Mittwoch, November 27

Eigentlich sind die Renditen auf Staatsanleihen derzeit zu hoch. Die Zinswende dürfte beginnen, wenn der letzte Bulle aufgegeben hat.

Kennen Sie das, liebe Leserin, lieber Leser, wenn Sie Ihrem Kind erklären müssen, woraus Ihr Beruf besteht? Mit den zwei Alternativen einer einfachen Erklärung einerseits – und dem Risiko, vom Nachwuchs als Simpel betrachtet zu werden – und einer komplexeren, ausführlicheren Erklärung andererseits – mit dem Risiko, mit glasigen Augen angeschaut zu werden?

So geschehen bei einer Prüfungsvorbereitung mit meinem Sohn im Schulfach Ökonomie (Thema Zinsen, ausgerechnet), wobei ich die erste Variante gewählt habe, mit dem erwarteten Resultat. Der Zufall will es, dass demnächst das Quartalsultimo ansteht, meine Lieblingszeit, denn jetzt widme ich mich der Zinsanalyse. Das bedeutet rund eine Woche der inneren Einkehr und der Verdichtung aller während des Quartals gesammelten Researchmaterialien, Zeitungsartikel, Eindrücke und quantitativen Modelle.

Frucht des Konklaves ist jeweils eine detaillierte Lagebetrachtung, freigeschaltet auf unserer Homepage. Ich freue mich jedes Mal, etwas lernen zu dürfen. Es gibt also kaum eine bessere Gelegenheit, den Kern meiner Tätigkeit für alle Zeiten festzuhalten, auszuprinten und postum meinen Kindern übergeben zu lassen und zu hoffen, dass sie dannzumal verstehen, was ich in meinem Beruf gemacht habe. Ich hoffe, auch Sie dafür begeistern zu können.

Das Objekt der Betrachtung ist im Folgenden der 10-jährige amerikanische Staatsanleihenzins, der wichtigste Kapitalmarktzins der Welt: Er ist der Bulldozer, der in seiner Heckwelle die Performance aller anderer Zinsmärkte, aber auch die der Währungs- und Aktienmärkte («Aktien = Zinsen und Hoffnung») mit sich reisst.

Ausser, dass der Treasury-Zins sich aktuell auf hohem Niveau bewegt, ist dem Chart wenig Erhellendes zu entnehmen. Das ändert sich jedoch, wenn man diesen Zins in drei Komponenten aufspaltet und gesondert untersucht und zu interpretieren versucht:

Die drei Komponenten der Treasury-Rendite

  1. Leitzins: «Verankerung»
  2. Differenz zwischen 2-Jahreszins und dem Leitzins: «Leitzinserwartungen»
  3. Differenz zwischen 10-Jahreszins und 2-Jahreszins: «Konjunkturerwartungen»

Verankerung plus Leitzinserwartungen plus Konjunkturerwartungen summieren sich damit wieder zur Rendite des 10-jährigen Treasuries. Wir starten mit der

1. Leitzinsverankerung: Don’t Fight the Fed!

Den Zinsmarkt zusammen hält das Fed, die Notenbank der USA. Zwar ist der Lack der Neunzigerjahre abgeblättert, als der damalige Fed-Chef Alan Greenspan gottgleichen Status hatte («Maestro»), aber die Street Credibility der Notenbank ist intakt.

Das Fed ist der Reiter im Zins-Rodeo und bändigt das Biest (den Bondmarkt) meist mit eiserner Faust, und zwar mit dem Leitzins und der Guidance, verkörpert im Dot Plot (detaillierte Leitzinsprognose der Notenbankgouverneure) und der Rhetorik (einer Kakofonie einer Myriade von Notenbankern mit variablem Eitelkeitgehalt). Die Zeiten der kryptischen bis stummen Notenbanken («never explain, never apologize») ist definitiv vorbei.

Das Zins-Rodeo: Das immer wiederkehrende Muster

Wir lüften jetzt das Dickicht des Zinsmarktes, es wird etwas technisch, aber bleiben Sie bei mir: Die kürzeren Zinsen wie z.B. die 2-Jahreszinsen folgen relativ genau den Leitzinsen, wenn auch nicht komplett, die Korrelation liegt etwa bei 0,72. Bei den 10-Jahreszinsen ist die Wirkung der Leitzinsen immer noch beträchtlich, aber deutlich schwächer, d.h. die Verankerung durch die Leitzinsen ist etwas geringer. Die Korrelation liegt bei immer noch signifikanten 0,45.

