Freitag, April 18

Für seinen kontroversen neuen Film hat der spanische Regisseur den berühmtesten Torero der Welt begleitet. Nach dem Dreh wollte dieser den Künstler verklagen. Der Film sei zu brutal.

Ein grausamer, ein gewaltiger, eigentlich ein unzumutbarer Film: «Afternoons of Solitude» zeigt den Stierkampf aus nächster Nähe. In Grossaufnahme schnauft der gequälte Bulle, das Blut tropft ihm vom Leib, langsam erlischt das Licht in seinen Augen.

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Albert Serra seziert das umstrittene Spektakel in einer radikal formstrengen Inszenierung. Reduziert auf wenige Settings zeigt der Filmemacher den Star-Torero Andrés Roca Rey. Wir sehen ihn in der Limousine, schweissgebadet auf dem Weg zur Arena. Dort klebt die Kamera an dem Mann mit dem roten Tuch. Und auf dem Stier, der vor ihm verelendet. Grotesk geradezu das Bild von Rey zurück im luxuriösen Hotelzimmer, sein Kostüm mit Blut getränkt.

Der Dokumentarfilm versteht sich nicht als Anklage. Indem Serra, bekannt für den sphärischen Tropen-Thriller «Pacifiction», auch die pervertierte Schönheit der Darbietung betont, sorgt er für kontroverse Reaktionen. Der in Festivalkreisen verehrte Filmemacher ist eine schillernde Figur und gilt als schwierig. In einer kleinen Hotellobby in Nyon, wo «Afternoons of Solitude» am Filmfestival Visions du Réel gezeigt wird (Kinostart ist im August), erweist sich Serra allerdings als zugänglicher, lebhafter Gesprächspartner.

Herr Serra, erinnern Sie sich an Ihren ersten Besuch eines Stierkampfs?

Nicht an den ersten, aber als Kind war ich mehrmals bei Corridas. Ich wuchs auf dem Land auf, im Norden von Barcelona. Als ich sechs oder sieben Jahre alt war, nahm mich mein Vater zu Stierkämpfen mit, die in drittklassigen Arenen in der Gegend stattfanden. Mittlerweile ist Stierkampf in Katalonien verboten, und ich kann nachvollziehen, wenn Leute gegen die Corridas sind. Bevor ich diesen Film gemacht habe, bin ich vierzig Jahre lang nicht mehr hingegangen. Aber damals war es nichts Spezielles. Zu Hause haben wir jedes Jahr ein Schwein geschlachtet, am Wochenende Kaninchen. Von daher war Stierkampf keine grosse Sache.

Liess es Sie kalt?

Die Gewalt war jedenfalls nicht schockierend. Stierkämpfe waren auch immer Teil meiner Vorstellungswelt. Künstler haben sich damit auseinandergesetzt, es lief zur besten Sendezeit im Fernsehen. Später verfolgte ich es in der Zeitung. Die Journalisten, die darüber berichten, schreiben sehr gut. Sie verwenden eine barocke Sprache, mit vielen skurrilen Metaphern. Ich denke auch an den spanischen Schriftsteller José Bergamín, an Michel Leiris und Georges Bataille aus Frankreich: Es gibt all diese Autoren mit ihren verrückten Theorien über Gewalt und Stiere und Sex.

Nicht zu vergessen Hemingway, «Death in the Afternoon».

Ich komme einfach nicht dazu, es zu lesen. Ist es so gut, wie alle sagen? Hemingway hat ja so einen lakonischen Stil, sehr präzis.

Ja, wie Ihr Film. Er verwendet auch interessante Metaphern. Mit dem Stierkampf sei es wie Wein trinken, sagt Hemingway. Beim ersten Glas möge man es nicht, aber man ahne, ob man sich dafür begeistern werde oder nicht.

Eine gute Metapher. Vielleicht ist es beim Stierkampf nicht ganz so einfach wie beim Wein, aber man erkennt sofort, dass es nichts Vergleichbares gibt. Wein ist nicht Coca-Cola. Ja, ich verstehe die Analogie. Andererseits bin ich ziemlich tief in der Materie drin, wir haben ungefähr fünfzehn Corridas gefilmt, und ich muss schon sagen: Es ist auch ganz schön langweilig.

Stierkampf ist langweilig?

Ja, im Film sind die Kämpfe stark verdichtet. In Wahrheit ist es extrem redundant. Die meiste Zeit passiert nicht viel. Um einen glorreichen Moment zu erleben, einen Moment echter Magie, braucht es viel Sitzfleisch.

Was meinen Sie mit Magie?

