat fatale Folgen.»

Ohne Input verlernt das Gehirn zu hören

Fatal vor allem für die Chancen, den Hörverlust später noch mit einem Hörgerät erfolgreich ausgleichen zu können. Denn ohne ausreichenden Input der verbliebenen funktionsfähigen Sinneszellen im Innenohr degenerieren auch die Nervenzellen des Gehirns, die für die Verarbeitung der Reize zur Hörwahrnehmung verantwortlich sind.

Kommen dann Jahre später dank einem Hörgerät doch wieder Nervenimpulse an, hat das Gehirn verlernt, mit ihnen umzugehen. Selbst wenn man die zuerst vom Hörverlust betroffenen höheren Frequenzen dann wieder wahrnimmt, fällt es schwer, Hintergrundgeräusche wie Vogelgezwitscher und Blätterrauschen von relevanten Signalen wie Sprache oder Musik zu unterscheiden. Das unterminiert die meist ohnehin geringe Akzeptanz für das Hörgerät unter Menschen, die sich erst spät für ein Hörgerät entscheiden.

Dabei sind die Folgen einer unbehandelten Schwerhörigkeit ernst: Sozial führt das ständige «Wie bitte?» zu selbstgewähltem Rückzug und Einsamkeit, es geht auf Kosten der Teilhabe am Leben. Und es wirkt sich auch gesundheitlich aus: Die oft vergebliche Höranstrengung macht müde, gereizt und depressiv. Zudem erhöht ein Hörverlust vermutlich das Risiko einer Demenz, wie kürzlich eine Studie im Fachblatt «The Lancet» bestätigte. Ausserdem steigt die Gefahr von Unfällen, wenn man beispielsweise das von hinten heranrauschende Auto nicht mehr wahrnimmt.

Weil Betroffene oft noch im erwerbsfähigen Alter sind, führt Schwerhörigkeit auch zu grossen gesellschaftlichen Kosten: Auf rund sieben Milliarden Franken schätzt der jüngste Bericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) die direkten und indirekten Kosten von Hörbeeinträchtigungen in der Schweiz.

Es ist so weit: Die Gen X wird schwerhörig

Hören oder Nichthören – das ist die Frage, vor der heute insbesondere die Generation X steht, also die Geburtsjahrgänge von 1965 bis 1980. Und für diese Personen könnten Kopfhörer mit Hörhilfefunktion genau das Richtige sein, meint Thorsten Knoop, Hörakustikmeister aus Kiel und Vorstandsmitglied der Europäischen Union der Hörakustiker (Euha).

«Ich sehe den Vorteil vor allem in einem höheren Bewusstsein für Hörprobleme bei technikaffinen Menschen Anfang fünfzig. Ich würde darauf tippen, dass ein grosser Anteil der Airpod-Nutzer den Hörtest zumindest ausprobieren wird. Wenn sich darin eine leichte Schwerhörigkeit zeigt, suchen die Betroffenen hoffentlich deutlich früher als bisher das Gespräch mit einem HNO-Arzt oder Hörakustiker.» Aus diesem Grund sieht Knoop die neue Konkurrenz für seinen Berufsstand und die etablierten Hersteller auf dem Hörgerätemarkt auch gelassen.

Ohnehin verschwimmt die Grenze zwischen Hörgerät und Kopfhörer zunehmend auch von der anderen Seite. Moderne Bluetooth-Hörgeräte übertragen Telefonate und Musik.

Worin liegen dann überhaupt noch die Nachteile von Airpods und anderen bald auf den Markt drängenden Hearables mit Hörunterstützung? Auf technischer Ebene ist es vor allem ihre noch geringe Akkuleistung von nur einigen Stunden. Ein echtes Hörgerät müsse schon einen ganzen Tag durchhalten, meint die Audiologin Dorothe Veraguth. Auch der Hörtest per App sei einem diagnostischen Test beim Arzt oder Hörakustiker nicht ebenbürtig. «Ich frage mich aber auch, wie es mit der Akzeptanz bei den Mitmenschen aussehen wird. Airpods ragen ja deutlich sichtbar aus dem Ohr, da könnte das Gegenüber es als unhöflich empfinden, wenn man seine Kopfhörer im Gespräch nicht herausnimmt.»

Vermutlich ist aber auch das nur eine Frage der gesellschaftlichen Gewöhnung. Dass in Tram und Bus kaum noch jemand ein offenes Ohr für das spontane Gespräch mit dem Sitznachbarn hat, kann man bedauernswert finden, ist aber längst Normalität. Es ist nur fair – aber auch ein bisschen paradox –, wenn dieselben Ohrstöpsel als Hörgeräte nun einen Beitrag zur besseren zwischenmenschlichen Verständigung leisten.

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