Interessant ist, dass die Amplitude der Leitzinsen massiv höher ist als die der längerfristigen Obligationenrenditen: Der Reiter (Fed) springt im Rodeo höher und fällt tiefer als der Ochse (Bondmarkt). Die Leitzinsen über- und unterschiessen im Zyklus die Bondzinsen zum Teil beträchtlich. Dadurch, dass sich die Zinsen umso wilder bewegen, je kurzfristiger sie sind, setzt sich ein wunderschönes, immer wiederkehrendes Muster im Zinssystem durch, das sich in der Korrelation des Monats zeigt:

Sie stellt die Entwicklung der Leitzinsen der Steigung der Zinskurve gegenüber, in diesem Fall dargestellt als Differenz zwischen 10- und 2-Jahreszins. Das Muster ist auffallend und ungemein interessant: Rollierend über die jeweils vergangenen zwei Jahre berechnet ergibt sich seit 1990 ein Korrelationskoeffizient von im Durchschnitt -0,42 auf einer möglichen Skala von -1 bis +1 (-1 bedeutet: vollkommen gegenläufige Entwicklung, +1 steht für den perfekten Gleichlauf), das ist eine ausgeprägt negative Korrelation.

Und jetzt wird einiges klar:

Es ist normal und keineswegs überraschend, dass die Leitzinsen in der Aufwärtsbewegung höher steigen können als für alle anderen Laufzeiten (sogar der 30-Jahreszinsen) und andererseits in der Phase der Abwärtsbewegung auf absurd tiefe Niveaus fallen, die von den Kapitalmarktzinsen, also den Bonds, nie und nimmer erreicht werden.

Gegen Ende einer Aufwärtsphase im Zinszyklus sind Inversionen (die kurzen Sätze liegen über den langen Zinsen), wie wir sie heute erleben, etwas Normales, ja geradezu Erwartbares. Keine Sondersituation, kein Grund für Panik.

Derzeit sind wir in einem spannenden Moment im Zinszyklus: Schaut man auf den Dot Plot und die Rhetorik der US-Notenbank, sieht man, dass das Fed die Zinsen hoch behält – auch die langfristigen –, der Pivot, also die Zinswende, aber eingeleitet ist. Die Rhetorik ist aber noch genügend «hawkish» (sprich: warnend), dass der Kipppunkt für den Bondmarkt (vermutlich) noch nicht stattgefunden hat und das Bond-Rally folglich noch auf sich warten lässt.

2. Leitzinserwartungen:

Die 2-jährigen Obligationenzinsen liegen heute unter den Leitzinsen (Inversion). Der Markt geht also weiterhin davon aus, dass die Leitzinsen fallen werden, im Moment der Niederschrift dieses Memos um etwas mehr als 0,5 Prozentpunkte bis Januar 2025.

Diese Inversion ist zentral: Nur wenn die Notenbank die Zinsen in den nächsten zwei Jahren tiefer drückt als heute erwartet, profitiert man mit 2-Jahresobligationen gegenüber dem Geldmarkt, weil nur dann Kapitalgewinne anfallen, die über den im Vergleich zum Geldmarkt tieferen Coupon hinwegtrösten.

Ist dies gerechtfertigt? Was sagt unsere Analyse? Wir berücksichtigen über hundert Indikatoren aus verschiedenen Makrobereichen und konzentrieren uns auf die Prognose dreier zentraler Parameter für die US-Notenbank:

1. Teuerung: Wir sehen massive Bremsspuren im Inflationsrückgang wegen der faktischen Sperrung der Handelsroute durch das Gelbe Meer. Noch schlimmer: In zentralen Bausteinen wie im Housing und bei den Dienstleistungen geht die Disinflation zwar weiter, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Die Gesamt- und die Kerninflation fallen nicht mehr nachhaltig, sie scheinen ungünstigerweise oberhalb des Notenbankziels zu konsolidieren. Die Indikatoren, auf die das Fed schaut, werden sich künftig kaum noch verbessern, aber immerhin liegt die Kernrate der persönlichen Konsumsausgaben, der Core PCE Deflator, in der Nähe des Ziels. Genügt das für Zinsreduktionen?

