Sonntag, September 29

Obligationäre werden am Kapitalmarkt systematisch über den Tisch gezogen. Ein grosses Übel ist der Goodwill aus Akquisitionen, der in den Bilanzen vieler Unternehmen schlummert.

Sind Unternehmensanleihen (Corporate Bonds) billig oder teuer? Ist die Bewertung gerechtfertigt? Wie sieht es bei den Unternehmen unter der Oberfläche aus? Wen vergessen die Manager, wenn sie von «Stakeholdern» sprechen? Wie können Firmen legal betrügen?

Wieso interessieren diese Fragen (fast) niemanden?

Einer der interessantesten Arbeitsbereiche in der Welt der Zinsen ist die Evaluierung und Selektion von Unternehmensanleihen, denn sie verbindet die Analyse «Top Down», also des Zins- und makroökonomischen Umfelds, mit der Analyse «Bottom Up», also die Einschätzung der Eignung eines Emittenten, für Kundenportfolios infrage zu kommen.

Die Zinsen, speziell im Fremdwährungsbereich, sind gegenwärtig attraktiv. Die Versuchung ist demnach hoch, ein Portfolio von Corporate Bonds zu schnüren, um die üppigen Zinsen inklusive des Renditeaufschlags («Pickup»), den Unternehmens- gegenüber den Staatsanleihen bieten, für die nächsten Jahre anzubinden. Nichts anderes haben wir im Spätherbst letzten Jahres gemacht.

Ein Problem besteht – und dieses zeigt unsere Korrelation des Monats:

Die blaue Kurve zeigt das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV, linke Skala)) des Aktienmarktes. Je grösser das KGV, desto höher bewertet sind Aktien.

Die rote Kurve (rechte Skala) zeigt den «BBB-Yield-Spread», also die Zusatzrendite von Unternehmensbonds mit einem BBB-Bonitätsrating im Vergleich zu Staatsanleihen: Je tiefer dieser Rendite-Pickup, desto höher bewertet ist der Markt für Firmenobligationen.

Die Bewertung von Aktien und Unternehmensanleihen ist eng korreliert, wie der Chart zeigt – und zwar negativ: Das KGV des globalen Leitmarktes USA ist hoch, der Rendite-Pickup der Firmenbonds ist tief. Die Korrelation für die gewählte Periode beläuft sich auf eindrückliche -0.71, in einer Skala von +1 (perfekt positiv korreliert) über null (nicht korreliert) bis -1 (perfekt negativ korreliert).

Das erscheint auf den ersten Blick sinnvoll: Der Durchschnitt der Unternehmen im S&P 500 ist von den grossen Ratingagenturen mit einer Bonität von BBB eingestuft. Wenn die Aktie teuer ist, dann aus gutem Grund, warum nicht auch die Schulden der gleichen Firma?

Auf den zweiten Blick ist die Lage weniger klar: Die Interessen von Gläubiger (Bondholder) und Eigentümer (Aktionär) des gleichen Unternehmens sind nicht immer kongruent. Für welche Anspruchsgruppe wird die Bilanz und das Risiko optimiert?

«Priced to perfection»

Das Problem? Zusatzrenditen («Spreads») von Unternehmensanleihen auf diesem mickrigen Niveau wie heute sind erstens teuer und zweitens historisch kaum nachhaltig. Eine Rezession und/oder ein Aktiencrash würde die Rendite-Spreads schnell ansteigen lassen; die BBB-Bonds, also der Bereich von klassischen Unternehmensanleihen («Investment Grade»), wären kaum ein guter Hort für Gelder, die Sicherheit suchen. Das wäre fatal etwa für Pensionskassen, die auf das Absorptionspotenzial von Anleihen in Stress-Situationen vertrauen.

Die grosse Frage lautet: Sind die Unternehmensanleihen so teuer gegenüber Regierungsanleihen – abzulesen an den geringen Spreads –, weil ihre Bonität so hoch ist? Wir sind skeptisch.

Einer unserer wichtigsten Bonitätsindikatoren lässt die Alarmsirenen ertönen: der Akquisitionsgoodwill, der wie ein Krebsgeschwür die Bilanzen der globalen Unternehmen zerfrisst.

Worum geht’s? Übernimmt Firma A die Firma B, und bezahlt sie zu viel – liegt der Kaufpreis über dem inneren Wert des Übernahmeobjekts –, dann darf sie diese Differenz, eigentlich heisse Luft, als Vermögensteil als Goodwill in der Bilanz aktivieren. Und es steht im Prinzip im Ermessen des Unternehmens, ob es diesen Goodwill abschreibt oder nicht.

Wie wir aus verschiedenen Studien wissen (KPMG, McKinsey, Harvard Business Review, etc.), scheitern die meisten Übernahmen von kotierten Unternehmen, und trotzdem werden diese getätigt, speziell in Zeiten billigen Geldes. Diese Geldverschwendung wird mit dem Ziertitel Goodwill – ausgerechnet! – bilanziert.

Ebenfalls keine Überraschung: In den meisten Übernahmen werden zu hohe Preise bezahlt, weil viele Unternehmensleitungen prozyklisch akquirieren und oft ohne kommerzielle Logik. Und um den Vorgang für den leidgeprüften Obligationeninhaber abzurunden, werden viele dieser überteuerten Übernahmen mit zusätzlichem Fremdkapital finanziert. Wichtig: Wir reden hier von Akquisitionsgoodwill, nicht vom «guten» Goodwill in Form von Patenten, Rechten etc.

