Oberhalb von Blatten ist der Berg in Bewegung. Nach einem Murgang haben einige Einwohner ihre Häuser bereits am Wochenende verlassen. Nun muss das ganze Dorf weg.
lia./wek. Es blieb lediglich eine halbe Stunde Zeit. In Blatten im Walliser Lötschental musste am Montagmorgen plötzlich alles schnell gehen. «Möglichst das Nötigste packen und sofort die Häuser räumen», teilte die Behörde um kurz nach 9 Uhr 30 über die Plattform Alertswiss mit. Bis um 10 Uhr musste sich die Bevölkerung in der Mehrzweckhalle einfinden. Dort folgten weitere Informationen durch den Gemeinderat. Und die waren einschneidend: Alle Bewohner von Blatten müssen weg, und zwar schnell. Schon bis um 11 Uhr 30 mussten sie das Dorf verlassen.
Matthias Ebener, der Informationschef des Führungsstabes, sagte zu SRF: «Die Lage ist sehr akut. Es ist allen klar, dass der Felssturz kurz bevorsteht.» Der Evakuationsaufruf gilt für etwa 300 Personen. Die Einwohner der beiden Weiler Wyssenried und Eisten sind davon nicht betroffen, sie können in ihren Häusern bleiben.
In Blatten hat sich die Situation in den vergangenen Tagen zugespitzt. Der Berg ist in Bewegung, es kommt zu Felsabstürzen – und es droht einmal mehr ein Bergsturz. Blatten ist das hinterste Dorf im Lötschental und liegt auf 1540 Meter über dem Meer.
Hoch oben im Gebirge hat sich vermehrt Gestein gelöst. Beim Kleinen Nesthorn – auf über 3000 Metern über Meer – sind Felsen auf den Birchgletscher gestürzt und haben einen Teil des Gletschers mitgerissen. Das löste einen Murgang aus, 30 000 Kubikmeter Gestein rutschten in Richtung Tal und kamen 500 Meter oberhalb des Flusses Lonza ausserhalb des Dorfes zum Stillstand. Schon am Samstagabend mussten deshalb 92 Bewohner von Blatten evakuiert werden. Nun hat sich die Gefahr nochmals verschärft.
Das Risiko steigt immer mehr
Kantonsgeologen haben die Situation am Wochenende neu analysiert. Sie haben Kameras und GPS-Geräte am Berg installiert und festgestellt, dass es am Berg sehr viel Bewegung gibt. Matthias Ebener spricht im «Walliser Boten» von mehreren Metern pro Tag. «Vor wenigen Tagen war es noch ein Meter pro Tag. Das Risiko steigt immer mehr.»
Erkenntnisse von einem Erkundungsflug hätten die Bewegungen im Hang oberhalb des Dorfes bestätigt. Aufgrund der Analysen der Experten sei man nun zum Schluss gekommen, dass das gesamte Dorf evakuiert werden müsse.
Die Ausweitung des Evakuationsaufrufes erfolge auch, weil erwartet werde, dass das herunterkommende Material mehr Platz benötige als bislang angenommen. Am Hang drohen mehrere Millionen Kubikmeter Gestein abzubrechen. Alban Brigger von der Abteilung Naturgefahren des Kantons Wallis sagte zu SRF: «Wir sehen, dass hier wirklich ein Bergsturz in Ankündigung ist.» Gegenüber dem «Walliser Boten» wird Brigger noch deutlicher: Die Beschleunigung sei so hoch, dass es sich nur noch um Stunden handeln könne, bis es zu einem Felssturz am Kleinen Nesthorn komme.
Murgang mit grossem Schadenspotenzial droht
Viele Bewohner von Blatten kommen laut SRF bei Bekannten oder Verwandten unter. Die Gemeinden im Tal suchen zudem Unterkünfte für die betroffenen Personen. Die Verantwortlichen gehen aufgrund der Bewegungen am Berg nicht davon aus, dass die Evakuation noch Monate andauert. Weil derzeit Nebensaison herrscht, sind zudem kaum Feriengäste betroffen.
Der Birchgletscher steht seit den 1990er Jahren unter Beobachtung. Die Gemeinde vermutet, dass die bevorstehende Schneeschmelze ab etwa 2500 Metern Höhe die Gefährdungslage verursacht habe. Laut Alban Brigger hat sich die Bewegungsrichtung des Gesteins verändert. Bei einem massiven Abbruch auf den Gletscher drohe eine Kettenreaktion. «Der Bergsturz würde auf den Gletscher fallen, der Gletscher löste sich in Wasser auf, und das führte zu einem schnellen Murgang, der grosses Schadenspotenzial hätte», sagte Brigger dem «Walliser Boten».
Die Situation in Blatten erinnert an das Schicksal der Bündner Gemeinde Brienz. Dort droht seit Jahren ein rutschender Berghang das kleine Dorf zu verschütten. Die Bewohner mussten ihre Heimat schon mehrmals verlassen. Sie dürfen seit November nur sporadisch in ihre Häuser zurückkehren. Eine erhoffte langfristige Entspannung der Lage blieb bislang aus. Eine Umsiedlung wird immer wahrscheinlicher.