Dienstag, August 19

Eine Entdeckungsreise in die rätselhafte Welt unter Wasser: Der Schweizer Shootingstar entführt in die schattenhaften Tiefen der Meere – an das Ende der Welt, das zugleich deren ursprünglichster Anfang ist.

Er lebt in Berlin und ist noch keine vierzig. Die legendäre Klubszene der deutschen Hauptstadt kennt er von innen. Und weiss um das Gefühl, sich im wummernden Beat des Techno und im Blitzgewitter der Stroboskope aufzulösen. Der französisch-schweizerische Künstler Julian Charrière (geb. 1987) hat selber einmal einen Rave organisiert: mitten in Südostasiens Palmölplantagen.

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Die Kamera gleitet zu hypnotisierenden Naturgeräuschen und stampfenden Techno-Bässen durch das Dickicht endlos anmutender Baumreihen. Im Dunst flackernde Lichter verwandeln den tropischen Palmenhain in eine schwindelerregende Partyzone. Die nächtliche Stimmung wirkt dystopisch, denn die tanzenden Menschen fehlen.

«An Invitation to Disappear» – eine Einladung zum Verschwinden – heisst das Video von 2018. Seitdem hat Charrière diese Spur des Verschwindens weiterverfolgt: «Ich möchte, dass man sich verloren fühlt. Nur wer verloren ist, kann seinen Weg finden», hat er in einem Filmporträt gesagt. Charrière bezeichnet die Kunst oder genauer eine Kunstausstellung als den vielleicht letzten Ort, an dem man sich noch einem Gefühl von Verlorenheit hingeben könne, weil man dort kaum je direkte Antworten erhalte auf die Fragen des Lebens.

Eine Welt des Hörens

Verloren im buchstäblichen Sinn fühlt man sich in seiner jüngsten Ausstellung – einer der grössten, die der Schweizer Shootingstar der Gegenwartskunst in den letzten Jahren rund um den Globus ausgerichtet hat. Im Museum Tinguely in Basel taucht man ab in eine einzige Dunkelkammer der Selbstauflösung. Alles ist schwarz, und ausgerechnet in einem Museum gibt es erst einmal kaum etwas zu sehen. Man ist angewiesen auf den Gehörsinn. Und was einem zu Ohren kommt, sind die Geräusche aus der Tiefe der Ozeane.

In «Midnight Zone» – Mitternachtszone, so der Titel der Schau – verliert man das Gefühl für Raum und Zeit. Wo das zur Rationalisierung neigende Auge sich nicht an Objekten orientieren kann, taumelt man in einem akustischen Fluidum. Der Künstler versetzt einen Äonen zurück an den Ursprung allen Lebens, das einst den Weltmeeren entstieg. «Wasser ist keine Landschaft – es ist die Voraussetzung allen Lebens, die erste Aussenhaut der Erde, das Medium unseres Werdens», sagt Julian Charrière über das Meer.

«Midnight Zone» bezeichnet im Allgemeinen eine unterseeische Zone in einer Tiefe zwischen tausend und dreitausend Metern und umfasst das grösste Ökosystem der Welt. Während sich auf der Erdoberfläche das Leben in zwei Dimensionen, auf dem Boden und in der Luft, abspielt, kommt in diesen Tiefen von unglaublichen Volumen eine weitere Dimension hinzu.

Licht gibt es keines in der Tiefsee, das Auge fällt aus. Es gibt lediglich Biolumineszenz – die Fähigkeit von Lebewesen, ein sogenannt kaltes Leuchten zu erzeugen. Organismen im Meer nutzen diesen Prozess für Zwecke der Kommunikation, das Anlocken von Beute oder zur Abschreckung von Feinden. Sonst aber ist die Tiefsee eine Welt des Hörens.

