Montag, September 30

100 Millionen Franken, ein «Space Hub» und Fabriken im All: Die Universität Zürich will aus Science Fiction Realität machen. Mittendrin: Ein Mann, der sich schon für den Weltraum interessierte, als es noch nicht cool war.

Es ist 1989, gerade ist die Berliner Mauer gefallen. Alle wollen in den Westen, packen Kisten in Trabbis, passieren Checkpoints. Weg, weg, weg aus dem Osten.

Nur Oliver Ullrich fährt in die andere Richtung. Ullrich, damals 19 Jahre alt, ist Medizinstudent in Westberlin und will an die Charité-Klinik im Osten.

«Guten Tag, ich bin aus dem Westen, ich würde gerne hier studieren», wird Ullrich später zitiert. Zwei Tage nach dem Mauerfall schreibt er sich an der Charité ein. Den «ersten Weststudenten im Osten» wird die «Frankfurter Rundschau» ihn 20 Jahre später nennen.

Spricht man Ullrich, unterdessen 51, heute darauf an, lacht er, blickt zu Boden und sagt: «Ach, das ist doch so lange her. Ich war halt neugierig.»

Dabei war es genau diese Neugier, die den Grundstein für eine grosse Karriere legte.

Eine Medizinerkarriere halt

Ullrich wird 1970 in Westberlin geboren, er wächst in der Grossstadt auf. Jahrelang plant er, Arzt zu werden. Er ist keiner, der seit der Kindheit vom All träumt. Abi, Studium, Doktortitel, dann in die die Klinik: Statt Science Fiction will er eine ganz normale Mediziner-Karriere.

Und die macht er zunächst auch. Er schreibt eine erfolgreiche Doktorarbeit, habilitiert. Er spezialisiert sich auf Neurowissenschaft und Immunologie, prestigeträchtige Forschungsbereiche. Sein Schwerpunkt: Lymphozyten – menschliche Zellen, die Krankheiten abwehren.

Kurz nach der Habilitation wird ihm eine Professur angeboten. Da ist er erst 32. «Ich habe mich riesengross gefühlt», sagt er, «wie ein jugendlicher Nischensuperstar.»

Er forscht zunächst an der Universität Magdeburg, ab 2007 an der Universität Zürich. Quasi nebenher liest Ullrich ab und an Studien, die nichts mit seinem Fach zu tun haben. Eine davon beschäftigt sich mit Schwerelosigkeit. Was passiert eigentlich in menschlichen Zellen, wenn die Schwerkraft fehlt?

Es ist die Frage, die Ullrich nicht mehr loslässt. Er liest immer mehr zum Thema, stellt Hypothesen auf, macht Experimente. Irgendwann muss Ullrich sich entscheiden: ganz in sein neues, praktisch unbekanntes Forschungsgebiet wechseln – oder in der prestigeträchtigen Immunologie bleiben.

Plötzlich Aussenseiter

Ullrich überlegt: Er ist bereits Professor, bereits respektiert. Der Druck, so schnell und so viel wie möglich zu publizieren, ist kleiner als vor der Berufung. «Wer, wenn nicht ein Professor, soll Risiken eingehen, Neues ausprobieren?», denkt sich Ullrich.

Und wechselt sein Forschungsfeld.

Von da an forscht Ullrich in der Weltraum-Biotechnologie. Das Fach ist unbeliebt und kaum etabliert. Es gibt wenig Forschungsgelder, wenig Anerkennung. Plötzlich ist Ullrich ein Sonderling. Warum trotzdem der Wechsel? Ullrich: «Ich war halt neugierig, unerträglich neugierig.»

Ullrich will herausfinden, wie Lymphozyten – die Zellen, die Krankheiten abwehren – auf Schwerelosigkeit reagieren. Die Hypothese: Sie hören auf zu arbeiten, sobald die Schwerkraft fehlt. Für gesunde Menschen wäre das gefährlich. Für Menschen aber, die an Autoimmunkrankheiten leiden, könnte es die Rettung sein. Denn bei ihnen greifen die Lymphozyten fatalerweise gesunde Zellen an.

Das heisst: Findet Ullrich den Mechanismus, der die Reaktion der Lymphozyten in der Schwerelosigkeit auslöst, wäre eine Grundlage da für lebensverändernde Medikamente.

Doch zunächst ist Ullrich in seinem neuen Forschungsfeld erfolglos. Aufwendig simuliert sein Team Schwerelosigkeit. Doch die Zellen reagieren kaum. Sie arbeiten einfach weiter, wie in der Schwerkraft auch.

War alles umsonst?

Ullrich und sein Team wiederholen Experimente, verändern Bedingungen. Statt Schwerelosigkeit auf dem Boden zu simulieren, schicken sie die Zellen auf Parabelflüge. Dabei fliegt ein Flugzeug so, dass die Schwerkraft kurz aussetzt. 20 Sekunden Schwerelosigkeit für Ullrichs Zellen. Ein bisschen reagieren die Zellen jetzt.

Aber die Erklärung, die Ullrich sucht? Findet er nicht.