2. Arbeitslosenrate: Die Firmen reagieren heute viel schneller auf die Konjunktur, der zeitliche Abstand zur aktuellen Konjunktur ist nur noch gering. Für diesen beschränkten Horizont prognostizieren wir einen leichten Anstieg der Arbeitslosenrate.

3. Lohnwachstum: Auch hier sagen unsere Indikatoren eine langsame Normalisierung in den nächsten Quartalen voraus, wir rechnen also mit einem graduellen Rückgang des Lohndrucks.

Für den Arbeitsmarkt insgesamt sehen wir somit eine quälend langsame Normalisierung. Die Richtung ist günstig für die Notenbank, das Tempo aber etwas gar zu langsam für Zinsschnitte noch im Herbst dieses Jahres. Dazu kommt das Abflachen der Disinflation. Es scheint, als ob der Markt die Gesamtwetterlage bei Konjunktur und Inflation sehr effizient verarbeitet und die Zinsphantasie eingedämmt hat.

3. Konjunkturerwartungen: Das Spezielle an der heutigen Situation

Eigentlich sollten wir uns heute am Drehpunkt des Zinszyklus befinden: Die Zinsen sind hoch, die Inflation fällt, die Realzinsen, also die Zinsen nach Abzug der Inflation, wirken toxisch auf die Wirtschaft, Teile des Bondmarkts wittern eine Lockerung der Notenbank, ein «Bull Steepening» (übersetzt: eine lukrative Phase fallender Bondzinsen, wobei die kurzfristigen Zinsen stärker fallen als die längeren) könnte die Gläubiger mit happigen Kapitalgewinnen belohnen. Der Drehbuch-Case gewissermassen.

Nur ist etwas Seltsames passiert, und zwar ein Bear Steepening, die langen Sätze stiegen also stärker als die kurzen. Anstatt dass die Notenbank verzweifelt mit Zinssenkungen versucht, die unausweichliche Rezession doch noch zu verhindern, steht sie still. Der Bondmarkt reagiert mit störrisch hohen Zinsen und preist ein No-Landing ein.

Was ist passiert? Trotz der hohen Realzinsen ist die Datenlage zu gemischt für eine klare Positionierung des Fed. Die expansive Fiskalpolitik, die Struktur der TIPS-Inflationserwartungen, die Entwicklung der Monatsveränderungen im Konsumentenpreisindex, das Vertrauen im Dienstleistungssektor sowie die Absenz von Stress an den Finanzmärkten hindern die Notenbank, offensiver für Zinsreduktionen einzustehen.

Die Vertreibung der Bullen

Die Situation ist eigentlich nicht haltbar. «Something’s gotta give», sagt der Angelsachse. Die Inversion der Zinskurven ist wacklig, denn eigentlich schadet sie allen, den Banken, dem Renommee der Notenbanker, der Wirtschaft und dem nervösen Carry Trader, der sich am kurzen Ende verschuldet, um am langen Ende zu investieren.

Und weil die Unsicherheit über den Fortgang des Zinsgeschehens fast maximal ist, erstaunt es nicht, dass beide Zinskurven, die kurze wie die lange, Richtung null streben – nicht, weil man von Zinsreduktionen überzeugt ist, sondern weil ein «negativer Carry» (sprich Verluste bei abgesicherten 10-Jahrespositionen) viele Bullen vertreibt. Folgerichtig erstaunt es nicht, dass sich der Markt dem «fairen Wert» unserer Modelle angeglichen hat:

Es passt ins gemischte Bild, dass die wichtigste Variable der Welt, das Wachstum der globalen Geldmenge M2, sich gut gehalten hat (mehr zu dieser Variable hier), die wichtigste Variable aus Asien aber abwärts zeigt (mehr dazu hier).

Die fünf wichtigsten Erkenntnisse der Zinsanalyse:

Erstens: Viele Carry-Trader sind einen langsamen Tod gestorben.

Zweitens und trotz allem: Für mich sieht der Treasury attraktiv aus. Wichtiger noch als meine Intuition eines eher abwärts gerichteten Wirtschaftsmomentums in den USA spricht der hohe Coupon für den Bond, nicht nur nominal, sondern insbesondere real.