Julian Charrières Sound-Installation setzt sich durch die ganze Ausstellung fort. Zum Klang von Korallenriffen kommen allmählich immer lauter werdende Geräusche hinzu, die menschengemacht sind und das marine Ökosystem stören: Motoren von Containerschiffen, Detonationen von Luftdruckkanonen, die für die Suche nach fossilen Brennstoffen eingesetzt werden, aber auch die Geräusche von Sonarimpulsgeräten und Echoloten, wie sie die Hochseenavigation verwendet, schliesslich das Brummen der küstennahen Windpärke. Schall unter Wasser pflanzt sich viermal schneller fort und reicht um vieles weiter als in der Luft.

Wie es in den dunkelsten Regionen der Ozeane, in sechstausend Metern Tiefe unter der Meeresoberfläche, tönt, vermittelt die Sound-Installation «Black Smoker» (2025) in einem nachtschwarzen Raum der Ausstellung. Charrière konnte die Feldaufnahmen von Tiefsee-Hydrofonen der Forschung verwenden, aber auch Live-Daten seismischer Messstationen an einigen der bewegtesten Punkte am Meeresboden streamen: das knisternde Zischen von Ausdünstungen unterirdischer Gase aus hydrothermalen Schloten (deshalb der Titel «Black Smoker»), das kehlige Brummen des Magmas von vulkanischen Ausbrüchen, das dumpfe Hämmern von Gestein bei tektonischen Prozessen.

Charrière mischte diese Geräusche zu einer mehrdimensionalen Klangkomposition zusammen. Wobei der Boden des Installationsraums ein einziger Lautsprecher ist. Dies macht vor allem auch körperlich erfahrbar, wie sich der Chor uralter geologischer Laute und Stimmen unter dem unermesslichen atmosphärischen Druck, bei sengender Hitze und in immerwährendem Schatten der Tiefsee vernehmen lässt: Das Gerumpel in den Eingeweiden der Erde überträgt sich direkt auf das Bauchgefühl – ein Rave der anderen Art.

Abgetrennt von der Welt

Der Künstler ist selbst ein passionierter Taucher. Das Abtauchen und die Vereinigung mit dem Element des Wassers ziehen sich wie ein Leitmotiv durch seine Schau. Und plötzlich gibt es etwas zu sehen: Aus einem der dunklen Räume tauchen Fotografien auf, die Charrière in Mexiko mit Freitauchern (ohne Sauerstoffflaschen) gemacht hat. Der Tauchgang erfolgte in unterseeischen Höhlensystemen (Cenoten) mit Chemoklinen, also stabilen Wasserschichten von unterschiedlichem Gehalt an gelösten Feststoffen.

Die nackten Körper der Taucher – eine Frau und ein Mann – auf diesen kosmologisch anmutenden Aufnahmen schweben gleichsam schwerelos in einem scheinbar milchig nebligen, verwolkten Himmelsraum, hervorgerufen durch schwefelhaltige Wasserschichten. Charrière ist ein Meister der Inszenierung von Licht und Dunkelheit. Die Fotoserie mit dem Titel «Where Waters Meet» erinnert an William Turners Lichtstimmungen oder auch an Hieronymus Boschs «Aufstieg in das himmlische Paradies» mit nackten, von Engeln geleiteten Seligen.

Nicht zuletzt vermitteln diese Bilder, was Sigmund Freud als das ozeanische Gefühl bezeichnete: jenen intensiven Zustand des Einsseins mit der Welt, der mit der Erfahrung einer Auflösung der Ich-Grenzen einhergeht. Im Wasser findet der Mensch nicht nur zu seinem evolutionären Ursprung zurück, sondern gleichsam auch zur vorgeburtlichen Existenz in der Fruchtblase des Mutterleibs.

Der Mensch baue indes immer mehr Barrieren um sich, mit welchen er sich von der Welt abnable und zugleich den Zugang zu ihr verstelle, meint der Künstler: «Die allererste Barriere ist die Sprache», sagt Charrière. «Wenn man über die Umwelt spricht, dann suggeriert das, dass wir getrennt sind von ihr und nicht ein Teil dieser Welt. Da sind wir, und dort ist das grosse Draussen.»

