Samstag, November 23

Melancholie ist kennzeichnend für das irische Gemüt, und wer Irland besucht, reist ja nicht zur «sunny side of life». Oder vielleicht doch?

Es ist schon ein paar Jährchen her. Die irische Fussball-Nationalmannschaft liegt gegen die Tika-Taka-Spanier hoffnungslos 0:4 im Rückstand, als kurz vor Schluss, in der 87. Spielminute, die irischen Fans aus voller Brust «Fields of Athenry» anstimmen. Die Hälfte der 40 000 Zuschauer im Danziger Stadion bei der EM 2012 sind Iren. Die spanischen Fans haben angesichts dieses gewaltigen irischen Chors ihre eigenen Fangesänge eingestellt, der Schlusspfiff des portugiesischen Referees geht fast unter, und die TV-Reporter aus mehreren Ländern schweigen und lassen die Zuschauer an diesem «Fields of Athenry»-Spektakel teilhaben – kommentarlos.

Das Spiel geht 0:4 verloren, Irland scheidet mit null Punkten aus dem Turnier. Die Spanier spielten phantastisch, aber alle Herzen waren auf einmal grün-weiss und im Bann dieser unglaublich intensiven irischen Melancholie, die das Stadion mit «Fields of Athenry» erobert hat. Melancholie, das spürten wohl alle, ist nicht nur traurig, sie hat auch etwas Optimistisches. Der Uefa war der Auftritt der irischen Fans einen Sonderpreis wert.

«Fields of Athenry» ist die inoffizielle Hymne der irischen Fussball-Nationalmannschaft: Die Lage ist aussichtslos? Die Niederlage noch so deutlich? Mag schon sein, aber das Leben geht weiter. Am Boden liegenbleiben gilt für Iren nicht. In «Fields of Athenry» von Pete St. John, erst Ende der 1970er Jahre entstanden und durch The Dubliners bekannt geworden, geht es um die irische Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts: Ein junger Mann stiehlt etwas Korn, um seine Familie vor dem Hungertod zu retten. Er wird gefasst und nach Australien deportiert, das damals eine Strafkolonie der britischen Krone war. Und dort, quasi 0:4 verloren, träumt er von Frau, Kind – und der Zukunft:

«Es macht nichts, Mary, solange du frei bist.
Gegen den Hunger und gegen die Krone
erhob ich mich, sie setzten mich fest.
Nun zieh du unser Kind auf in Würde.»

(So zumindest lautet eine Strophe der frei ins Deutsche übersetzten Hymne «Fields of Athenry».)

Irland als Stehaufmännchen: Widerstandsfähigkeit und Hoffnung

Wie die Fussballfans, wie der junge Mann in «Fields of Athenry»: Ganz Irland hat immer etwas von einem Stehaufmännchen, das sich von nichts und niemandem beugen lässt, aber auch immer gewahr ist, dass nach ein paar Sonnenstrahlen stets ein grosses graues Wolkenband am Himmel erscheint. Wie jetzt über dem nach Sydney in Australien zweitgrössten Naturhafen der Welt, in Kinsale im Süden der Insel: Die Regenwolken haben das Land erreicht, so dass dieses duscht, das Wasser kräftig, kalt, alles durchdringend. Doch am fernen Horizont blinzelt die Hoffnung: Ein paar Sonnenstrahlen durchbrechen das schwermütig machende Blaugrau. Der Wechsel von Regen zu Sonne und umgekehrt geschieht schnell in Irland.

Melancholie und das Wetter: Der Einfluss der irischen Natur

Melancholie scheint manchmal unergründlich. Selbst die, die sie spüren, wissen nicht genau, weshalb das so ist. In der Antike war sie hoch geachtet. Im Mittelalter war sie eines von vier Temperamenten. Die schwarze Gallenflüssigkeit soll für das Traurig-Nachdenkliche im Menschen verantwortlich gewesen sein. Melancholie ist eben eine eigenartige Mischung aus Realität und Emotion, ein Gemütszustand, der manchmal kaum spürbar ist, der einen traurig macht, der aber auch warm und beruhigend sein kann sowie manchmal so stark ist, dass man glaubt, das ganze Leben sei betroffen – wie man es bei dem jungen Mann am Strand in Edvard Munchs Gemälde «Melancholy» vermuten könnte.

Spass statt Lichttherapien

Die Iren scheinen aber ihre eigene Melancholie zu haben: Die Schriftstellerin Alannah Hopkin aus Cork, 75 Jahre alt, sagt: «Melancholie ist typisch irisch. Keine Frage.» Sie ist sicher, dass das Wetter der Hauptgrund dafür ist. «Manchmal reicht nicht einmal ‹melancholisch› als Zustandsbeschreibung: Bei unserem Wetter kann man ja depressiv werden!» Lichttherapien, wie viele Skandinavier sie machen, brauchen sie nicht, da halten es die Iren eher mit Gene Kelly und «Singing in the Rain». Ihre Landsleute seien vom Naturell her warm und freundlich, würden mit jedem und jeder Spass machen, seien ehrliche Menschen, «aber ich glaube: Sie sind gar nicht mehr so melancholisch wie früher», sagt Alannah. «Die Zeiten haben sich einfach geändert.»