«Pigs with lipstick»

Von wie viel sprechen wir? In einer Studie haben wir versucht, die Tragweite zu quantifizieren. Zusammengefasst sind die Ergebnisse die Folgenden: Eine repräsentative Stichprobe zeigt, dass der gängige Gradmesser für die Gesundheit von Unternehmen («Net Debt/Ebitda») ungeeignet ist, dass die ausgewiesenen Eigenkapitalien von «Corporate America» (aber auch in Europa) den Investoren hinters Licht führen, dass im Schnitt 40% des Eigenkapitals nämlich «fake» ist, und dass zahlreiche Unternehmen sich über Akquisitions-Goodwill die Bilanz zerstört haben. Die Zahlen unter der Oberfläche sind in der Tat besorgniserregend.

Wie konnte es so weit kommen?

Die zerrütteten Bilanzen sind ein unappetitlicher Aspekt der Wirkungen von zu tiefen Zinsen der Notenbanken. Das billige Geld traf seit 2008 auf eine Mentalität, die die Stakeholder von Unternehmen gegeneinander ausspielt: Ist es Ihnen auch schon einmal aufgefallen, dass bei der Aufzählung der Stakeholder (Aktionäre, Angestellte, Lieferanten, Kunden, Natur, etc.) regelmässig die Gläubiger fehlen?

Der Gläubiger ist der Prügelknabe, denn es ist seine Substanz, die durch Goodwill zerstört wird. Den Eigentümer interessiert dieser Substanzwert kaum, er schaut auf den Ertragswert, für ihn ist eine Übernahme eine, wenn auch teure, Call Option, aber der Gläubiger wird ohne Upside über den Tisch gezogen. Er hat eine Put Option geschrieben und auch noch dafür bezahlt.

Klarheit ist die Höflichkeit des Kritikers:

Akquisitionsgoodwill ist ein Krebsgeschwür, das bis in die hintersten Regionen des Marktes für Unternehmensanleihen metastasiert hat. Die Firmen gehen zwar nicht am Akquisitionsgoodwill zugrunde, aber die Substanz ist im Fall der Fälle – dem Konkurs – zu einem guten Teil verjubelt. Der Recovery Value – das, was für den Obligationär im Konkursfall übrig bleibt – ist ein integraler Teil der Bonität und diese ist in vielen Fällen bereits verspielt worden.

Warum interessiert es niemanden?

Diese heisse Luft in der Bilanz wird in der Regel nur dann abgeschrieben, wenn eine neue Unternehmensführung kommt und reinen Tisch machen will («kitchen sinking») und die Bilanz säubert. Es wird dann jeweils beteuert, dass Goodwill-Abschreiber nicht liquiditätswirksam sind.

Das stimmt. Dies ändert aber nichts am Verrat an den Gläubigern. Der Finanzmarkt fokussiert sich auf ein Bonitätsmass (Net Debt/Ebitda), das perverserweise die Eigenkapitalisierung und grosse Teile der Verbindlichkeiten ausklammert. Und die Unternehmen optimieren die Bilanzen dementsprechend gemäss dieser für den Gläubiger sinnlosen, ja schädlichen Metrik. Es macht die Sache nicht besser, dass selbst ausgewiesene Zinsspezialisten mit Net Debt/Ebitda hantieren.

Was machen?

Es bleibt nichts anderes übrig, als konsequent die Spreu vom Weizen zu trennen. Grosse Teile des Anlageuniversums sind für uns und unsere Kunden-Portfolios leider uninvestierbar geworden. Die gute Nachricht: Der Markt interessiert sich nicht für das Thema, denn Obligationen von Unternehmen ohne Goodwill sind nicht teurer als solche mit viel Goodwill. Das ist ein kleiner, aber wichtiger «free lunch».

P.S. 1: Das Beispiel Vodafone – 24 verlorene Jahre

Der britische Telecomkonzern Vodafone tätigte im Jahr 2000 eine Übernahme, die auf einen Schlag 129,2 Mrd. $ Goodwill schuf. Weltrekord. Nach turbulenten Zeiten ist der Aktienkurs jetzt wieder dort, wo er damals, vor 24 Jahren, stand. Das Obligationenrating wurde seither in drei Schritten reduziert. Abgeschrieben wurden in der Zwischenzeit 44,4 Mrd. $, der Goodwill-Anteil am Eigenkapital von Vodafone beträgt aktuell immer noch 41%.

P.S. 2: Honi soit qui mal y pense

Jetzt kommt der Hammer: Moody’s und S&P, die zwei weltweit grössten Ratingagenturen für Firmen-Bonds, weisen in ihrer eigenen Bilanz 150% bzw. 90% Akquisitionsgoodwill pro Eigenkapital aus…

Jürg Lutz

Jürg Lutz ist Anleihenspezialist beim Schweizer Vermögensverwalter PK Assets, der auf die Anlage von Pensionskassengeldern spezialisiert ist. Er bezeichnet sich selbst als alten Hasen im Bondmarkt, was angesichts seiner dreissigjährigen Erfahrung in der Verwaltung von Anleihenportfolios nicht ganz abwegig ist. Der Bündner ist Vater von zwei Kindern und beseelt von der Vorstellung, bis zu seinem Ableben die Via Spluga, die entlang des alten Säumerpfades von Thusis ins italienische Chiavenna führt, mindestens hundert Mal zu wandern. Viel fehlt ihm bis zu diesem Ziel nicht mehr.

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