Samstag, März 15

Die Betreuung von gebrechlichen Rentnern daheim ist ein Riesengeschäft. Ein Unternehmen verkauft seine Dienstleistungen mit falschen Versprechen.

Anfang Januar bekommt Nina Müller* eine E-Mail von einer privaten Spitex-Firma aus dem Kanton Zürich. Es geht um Nina Müllers Mutter Ilse*, die im Kanton Bern wohnt. Die Seniorin ist gesundheitlich stark angeschlagen und braucht wie schon in den vergangenen Monaten Unterstützung, um daheimbleiben zu können. Jetzt geht es um ein palliatives Setting, Ilse Müller wird nicht mehr lange leben. Die Firma bietet für die 73-Jährige eine aufwendige Betreuung mit mehr als sieben verrechneten Stunden pro Tag an, dies für drei verschiedene Arten von Pflegeleistungen. Das hat seinen Preis: rund 14 000 Franken für vier Wochen.

Doch die Geschäftsführerin der Firma hat beruhigende Nachrichten: Die Leistungen würden Frau Müller «nach der Prüfung durch die Krankenkasse von dieser entsprechend dem realen Pflegeaufwand» rückerstattet. «Es braucht also niemand von Ihnen Angst zu haben, dass die Betreuung zu Hause für die Familie viel mehr kostet als die sowieso obligatorische Patientenbeteiligung oder die von mir prognostizierten 1500 Franken Eigenleistung pro Monat.» Damit bestätigt die Geschäftsführerin schriftlich Aussagen, die sie zuvor gegenüber der Familie mündlich gemacht hat – beim Beginn des Vertragsverhältnisses Ende November.

Dass dies falsche Versprechen sind, muss der Frau in diesem Moment bewusst sein. Die Krankenkasse wird den Betrag nicht begleichen. Denn die Grundversicherung deckt lediglich Pflegeleistungen im engeren Sinn ab. Was Frau Müller jedoch bekommt, sind Leistungen der Betreuung und der Haushalthilfe – also Unterstützung bei der Körperhygiene, beim Einkaufen oder Putzen. Solche Leistungen sind nicht kassenpflichtig, die Patienten müssen sie grösstenteils selbst bezahlen.

Keine fundierte Pflegeausbildung

Ohnehin ist das Vorgehen der Firma verdächtig. Sie legt der Familie ein Formular vor, auf dem eine Hausärztin pflegerische Leistungen angeordnet haben soll – doch es fehlt die Unterschrift der Medizinerin. Selbst wenn diese die Pflege angeordnet hätte, wäre fraglich, ob die Krankenkasse dafür bezahlen würde. Denn die Zürcher Firma hat gar keine Betriebsbewilligung für Pflegeleistungen im Kanton Bern, wie aus dem Vertrag hervorgeht, den Müllers Familie unterschrieben hat. Und die Betreuerin, die bei Ilse Müller eingezogen ist und sich um sie kümmert, hat laut Angaben der Familie lediglich eine pflegerische Grundausbildung. Sie stammt aus Polen und war vorher in der Gastronomie tätig.

Die 24-Stunden-Betreuung von Seniorinnen und Senioren daheim ist in der Schweiz bereits heute ein Milliardenmarkt, in dem sich über hundert mehr oder weniger seriöse Firmen tummeln. Und der Markt dürfte weiter wachsen: Die Babyboomer kommen in den nächsten Jahren in ein Alter, in dem viele von ihnen auf Unterstützung angewiesen sind. Und für diese Generation ist Autonomie ein so wichtiger Wert, dass ein grosser Teil der Senioren möglichst lange in den eigenen vier Wänden bleiben möchte.

Die Betreuung übernehmen häufig Frauen aus Ostdeutschland, Österreich, Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien. Sie kommen für ein paar Monate in die Schweiz und werden im Haus der pflegebedürftigen Person einquartiert. Sie stehen für ein paar tausend Franken praktisch rund um die Uhr auf Abruf parat und haben kaum Freizeit – entsprechend kritisch sehen die Gewerkschaften solche Anstellungsverhältnisse. Aber für die sogenannten Pendelmigrantinnen scheint die Rechnung aufzugehen, weil sie in den paar Wochen in der Schweiz deutlich mehr verdienen als in der Heimat. Und in der Zeit auch wenig Ausgaben haben.