Nach Irland fahren Individualisten, Leute, denen im Sommer Höchsttemperaturen um 20 Grad genug sind, die am Strand spazieren gehen, aber nicht baden, die ein Leuchtturm fasziniert, das Grünste aller Grüns, Guinness, Irish Whiskey, Tweedjacken, das Herbe, die Schafherden und die gar nicht auf der Suche sind nach der «sunny side of life». Sie lieben das Land der vier regnerischen Jahreszeiten und das stürmische Wetter, das die Haare zerzaust. «Es gibt dieses Irland: Wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keine Ersatzansprüche an den Autor», schrieb polemisch der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll in seinem «Irischen Tagebuch».

Böll war in den 1950er Jahren mehrere Monate in Irland und beschreibt das Land zu einer Zeit, als es noch eines der ärmsten Länder Westeuropas und in isolierter Randlage war. Die Wirtschaft schwach, die Infrastruktur eine Katastrophe, die katholische Kirche so rückständig wie dominant: Sogar Bücher liess sie noch verbieten. Bis in die 1960er Jahre hinein, etwa als John McGaherns Roman «The Dark» (auf Deutsch: «Das Dunkle») auf dem Index landete, da es in dem Buch um die sexuelle Entwicklung eines Teenagers auf dem Lande geht.

Auswanderungen waren, wie schon so oft in der Geschichte dieses Landes, die Folge desaströser Zustände. Auch «Fields of Athenry» thematisiert die Auswanderung, damals aufgrund der Hungersnot im 19. Jahrhundert. Das Lied steht in besonderem Masse für die irische Seele. «Irischer Folk hört sich oft lebenslustig an», sagt der Musiker Mick McNamara, «aber die Inhalte sind sehr stark verknüpft mit unserer traurigen Geschichte aus dem 19. Jahrhundert: Eine Million Iren flohen nach Amerika. Eine weitere Million verhungerte. Und Irland wurde lange Zeit als Underdog behandelt.» Die Hymne «Fields of Athenry» ist deshalb für Mick auch das melancholischste Lied Irlands. Doch auch die irischen Klassiker «Whiskey in the Jar» oder «Molly Malone» haben ihre melancholischen Wurzeln im 19. Jahrhundert.

Wandel der Zeiten: Vom wirtschaftlichen Rückschlag zum Aufschwung

«Noch in den 1980er Jahren standen 4000 Leute Schlange für 100 Jobs bei Marks & Spencer dort drüben», erzählt die Würstchenverkäuferin in Kinsale und reicht eine in Blätterteig gerollte O’Flynn’s Gourmet Sausage. Doch seitdem hat sich in Irland dramatisch viel verändert. Nur ein paar Jahre später blühte die irische Wirtschaft auf und übernahm im IT-, im Dienstleistungs- und im Pharmasektor sogar eine führende Rolle in Europa. Sie waren die drei grossen «game changer», aber auch aus der kleinen irischen Regionalfluggesellschaft Ryanair wurde ein Riese: Nach Passagierzahlen ist sie heute die grösste Airline in Europa und weltweit sogar die wertvollste an der Börse. Der Katholizismus hat dramatisch an Bedeutung verloren: Sonntags gibt’s vielerorts kaum noch eine Messe, während es früher vier Gottesdienste waren. Die Kirche musste zusehen, wie 1990 Verhütung erlaubt wurde und Irland in Sachen Toleranz zum Vorboten wurde: Auf der Liste, die Länder nach LGBTQ-Toleranz und -Rechten anordnet, rangiert Irland inzwischen unter den Top Ten weltweit. Das Ergebnis: Statt Aus- gibt es aufgrund der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Optionen Zuwanderung. In Dublins O’Connell Street verbindet «The Portal» Irland mit New York, eine 24/7-Videoinstallation, durch die Menschen in Echtzeit interagieren können. «Das ist eine der lustigsten Sachen, die ich je gesehen habe», sagt ein Mächen, vielleicht fünfzehn Jahre alt, über dieses Live-Kamera-Portal zwischen Dublin und New York. Rahmenbedingungen, wie diese sogar im Wortsinn, verändern eben auch den allgemeinen Gemütszustand. Ist da überhaupt noch Platz für Melancholie?

Wir treffen den Leuchtturmwärter Gerard Butler. Sein Leuchtturm Galley Head ist einer von rund achtzig Leuchttürmen entlang der irischen Küste. Jedem dieser Leuchttürme haftet etwas Schwermütiges und vor allem Einsames an, gerade an einer Küste wie dieser im tiefen Süden Irlands, etwa eine Autostunde südwestlich von Cork, mit schroffen, steil abfallenden Klippen, über denen dieses einmalig dichte, moosweiche Gras wächst, in das man sich ohne Schaden einfach hineinplumpsen lassen kann, als sei das Gras Schaumstoff. Gerard glaubt, die irische Melancholie in seinem Herzen zu tragen, «dunkle Wolken, der Wind, der Regen berühren mein Herz». Und das Melancholische darin sieht er positiv: «Es ist das Vergnügen, manchmal ein wenig traurig zu sein.» Die Zeit während des Corona-Lockdowns fand Gerard «wonderful: Wenn ich alleine bin, fühle ich mich wohl».