Man sieht das im Film: wie der Kämpfer immer animalischer wird, wie er das Gesicht zu einer tierischen Fratze verzieht und knurrt wie ein Hund. Hingegen strahlt der Stier zunehmend eine Melancholie aus. Fast menschlich wirkt er dabei. Es macht dann gar nicht den Anschein, als würde der Stier leiden. Er gehorcht. Der Torero und er bewegen sich wie Figuren beim Tanz. Das ist die Magie. Eine Symbiose zwischen Mensch und Tier. Aber das ist selten.

Wie ist es normalerweise?

Der Stier ist aggressiv, der Torero muss sich verteidigen. Im Film hört man, wie die Kämpfer in solchen Fällen anfangen, den Stier zu beleidigen: «Hurensohn», schimpfen sie ihn. «Verbrecher! Krimineller!» Der arme Bulle! Er wird terrorisiert und dann auch noch als «Krimineller» beschimpft.

Andererseits kann es sein, dass der Torero schwer verletzt wird oder sogar ums Leben kommt. Bei manchen Szenen im Film bleibt einem fast das Herz stehen.

Natürlich, es ist eine lebensbedrohliche Show. Der Film zeigt, wie alles miteinander verbunden ist: die Schönheit, das Blut.

Wie meinen Sie das?

Er tut mir leid, aber es ist doch so: Die Kostüme der Kämpfer sind wunderschön, aber mit Blut befleckt, sind sie noch viel schöner. Blut ist etwas Schönes. Und das Blut kommt über die Gewalt, die Gewalt wiederum kommt vom Mut des Kämpfers. Sie ist kein Selbstzweck. Das sind keine gewalttätigen Menschen.

Wirklich nicht?

Nein. Die Toreros hassen den Moment, in dem sie den Stier töten müssen. Es ist auch der gefährlichste Moment, weil sie den Blickkontakt mit dem Stier kurz aufgeben müssen. Die Augen sind das Wichtigste, um das Verhalten des Stiers zu antizipieren. Aber in dem Moment, in dem der Torero das Tier töten muss, visiert er die Stelle auf dem Nacken an, wo er das Schwert hineinstechen muss.

In der Hotellobby springt Serra von der Couch auf und demonstriert, wie das abläuft: Er steht da, als würde er in der einen Hand die Muleta halten, den roten Stoff, und in der anderen, auf Augenhöhe, das Schwert. Er legt den Oberkörper nach vorne, um dann leicht von oben herab dem imaginären Stier in den Nacken zu stechen.

Je vertikaler der Hieb erfolgt, umso tiefer geht das Schwert. Den Stier von der Seite zu töten, würde zwar bedeuten, das Risiko zu minimieren. Aber das ist ein Zeichen von Feigheit. Das Publikum hasst das. Ausserdem erwischt man so die Lunge, dann erbricht der Stier viel Blut. Der Torero muss seinen Mut beweisen. Schon mehrere kamen in dieser Situation ums Leben. Es gibt den legendären Fall eines Toreros, der getötet wurde, als er gleichzeitig den Stier tötete. Er hatte seinen Stoss just in dem Moment vollführt, als ihn der Bulle erwischte. Nein, die Toreros möchten den Stier nicht umbringen, aber sie müssen. Das ist die Tradition.

Es erinnert an die Gladiatorenkämpfe.

Genau, und wie im römischen Zirkus dürstet das Publikum nach Blut. Das ist so. Man verliert seine Ehre, wenn man den Stier nicht tötet.

Kommt es vor, dass er nicht getötet wird?

Wenn der Stier besonders widerstandsfähig scheint, kann es sein, dass er verschont wird. Aber das ist sehr, sehr selten.

Was heisst widerstandsfähig?

Der Stier ist das einzige Tier, das nicht wegläuft, wenn es bestraft wird. Sondern es greift weiter an. Das ist eine genetische Besonderheit. Wenn ein Löwe realisiert, dass er keine Chance hat, weicht er zurück. Aber der Stier attackiert unverdrossen. Darin zeigt sich seine Noblesse. Er opfert sich. Er ist wie ein Soldat, der unbeirrt für seine Sache kämpft, auch wenn er verletzt ist. Erweist sich der Stier als besonders unnachgiebig, lässt man ihn leben und nutzt seinen Samen für die Fortpflanzung.

Andrés Roca Rey, der Torero im Film, ist ein Superstar. Man nennt ihn den «Messi der Matadore».

Er ist die Nummer eins. Tickets sind im Nu weg.

Was verdient so jemand?

In den grossen Arenen 250 000 Euro, vielleicht 300 000, pro Corrida. Bei kleinen Corridas macht er 60 000, 70 000. Ich schätze, dass er im Jahr 3, 4 Millionen Euro verdient.

Wie sind Sie an ihn herangekommen?