Mit den Mitteln der Kunst sucht Charrière den Weg zurück zu finden, verweist mit seinen Arbeiten aber auch auf die Hindernisse. Etwa, wenn er auf einer stylischen schwarzen Corbusier-Liege eine Taucherausrüstung arrangiert. In «Calypso» (2019) hat er die Tauchermaske passend zum Chromstahl der Chaiselongue versilbert. So ist es unmöglich hindurchzusehen. Diese Arbeit bringt zum Ausdruck, dass man beim Abtauchen mit dieser Maske auf der Freudschen Couch in die Tiefen des Unterbewussten nur immer das eigene Spiegelbild erblickt und ein Gefangener im Ich-Kerker bleibt, anstatt im kollektiven Unendlichen die grosse Freiheit zu finden.

Dieses Ich-Wesen, das der Mensch ist und das ihn als Mängelwesen und zugleich technologisch hochgerüsteten Prothesengott entlarvt, ist gerade dabei, die letzten unberührten Tiefen der Meere zu erobern. Charrières Arbeiten sollen auch daran erinnern: Während er stets einen sinnlichen Zugang zu den Naturphänomenen sucht, die er beschreibt – «Kunst ist nicht Wissenschaft», betont er –, verfolgt er eine kritische Auseinandersetzung mit den Eingriffen des Menschen in die Natur. Der Katalog zu dieser Ausstellung liefert mit seinen wissenschaftlichen Beiträgen zur Tiefsee den Kontext zu Charrières künstlerischer Arbeit.

«Die Kunst kann die Trennung des Menschen von der Welt vielleicht ein bisschen transzendieren und uns helfen, wieder in sie einzusinken», sagt Charrière. Bis zu einem gewissen Grad möglich macht das seine Videoinstallation mit dem Titel der Ausstellung, «Midnight Zone» (2024). Für diese atemberaubend schöne Arbeit liess Charrière an einem Seil eine Fresnel-Leuchtturmlampe, wie sie im 19. Jahrhundert entwickelt wurden, um Licht möglichst weit zu transportieren, tausend Meter tief in die Clarion-Clipperton-Zone im Zentralpazifik hinab. Dafür war eine spezielle Konstruktion aus Plexiglas erforderlich, damit die Linse dem enormen Druck der Meerestiefen standhält.

Der Bereich ist eines der letzten weitgehend unerforschten Ökosysteme sowie das Habitat teilweise unentdeckter Lebensformen. Zugleich hat diese Tiefseezone erhebliches wirtschaftliches Potenzial. Am Meeresboden wachsen Knollen mit wertvollen Metallen wie Nickel, Kobalt, Kupfer und Mangan – wichtigen Materialien für Batterien und Technologien erneuerbarer Energieträger. Der Tiefseebergbau zöge dort unumkehrbare Zerstörungen von Lebensraum nach sich. Noch rechnet es sich in wirtschaftlicher Hinsicht nicht, Rohstoffe in diesen enormen Tiefen auszubeuten.

In seiner Videoarbeit richtet Charrière indes seinen Blick nicht auf die Rohstoffe, sondern auf die schillernde Welt der Lebensformen. Das Licht seiner Fresnel-Linse, die von einer Kameradrohne umkreist wird, zieht die unterschiedlichsten Meeresbewohner an.

Als Betrachter dieser Kreisbewegungen wird man Teil eines Reigens seltener biolumineszenter Fische, ganzer Schwärme von Sardinen und Gruppen von Haien – eine einzige schwerelose Choreografie aus Wasser, Licht und ozeanischem Leben.

«Julian Charrière. Midnight Zone», Museum Tinguely, bis 2. November. Katalog: Fr. 45.–.

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