Donnerstag, Oktober 10

Millionen Menschen besuchten die Expo in Lausanne, die 1964 eröffnet wurde. Sie sahen Attraktionen, eine wehrhafte Armee, ein funktionales Land. Doch dann sorgte der Bundesrat für einen Skandal.

«Die Schweiz von morgen lädt Sie heute ein.» Mit diesem Satz warben die Organisatoren der Schweizerischen Landesausstellung 1964 in Lausanne. Am 30. April durchschnitt Bundespräsident Ludwig von Moos auf dem Expo-Gelände ein Stoffband und eröffnete die Expo 64. Und im ganzen Land läuteten die Kirchenglocken. 60 Jahre ist das her.

Zwölf Millionen Menschen besuchten die Expo 64. Mehr als doppelt so viele Menschen, wie die Schweiz damals Einwohner hatte. Die Expo 64 bot auf 600 000 Quadratmetern zahlreiche Attraktionen. Doch hinter der Volksfeststimmung zeigten sich Bruchlinien.

Schon Jahre vor der Eröffnung hatte ein Trio um Max Frisch unter dem Titel «achtung: die Schweiz» ein Gegenprojekt zur Landesausstellung lanciert und damit tiefgreifende Debatten ausgelöst. Später, kurz vor der Eröffnung der Expo, mischte sich der Bundesrat ins Programm ein und sorgte für einen Skandal.

Nach der Eröffnung machte sich vor allem in progressiven Kreisen Enttäuschung breit. Intellektuelle hatten sich eine Expo erhofft, die sich kritischer mit der Zukunft des Landes beschäftigt. Der «Beobachter» schrieb, die Expo zeige ein «Trugbild der Schweiz». Der Philosoph Arnold Künzli sprach von einer «Neurose des Igels».

Die Expo 64 war eine überdimensionierte Chilbi. Sie stand für eine Schweiz des wirtschaftlichen Aufschwunges, aber sie legte auch gesellschaftliche Widersprüche und Umbrüche offen. Und schliesslich war sie in den Augen vieler eine verpasste Chance.

Mehr als eine Landi 2.0

Die Expo 64 war die dritte Landesausstellung im 20. Jahrhundert. Die Landesausstellungen 1914 und 1939 waren mit dem Beginn der Weltkriege zusammengefallen. Die sogenannte Landi 1939 in Zürich prägte den Begriff der «geistigen Landesverteidigung», indem sie die Schweiz als robusten Kleinstaat zeigte, der sich in den Stürmen der Weltgeschichte behauptet hatte. Wie sich an der Expo 64 zeigte, wirkte dieses Motiv des Verteidigens gegen Bedrohungen und Einflüsse von aussen bis in die 1960er Jahre fort.

Die Weltkriege waren dann vorbei. In der Planung der Organisatoren spielte die Armee deswegen eine nebengeordnete Rolle. Daraufhin intervenierte die Schweizerische Offiziersgesellschaft mit Unterstützung von Verteidigungsminister Paul Chaudet. Die Armee kam doch noch zu ihrem eigenen Pavillon, den die Besucher «Igel» nannten. Dort zeigte das Militär moderne Kampfjets, Waffen, Wehrwillen.

Der «Igel» stand symbolhaft für die Widersprüchlichkeiten der Expo 64. Mitte der 1960er Jahre durchlebte die Schweiz die sogenannten «trente glorieuses». In diesen drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb die Wirtschaft Konjunktur. Der Wohlstand erreichte breitere Bevölkerungsschichten. Wie die Expo 64 zeigte, war die Stimmung in der Politik aber noch immer von einer Rhetorik des Wehrwillens, der Tüchtigkeit, der alten eidgenössischen Werte geprägt. So als ob sich die Schweiz noch immer gegen eine Bedrohung von aussen wehren müsste.

Bundespräsident Ludwig von Moos erklärte, die Expo 64 müsse «ausgesprochen schweizerische Wesenszüge» tragen, die sich auch in neuen Zeiten bewährten. Passend sprach die «Schweizer Filmwochenschau» nach der Eröffnung der Expo von einer Gelegenheit zur «Selbstbesinnung».

Dennoch versuchten die Organisatoren der Expo 64 der neuen Zeit Rechnung zu tragen. Die Pavillons waren von einer modernen Architektur geprägt. Die Organisatoren setzten den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt in Szene.