Für das Verständnis: Inflationsprognosen machen Sinn, denn die Inflation hinkt der Wirtschaft hinterher. Zinsprognosen sind hingegen spekulativ, denn die Zinsen sind keine Folgefaktoren, und es gibt auch keine objektiven Vorläufer. Halten Sie sich lieber an Analysen, die Über- und Unterbewertungen finden.

Drittens: Wir verwenden für die Analyse der verschiedenen Bausteine in unseren Modellen insgesamt an die hundert Indikatoren. Sie sehen, es ist ein breites Argumentarium, das uns einiges an Vertrauen in unsere Prognosen liefert.

Viertens: Es kann immer etwas schieflaufen. Die Verteuerung des globalen Handels durch den Ausfall einer ganzen Handelsroute wegen der Huthi-Rebellen ist nur das aktuellste Beispiel.

Fünftens: Das Währungsrisiko des Dollars aus Sicht des Schweizer Anlegers besteht natürlich, und es erhöht sich vor allem im Falle sinkender Zinsen deutlich. Nur ist in diesem Falle die Chance historisch gesehen sehr hoch, dass die Kapitalgewinne der (langen!) Obligationen die Währungsverluste deutlich übertreffen werden.

Der Mehrwert des Analysten findet man (oder nicht) in der Konzeptionierung der Analyse – es führen verschiedene Wege nach Rom –, der Identifizierung, Bündelung und Gewichtung der Parameter und nicht zuletzt im effektiven Handeln nach Massgabe der Resultate.

Schwarze Wolken ziehen auf

Verschiedene wichtige Fragen verbleiben: Spielen die Staatsschulden bald wieder eine wichtigere Rolle? Ich verweise auf die überaus interessante Analyse von Mark Dittli. Bleibt die Inflation dauerhaft höher wegen Nearshoring, Klimakrisenbewältigung, Commodity-Superzyklus, Demografie, Fiskalexzessen, Krieg, Energie etc.? Wer soll all die Treasuries kaufen, wo sich die Chinesen und Japaner offensichtlich vom Acker machen? Andererseits: Gibt es einen besseren Hedge als Treasuries, wenn China Taiwan angreift?

Alles interessante Themen für einen künftigen Beitrag.

Post Scriptum I: Und die anderen Zinsen?

Sie mögen sich fragen, wo denn die Analyse der Bund- und «Eidgenossen»-Zinsen bleibt. Und Sie haben recht, natürlich analysieren wir auch diese Segmente. Aber halten Sie folgende Korrelationszahlen im Hinterkopf: Die Korrelation zwischen Treasury und Deutschem Bund liegt bei 0,8, diejenige zwischen Treasury und «Eidgenosse» bei 0,73 und diejenige zwischen Bund und «Eidgenosse» bei 0,89 (basierend auf Monatszahlen von 2008 bis heute).

Und das trotz verschiedenen Notenbanken, verschiedenen Konjunkturen, verschiedenen Inflationsraten, verschiedenen Problemen. Die Hälfte der Analyse für Schweizer Staatsanleihen ist mit der Analyse des Treasury-Marktes bereits erledigt.

Post Scriptum II: Habe ich Sie überzeugt?

Konnte ich Ihnen etwas von meinem Enthusiasmus rüberbringen? Wenn Sie bis hier gelesen haben, vielleicht schon. Das wäre bitter nötig, denn auch meine Tochter hat anlässlich des Zukunftstages in unserem Büro trotz detaillierten Erläuterungen die Nase gerümpft…

Jürg Lutz

Jürg Lutz ist Anleihenspezialist beim Schweizer Vermögensverwalter PK Assets, der auf die Anlage von Pensionskassengeldern spezialisiert ist. Er bezeichnet sich selbst als alten Hasen im Bondmarkt, was angesichts seiner dreissigjährigen Erfahrung in der Verwaltung von Anleihenportfolios nicht ganz abwegig ist. Der Bündner ist Vater von zwei Kindern und beseelt von der Vorstellung, bis zu seinem Ableben die Via Spluga, die entlang des alten Säumerpfades von Thusis ins italienische Chiavenna führt, mindestens hundert Mal zu wandern. Viel fehlt ihm bis zu diesem Ziel nicht mehr.

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