52 Stufen geht es hinauf zum Turm, der, 21 Meter hoch, 53 Meter über dem Atlantik alle vier Sekunden ein Leuchtfeuer abgibt, das bis zum Horizont, 30 Kilometer weit draussen, sichtbar ist. Da Galley Head, wie alle anderen irischen Leuchttürme, inzwischen komplett automatisch betrieben wird, wurde die Leuchttürmerwohnung frei zum Vermieten, und «ich denke, die Gäste suchen bei uns genau dieses melancholische Vergnügen». Gerard erzählt von einer Italienerin, die weinte, als sie ihre Ferienwohnung bezog: «Sie war nicht traurig, sondern berührt. Melancholie ist also nicht nur bei den Iren im Herzen!» Und der 72-Jährige, der Galley Head 1965 das erste Mal betrat, als sein Vater noch Dienst hatte, erzählt von einer weiteren Begebenheit: «Es war einmal eine Familie aus Mumbai da. Eine 20-Millionen-Stadt, in der sich alles drängt! Sie konnten es nicht glauben, dass ausser ihnen hier kein Mensch weit und breit war. Ich glaube, die waren letztlich auch melancholisch . . .»

Bei den jungen Leuten von heute ist das anders. Bei denen heisst es nicht melancholisch, sondern: nicht gut drauf. Denise Enright, 29 Jahre jung, Busfahrerin, ist «nie melancholisch: Ich bin jung, kenne die Welt, weiss, was draussen los ist». Die Jungen gehen halt joggen, wenn sie schlecht drauf sind, oder zu Freunden, während früher der Weg häufig ins Pub führte oder die Hand zur Whiskey-Flasche griff, wenn man zu Hause blieb. «Und wir fliegen schon auch mal nach Gran Canaria. Unsere Generation ist nicht wie die alte, für die es nur Irland gab und sonst nichts.» Denise strahlt übers ganze Gesicht und wiederholt: «Melancholie? Diese Zeiten sind vorbei!»

Das gilt auch für Julie Shelswell-White, nur vier Jahre älter als Denise, Schlossherrin von Bantry Manor and Gardens, dort geboren, aufgewachsen und jetzt die Managerin des im Familienbesitz befindlichen 49-Zimmer-Anwesens. Es gilt für den Studenten am Cork-Campus und die junge Kassiererin im Supermarkt und für so viele weitere junge Menschen im Land.

Eine stürmische Überfahrt

Ab Baltimore geht die Fähre nach Cape Clear. Sie hat Verspätung. Schlechtes Wetter, die See ist rau. Und da der Wind den Regen ins Gesicht peitscht, suchen die Leute Unterschlupf an der nahen Busstation. Sie ist so gebaut, dass der Unterstand nicht zur Strasse hin offen ist und der Wind nicht hineinpfeifen kann Denn der kommt immer von Westen – vom Atlantik. 45 Minuten dauert die Überfahrt mit der «Dun an Oir II» auf die abgelegene Insel Cape Clear, die bewohnt ist von 120 Insulanern. Seamus O’Driscoll ist einer von ihnen. Von seinen 65 Lebensjahren verbrachte er 35 auf der Insel, die er so selten wie möglich verlässt. «An Land ist zu viel Betonwüste, und wir haben alles hier», sagt Seamus: «drei Pubs, zwei Läden, eine Krankenschwester» plus schnelles Internet sowie zwanzig Gästebetten für Touristen. «Nur eine Pizzeria fehlt», meint Seamus. Auf die Insel werden regelmässig Vögel angestürmt, die es nur in Nordamerika gibt. Sie können dem starken Westwind nicht trotzen, und Cape Clear ist nach dem langen Weg über den Atlantik häufig die erste Landzunge. Eine Insel wie gemacht für die Melancholie. Aber Seamus sagt nur: «Melancholie ist für mich, wenn das Glück vorbei ist . . .» Und das ist, wenn der Sommer zur Neige geht und die Nächte lang werden.

Dann ertappt man sich selbst beim Melancholisch-Sein, steht an der Reling der «Dun an Oir II» auf dem Weg zurück nach Baltimore. Die See ist immer noch rau, die kleine Fähre schaukelt wie eine Nussschale. Die Gischt macht einen klitschnass, die Wolken reiten über einem, die Wellen brechen sich darunter. Der fast schwarze Atlantik vereinigt sich mit dem tiefgrauen Horizont, wo ein dünner Lichtstrahl einen Hauch von «sunny side of life» verspricht.

Diese Reportage wurde möglich durch die Unterstützung von www.tourismireland.com und Edelweiss (www.flyedelweiss.com).

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