Anfangs wollten wir zwei Toreros einander gegenüberstellen. Aber er war der Fotogenere der beiden, der Rätselhaftere auch. Ich wusste nicht, was bei dem Film herauskommen würde. Klar war einzig, dass wir nichts über das Privatleben des Toreros machen würden. Das hat mich nicht interessiert. Genauso wenig wie das folkloristische Drumherum. Der soziologische Aspekt des Stierkampfs ist langweilig – verglichen mit der Intensität beim Kampf. Ich dachte: Lassen wir die Kamera die Arbeit machen. Wir werden schon sehen, ob etwas Interessantes herauskommt. Wir hatten dann viel Glück, weil uns Andrés Zugang zu allem verschaffte. Normalerweise achten diese Leute sehr auf ihre Privatsphäre. Sie haben Todesangst vor dem Kampf. Ich weiss selber nicht, wie es mir gelungen ist, Andrés zu überzeugen. Am Ende war er allerdings enttäuscht.

Vom Film?

Ja. Sehr. Er war richtig verärgert. Er hat uns sogar mit Anwälten gedroht.

Weshalb?

Zwei Gründe. Er findet den Film zu gewalttätig.

Machen Sie Witze? Der Stierkämpfer findet den Film zu brutal?

Ja, er könne dem Image der Corrida schaden, meinte er. Sonderbar, oder? Sein Argument ist wohl, dass die Gewalt zu viel Raum einnimmt. Ich hatte 700 Stunden Material. Ich hätte noch viel mehr Gewalt hineinpacken können. Mir schien es gut austariert. Jedenfalls hat er sich dann auch noch beschwert, dass er doch die Nummer eins der Stierkämpfer sei, aber im Film sehe man ihn zu selten triumphieren. Tja, in den Corridas, die wir gefilmt haben, war das nun einmal so. Es war ein unmöglicher Dialog, weil er in dem Film kein künstlerisches Werk erkannte; er betrachtete es als einen Film über sich und war einzig an seiner Darstellung interessiert.

Seine Eitelkeit kommt auch im Film deutlich rüber.

Er ist narzisstisch. Narzissmus ist ein zentrales Thema des Films. Wenn man als Torero in der Arena steht, hängt alles von den Gesten und Bewegungen ab. In der lebensbedrohlichen Situation entwickelt der Stierkämpfer einen ausgeprägten Exhibitionismus. Einerseits ist die Situation brandgefährlich, auf der anderen Seite strahlt der Torero Schönheit aus, Zartheit. Das Raffinement seiner Gesten: Es geht um Dominanz und Unterwerfung. Im Antlitz des wilden Tieres präsentiert der Torero seinen Körper.

Klingt fast sexuell.

Ja, wobei der Stier der Mann ist und der Torero die Frau. Die Kostüme unterstreichen dies, die Bewegungen auch. Der Stier muss verführt und gleichzeitig dominiert werden, aber mit Sensibilität, nicht mit Brutalität.

Würden Sie sagen, dass eine unterdrückte Homosexualität im Spiel ist?

Möglich. Der homoerotische Teil ist wichtig. In der französischen Literatur geht es immer in diese Richtung. Unter dem Kostüm trägt der Torero eine Strumpfhose. Auch die Schuhe sind sehr feminin. Wie Ballettschuhe.

Gleichzeitig ist die Sprache unter den Toreros sehr machohaft.

Alle Kämpfer waren mit Mikrofonen ausgestattet. Wir haben allerdings erst am Ende des Drehs die Tonspur überprüft, und da ist uns aufgefallen, dass alle ständig von «balls» reden: «Du hast grosse Eier.» – «Nein, du hast grosse Eier». Die Dialoge entwickeln eine unfreiwillige Komik. Aber es gibt auch schöne Sätze. Am zweitmeisten fällt das Wort «Wahrheit». Von der Wahrheit der Seele ist die Rede, der Wahrheit im Augenblick des Todes.

Und Sie fangen diesen Augenblick ein, wie man ihn noch nicht gesehen hat. Es ist eine Provokation. Sie zeigen in Nahaufnahme, wie das Leben aus den Augen des Stiers entweicht.

Wunderschön!

Sie finden das wunderschön?

Für mich drückt sich darin etwas sehr Zärtliches aus: Man sieht in den Augen des Tieres, wie das Leben entschwindet. Langsam erlischt es. Und dann bleibt nur Fleisch. Eine plumpe Masse von Fleisch, die aus der Arena geschleift wird. So ergeht es uns doch auch. Das ist die Wahrheit des Lebens, das ist das Ende. Ich finde das sehr berührend.

Das Dokumentarfilmfestival Visions du Réel in Nyon dauert noch bis 13. April.

Afternoons of Solitude (Tardes de soledad) von Albert Serra - Trailer

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