Mittwoch, Oktober 9


Cityporträt

Seit Abba vor 50 Jahren den Eurovision Song Contest in Brighton gewann, feiert die englische Küstenstadt sich mehr denn je – ruht sich aber nicht auf diesem Erbe aus.

Wonach Brighton riecht? Nancy Meiland legt den Kopf kurz schief, um nach dem Bruchteil einer Sekunde zu antworten: «Nach der See, nach Donuts und nach Fish and Chips.» Sie muss es wissen: Die Engländerin, blondes Haar auf dem Kopf und blauer Batik-Sweater am Körper, ist Parfümeurin. Vor zwei Jahren eröffnete sie in Brighton das nach ihr benannte Geschäft «Nancy Meiland Parfums». In einer der «Lanes», kleine Gassen, in denen im 16. Jahrhundert die Fischer wohnten. Damals hiess der Ort noch Brighthelmstone, und der Geruch von Dorsch und Aal hing in der Luft, das Eau de Cologne des Meeres.

Längst sind die alten Fischer-Cottages verschwunden, mitgerissen vom Sog der Gezeiten. Der Charme des Viertels aber ist geblieben: In die historischen Häuser sind Boutiquen und Cafés gezogen, in den Schaufenstern der Juweliere funkeln Diamanten und Saphire. Tiefblau wie der Atlantik, der nur wenige Meter entfernt seine Wellen ans Ufer wirft.

In den Regalen von Nancy Meilands Laden stehen elf von ihr kreierte Düfte. Hergestellt aus recycelten Ölen, hundert Prozent natürlich und vegan. Ein bunter Mix an Inhaltsstoffen, genauso eklektisch wie die Menschen, die es nach Brighton zieht. Zwar wird das Küstenstädtchen im Süden Englands aufgrund seiner Nähe zur Hauptstadt – der Zug braucht nur eine Stunde von der Victoria Station bis ans Meer – auch «Badewanne Londons» genannt. Weil die gestressten Grossstädter am Wochenende in Scharen anreisen, um am Kieselstrand Anzug gegen Badehose zu tauschen. Meiland findet den Vergleich zu Kalifornien aber passender: «Brighton ist für mich das Los Angeles von England. Voll von Kreativen, die sich hier ihre Wünsche erfüllen wollen.»

Abba machte die Stadt vor 50 Jahren berühmt

Einer der vielleicht grössten manifestierte sich vor genau fünfzig Jahren. Wurde Realität für vier unbekannte Schweden, deren «Waterloo» sich nicht als krachende Niederlage entpuppte, sondern als Startschuss für eine internationale Karriere. Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid? Bevor das singende Quartett am 6. April 1974 beim Eurovision Song Contest die Bühne des Brighton Dome betrat, waren «ABBA» nur vier Buchstaben, hatte kaum jemand von der Band gehört, die zu einer der erfolgreichsten der Welt werden sollte. Jacqueline Shevlin, damals 15 Jahre jung, erinnert sich genau an den Moment, als sie Abba zum ersten Mal sah.

Die vier Musiker stiegen aus dem Fahrstuhl, und ihr war klar: Die werden siegen! «Sie hatten das Wort ‹Gewinner› quasi auf der Stirn stehen», erzählt die heute 65-Jährige. «Sie trugen Pailletten und Samt, in den buntesten Farben. Zuvor hatte ich noch nie einen Mann in silberglänzenden Plateauschuhen gesehen. Wie alle anderen war ich fasziniert. Die Musiker sahen aus, als wären sie dem Raumschiff Enterprise entstiegen.»

Überhaupt: «Dass so ein Event in unserer Heimatstadt stattfand, war surreal.» Als das Lied «Waterloo» zwei Tage später die Charts stürmte und in elf Ländern zum Nummer-eins-Hit avancierte, wollten Jacquelines Klassenkameraden ihr nicht glauben, dass sie live beim Eurovision Song Contest dabei gewesen war, im Publikum gesessen hatte, in einem Brautjungfernkleid zwischen lauter schwarzen Anzügen und glänzenden Abendroben. Lautete der Dresscode des Fernsehsenders BBC für die Gäste doch «Black Tie».

ABBA - Waterloo (Eurovision Song Contest 1974 First Performance)

Wie ein Teenager es in den Saal schaffte, in dem – ganz anders als heute – vorrangig Menschen mit grauen Haaren Beifall klatschten? «Mein Vater Peter O’Byrne war der offizielle Fotograf der Hotels in Brighton. Jeden Abend fuhr er in die Stadt und fotografierte Hochzeiten, Feiern, Konzerte. Natürlich auch den ESC. So konnte ich auch bei der Aftershow-Party dabei sein und ein Autogramm von Abba ergattern.»

Zwischen Luxus und altem Seeräuber-Erbe

Bis der Eurovision Song Contest, der grösste Musikwettbewerb der Welt, Brighton selbst über Nacht zum Star machte, war die Stadt vor allem als Konferenzzentrum bekannt. «In den 1960ern und 1970ern kamen fast alle Politiker und Politikerinnen nach Brighton», erzählt Shevlin. Auch die einstige Premierministerin Margaret Thatcher, die im Hotel «The Grand Brighton» 1984 beinahe einem Anschlag zum Opfer fiel. Die Bombe der IRA liess einen Teil des Gebäudes zusammenfallen – heute strahlt die viktorianische Fassade wieder butterfarben im Sonnenschein, als sei nichts gewesen.