Die Monorail, eine damals moderne Einschienenbahn, fuhr die Besucherinnen und Besucher über das Gelände. Das U-Boot «Mésoscaphe» von Jacques Piccard führte sie für 40 Franken pro Person während 25 Minuten in die Unterwasserwelt des Genfersees. Das U-Boot, besser bekannt als der «Weisse Schwan», war eine Weltneuheit und wurde zu einem Symbol der Expo 64.

Der Bundesrat verordnete Konformismus

Das gesellschaftlich ambitionierteste Projekt der Expo 64 war jedoch das sogenannte Gulliver-Spiel. Angelehnt an den fiktiven Protagonisten Gulliver aus dem Reiseroman von Jonathan Swift, sollte eine gleichnamige Riesenfigur die Expo-Besucher mit moderner Technik in eine Diskussion über den Zustand der Schweiz einbinden.

Zwei Jahre vor der Expo 64 hatten Wissenschafter deshalb eine repräsentative Pilotstudie durchgeführt. 1200 Personen aus der Schweiz beantworteten einen Fragebogen. Es ging um das eidgenössische Arbeitsethos, Schwangerschaftsabbrüche, Dienstverweigerung, einen möglichen EWG-Beitritt, den Kommunismus, die Neutralität.

Geplant war, dass eine Gulliver-Figur den Besuchern an der Expo dieselben Fragen stellen sollte. Computer hätten die Antworten dann gesammelt und laufend veröffentlicht. Das Gulliver-Spiel hätte in Echtzeit die Stimmungslage im Land wiedergegeben. Gulliver wäre ein subversiver Skeptiker gewesen, wie der Historiker Koni Weber schrieb. Doch die Politik wünschte keine Überraschungen.

Der Bundesrat schritt ein. In der Folge strichen die Organisatoren Fragen zu Abtreibung, Neutralität und Dienstverweigerung aus dem Katalog. Zudem verbot der Bundesrat, die Ergebnisse zu veröffentlichen. Der Historiker Koni Weber schrieb, der Bundesrat habe den subversiven Gulliver zum «harmlosen Quizmaster» degradiert.

Umberto Eco, der weltberühmte italienische Schriftsteller, beklagte den Konformismus der Expo 64 in einer Rezension. Er schrieb, die Expo erfülle die Funktion einer grossen Public-Relations-Agentur. Und eine Werbeagentur kritisiere die Konzernpolitik eben nicht.

Gegen eine Politik der Trägheit

Doch eigentlich hatten Intellektuelle bereits Jahre vor der Expo versucht, in der Gesellschaft eine Diskussion über die Verhältnisse und Zukunftsperspektiven in der Schweiz auszulösen. 1955 veröffentlichten Lucius Burckhardt, Markus Kutter und Max Frisch mit der Schrift «achtung: die Schweiz» eine radikale Alternative zu einer Ausstellung mit Pavillons und Attraktionen. Ihr Vorschlag: Statt einer Landesausstellung soll die Schweiz eine neue Stadt bauen.

Das Trio um Frisch verstand die Schweiz als Idee, als etwas Innovatives. Die neue Stadt war für sie eine Antithese zum herrschenden Zeitgeist. Ein Gegenpol zur bürgerlichen Mehrheit, die aus ihrer Sicht eine Politik der Trägheit, des Stillstandes betrieb.

Burckhardt, Kutter und Frisch schrieben: «Unsere Schwäche (. . .) ist die grausliche Tatsache, dass wir, als Land, seit Jahren aufgehört haben zu denken, zu entwerfen; wir sind die Erben und Nutzniesser einer grossen Idee – ohne aus einer eigenen Idee zu leben.»

Bekanntlich wurde die neue Stadt von Frisch und seinen Kollegen nie gebaut. Immerhin, die Idee brachte die Schweiz zum Nachdenken. Mehr als tausend Zeitungsartikel und Kommentare kritisierten, lobten, thematisierten den Vorschlag.

Vielleicht wird das Thema einer Landesausstellung die Schweizer Medien bald wieder umtreiben. Derzeit arbeiten mehrere Projektgruppen an Plänen für eine neue Landesausstellung. Der Bundesrat wartet wegen der «herausfordernden haushaltspolitischen Lage» mit einer Kostenbeteiligung. Er schrieb aber, eine Landesausstellung könnte den Zusammenhalt im Land stärken und Diskussionen über die Zukunft fördern.

Das erhofften sich auch schon damals, vor 60 Jahren, viele Schweizerinnen und Schweizer.

Wie schon 1939 zeigten die Organisatoren der Expo 64 eine Installation mit allen 3000 Gemeindefahnen der Schweiz. Das war eine direkte Referenz an die Landi 39.

Jakob Braem / Keystone

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