Konkurrenten sind vorsichtiger

Dass eine Firma solche Dienstleistungen als «Pflege» bezeichnet und behauptet, die Grundversicherung komme dafür auf, ist in der Branche eine Ausnahme. Der Marktführer Home Instead schreibt vorsichtig, bei einer «Live-in-Betreuung» sei eine Kostenbeteiligung der Krankenkasse «möglich».

Bei der Swica, der Versicherung von Ilse Müller, heisst es, die Problematik sei bekannt. Allerdings könne man zu konkreten Einzelfällen keine Auskunft geben. Die Groupe Mutuel schreibt auf Anfrage, sie habe letztes Jahr zwei Fälle gehabt, in denen ein Dienstleister versucht habe, Prämiengelder zu bekommen für «Pflegeleistungen», die in Tatsache Betreuungsleistungen gewesen seien. «Das Ausmass hält sich für den Moment in Grenzen, wir werden hierauf aber weiterhin achtgeben», sagt die Sprecherin Lisa Flückiger.

Besorgt durch solche Geschäftsmodelle zeigt sich die Aargauer SVP-Nationalrätin Martina Bircher, die den Fall aus ihrer Verwandtschaft kennt. Sie möchte in der kommenden Frühjahrssession einen Vorstoss einreichen, mit dem Ziel, dass der Bundesrat einen Bericht zu dem Phänomen erstellen muss. «Da im Volksmund der Unterschied zwischen Pflege und Betreuung oftmals nicht klar ist, gaukeln die Organisationen den Betroffenen vor, dass alle Kosten durch die Kranken- oder die Sozialversicherungen getragen würden», sagt Bircher.

Auf Zeit spielen

Sie hat den Verdacht, dass Firmen, die diese Masche anwenden, bewusst auf Zeit spielen. Es dauert immer ein paar Wochen, bis es die Krankenkasse ablehnt, die Rechnung zu bezahlen. Dann, so glaubt Bircher, behaupte die Firma wohl einfach, dass die Haushaltshilfe von den Ergänzungsleistungen (EL) bezahlt werde – doch die maximal 4800 Franken, welche die EL pro Jahr für Haushalthilfen zur Verfügung stellen, würden bei den Tarifen einer Firma wie jener aus dem Kanton Zürich von über 400 Franken pro Tag nur für knapp zwei Wochen reichen.

Und auch die Prüfung eines solchen Antrags für zusätzliche Ergänzungsleistungen dauert laut Bircher, die im Aarburger Stadtrat für das Sozial- und Gesundheitsressort zuständig ist, mehrere Wochen. «Der betagten Person, die den Versprechungen der Spitex-Firma geglaubt hat, sind bis dann schon Schulden von Zehntausenden von Franken entstanden», sagt sie. Im schlimmsten Fall drohe, falls vorhanden, eine Pfändung des Eigenheims.

Als die Familie von Ilse Müller Verdacht schöpfte, dass bei der Spitex-Firma etwas faul sein könnte, kündigte sie den Vertrag. Kurz darauf starb die Patientin. Ihre Angehörigen haben mittlerweile zwei Rechnungen für die sechs Wochen erhalten, in denen die Betreuerin bei Ilse Müller tätig war. Der gesamte Betrag beläuft sich auf rund 24 000 Franken. Auf den Rechnungen sind die Leistungen korrekt ausgewiesen – als Haushaltshilfe, Betreuung sowie als Rufbereitschaft in der Nacht. Doch das nützt der Familie nichts. Sie erwägt, die Rechnungen nicht zu bezahlen und es – nach einer allfälligen Betreibung – auf eine juristische Ausmarchung ankommen zu lassen, wie ein Sohn von Ilse Müller sagt.

«Wir täuschen keine Kunden»

Bei der Zürcher Gesundheitsdirektion heisst es auf Anfrage, man habe Kenntnis von der Dübendorfer Firma, und das Amt für Gesundheit habe im Rahmen seiner Zuständigkeit entsprechende Abklärungen eingeleitet.

Die Geschäftsführerin der Spitex-Firma selbst sagt auf Anfrage, sie könne sich zum Fall von Ilse Müller nicht äussern, weil ihre Angehörigen sie nicht von der Schweigepflicht entbunden hätten. Die Geschäftsführerin sagt aber generell: «Wir machen keine Versprechungen und täuschen schon gar nicht unsere Kunden. Wir sind gegenüber unseren Patientinnen und Patienten immer sehr transparent bezüglich der zu erwartenden Kosten.» Bei ausserkantonalen Spitex-Leistungen sei es jeweils an der betroffenen Familie, die Kostenübernahme durch die Krankenkasse abzuklären.

* Namen von der Redaktion geändert.

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