Vor der Drehtür sind Lamborghinis und Porsches parkiert, im Restaurant «Cyan» gabeln Einheimische und Touristen ihren Sunday Roast auf. Das 5-Sterne-Hotel liegt zwischen dem Stadtteil Hove und dem legendären Brighton Palace Pier, auf dem Karussells, einarmige Banditen und Tarotkartenleser den Zauber von alten Wanderzirkussen hervorrufen, ohne zu wandern. 1997 wurde Hove mit Brighton zur Stadt «Brighton and Hove» zusammengelegt – in «einer feindlichen Übernahme», wie viele Einwohner sich immer noch entrüsten. «Die Leute in Hove betonen stets, dass sie hier wohnen und nicht in Brighton», sagt Giacomo Francia schmunzelnd.

Der Hamburger mit italienischen Wurzeln ist Geschäftsführer des Bistros «Oeuf». Das Türkis der Holztür erinnert verdächtig an die berühmten Ladurée-Boutiquen, in denen Macarons die Zunge und das Leben versüssen. Französischer Chic an der englischen See. Die Inhaberin Amber Sterck habe sich inspirieren lassen, gibt Francia offen zu. Findig waren in Brighton eben nicht nur die Seeräuber. «Amber hat ‹Oeuf› im Oktober 2020 eröffnet. Während des Lockdowns haben viele Geschäfte in Brighton aufgemacht, man hat Unterstützung vom Staat bekommen. Trotz seiner Historie ist es eine sehr junge Stadt.»

Einer der jüngsten Neuzugänge ist das «Brighton Beach House», der erste Ableger des Mitgliederklubs «Soho House» am Meer. Nur das Trottoir und der breite Veloweg trennen die Sonnenterrasse vom Ärmelkanal, aus dessen kühlem Wasser das ganze Jahr über Köpfe herausragen, zwischen Paddelbooten und Kajaks.

Kunst und Kulinarik

Im November hat die Restaurantgruppe Dishoom mit dem «Permit Room» eines der derzeit angesagtesten Restaurants eröffnet – was etwas heissen will, denn gute Bars und Lokale listet der «Brighton Restaurants Guide» etliche auf. Was auffällt: Es sind besonders viele vegetarische und vegane dabei. Das schummrige Interieur des «Permit Room» soll an das Bombay der 1970er Jahre erinnern. Es war die Zeit, als junge Rucksackreisende auf dem legendären «Hippie Trail» nach Indien reisten.

In England setzte sich die Aufbruchsstimmung der Swinging Sixties in einer Punkwelle fort, die nach ganz Europa schwappte. Vom rauen Charme des Jahrzehnts ist in der englischen Hauptstadt kaum noch etwas zu spüren. Ganz anders in Brighton: Vor allem am Wochenende hat man das Gefühl, durch eine Miniaturversion von London zu laufen – bevor die Fassaden zu glänzen begannen und Camden Town kommerzialisiert wurde. Junge Männer und Frauen mit «Doc Martens» an den Füssen und Boas um den Hals flanieren neben Grunge-Jüngern mit schwarz umrandeten Augen durch die Strassen, diesen Catwalk des Alltags.

«Ich liebe es, wie einzigartig die Menschen in dieser Stadt sind», sagt Eden Maseyk, Co-Inhaberin der Galerie Helm. Im September vergangenes Jahr eröffnete sie gemeinsam mit ihrem Geschäftspartner Luke Davis den Kunst-Hub, der auf zwei Stockwerken zeitgenössische Kunstwerke zeigt, zuletzt die Solo-Show der Künstlerin Margo aus Margate.

«Ich bin in Brighton geboren und aufgewachsen, mein Vater war Graffitikünstler. Die Stadt war schon immer ein kreatives Zentrum, es gab eine gewaltige Street-Art-Szene», erzählt Maseyk und zeigt auf die gegenüberliegende Strassenseite. «Alle Fassaden in der Kensington Street waren früher bemalt.» Die Strasse gehört zum Quartier North Laine, wo Dame Anita Roddick 1976 The Body Shop gründete. Das Kosmetikunternehmen steht heute vor der Insolvenz, im North Laine pulsiert das Leben hingegen immer noch.

Die Häuser sind marshmallowrosa, kanarienvogelgelb und himmelblau gestrichen, vor den Türen der Geschäfte beugen sich Sprachschüler und Touristen über Tische mit Porzellan, Vintage-Shirts und Schallplatten. Genau 365 unabhängige Läden gibt es im North Laine, einen für jeden Tag des Jahres. «Brighton wird zunehmend populärer; dabei sind viele Elemente noch dieselben, die Stadt hat so eine gute Energie», findet die Kuratorin Maseyk. Dazu trägt auch die grosse LGBTQIA+-Community bei, die Brighton den inoffiziellen Titel als «Gay Capital» Grossbritanniens eingetragen hat. «Brighton ist eine Blase, in der jeder so sein kann, wie er möchte.» Jeweils Anfang August findet das «Brighton & Hove Pride»-Festival statt, das grösste des Landes. Mehr als 300 000 Menschen strömen dann nach Brighton und verdoppeln die Einwohnerzahl auf einen Schlag.

Gesungen und getanzt wird aber das ganze Jahr über, kommen doch auch Musiklegenden wie Nick Cave, Alison Moyet, The Kooks oder Fatboy Slim aus Brighton oder leben hier. «Es finden so viele Konzerte statt. Ich habe schon Rod Stewart nach einem Auftritt durch die Lanes laufen sehen», erzählt die Abba-Bewunderin Jacqueline Shelvin. Neben «Waterloo» feiert übrigens noch ein anderes Lied dieses Jahr sein 50-Jahr-Jubiläum: «Brighton Rock» von Queen. Der Song erzählt die Liebesgeschichte von Jenny und Jimmy, die sich an einem Feiertag in Brighton ineinander verknallen. Ihre Romanze endete unglücklich – die mit Brighton dauert bis heute an.

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