Schliesslich schickt er Zellen ins All. Genauer: Mit einer Rakete auf die Internationale Raumstation (ISS). Dort werden zum ersten Mal ganz kurze Sequenzen echter Schwerelosigkeit getestet – ein, zwei Sekunden nur. Und tatsächlich: Die Lymphozyten hören auf zu arbeiten.

2015 ist das – über acht Jahre, nachdem Ullrich mit seiner Forschung begonnen hat.

Es hat sich alles gelohnt.

So blickt Ullrich heute auf seine erste Weltraumforschung. Und doch: Zeitweise habe es Durchhaltewillen gebraucht, um trotz der wenigen Resultate weiterzumachen. Der Wechsel aus dem Zentrum der Medizin an den Rand der Biotechnologie, die Rückschläge. «Ich bin immer kleiner geworden», erinnert sich Ullrich. Die Jahre nach dem Fachwechsel hätten ihn Demut gelehrt. «Die Schwerelosigkeit hat mich auf den Boden geholt.»

Das hat auch seinen Blick auf die Wissenschaft verändert. Zehn Jahre ohne Durchbruch forschen: Das könne man als Misserfolg sehen – oder als notwendige Investition, um einem Durchbruch näher zu kommen.

«Da kann es sein, dass man bis zur Pension keine Resultate hat. Dann müssen andere weiterführen, was man angefangen hat», sagt Ullrich. «Ich selbst bin absurd irrelevant. Aber ich trage zu etwas bei, das wichtig ist.»

Die Weltraum-Revolution

Die Forschung, zu der Ullrich beiträgt, könnte die Welt verändern. Und den Weltraum gleich mit. Den möchte er nämlich zur Produktionsstätte machen, spricht gar von einer «neuen industriellen Revolution».

In den vergangenen Jahren hat Ullrich erforscht, wie im All menschliches Gewebe gezüchtet werden kann. Er hat auf der ISS bereits erfolgreich Leber-Organoide gezüchtet, winzig kleine Stücke Gewebe, die das Organ quasi nachbilden sollen. Von einem ganzen gezüchteten Organ ist ein Organoid zwar noch weit entfernt – solche Mini-Lebern sind aber zum Beispiel für Medikamententests nützlich.

Weil Organoide heute noch nicht gleich gut auf der Erde hergestellt werden könnte, könnte das Verfahren auch für Pharmafirmen interessant sein – vorausgesetzt, es gibt genügend Platz für die Produktion im All.

Dafür braucht es Produktionskapazität in Satelliten oder Raketen. Einen ersten Prototypen gibt es bereits: den Fabriksatelliten des Start-Ups «Varda Space». 2023 flogen mit ihm Mikrokristalle ins All, die für das Coronavirus-Medikament Ritonavir gebraucht werden. Der Umfang der Produktion? Eine Schuhschachtel.

Aber wenn es nach Ullrich geht, trennt die Schuhschachtel nicht mehr viel von einer ganzen Rakete. «Die Grundlagenforschung für die Produktion im All ist abgeschlossen und sie hat gezeigt: Das funktioniert.»

Was jetzt noch fehle, sei Geld. Viel Geld. Elon-Musk-viel Geld.

Elon macht’s

Der amerikanische Investor beliefert die internationale Raumstation heute schon mit Raketen seines Unternehmens «Space X». Seine Falcon 9, eine zweistufige Rakete, bringt den Astronauten Essen, Wasser, Kleidung und kehrt danach wieder zur Erde zurück. Dabei ist die Falcon 9 zehn Mal günstiger als ihre Vorgängerinnen, weil ihr unterer Teil wiederverwendet werden kann. Statt einfach im Meer zu versinken oder zu verglühen, landet er auf einer Plattform im Meer und wird für den nächsten Start wieder an Land gezogen.

Aktuell testet «Space X» die neue Mehrwegrakete «Starship». Sie transportiert 150 Tonnen Waren ins All und wieder zurück. Gelinge das regelmässig, entstehe bald eine «Autobahn ins All», sagt Ullrich.

Auf diese Revolution im Weltraum bereitet sich nicht nur Ullrich vor. Auf dem Flugplatz Dübendorf, im Hangar 4, wurde am Dienstag der «Space Hub» der Universität Zürich eröffnet. Im Hub arbeitet die Hochschule ab sofort mit Start-Ups zusammen, die an Weltalltechnologie forschen – wie an Ullrichs Lebern aus dem All.

So sollen Erfindungen von Forschenden zu kommerziellen Produkten werden, sagt Ullrich. Spin-Offs werden von der Universität finanziell unterstützt, können am «Space Hub» Büros und Labore nutzen – oder Flugzeuge für Parabelflüge.

100 Millionen Franken hat der Kanton in die Erschliessung des Flugplatzes investiert. Michael Schaepman, Rektor der Uni Zürich, sagt: «Der Weltraum ist ein Wachstumsmarkt.» Da wolle man sich positionieren.

Aus Zürich ins All

Auch die Kantonsregierung ist im Weltall-Fieber: Im April hat sie die Weltraumforschung zu einem «Leuchtturm-Bereich» für die «Greater Zurich Area» erklärt. Bildungsdirektorin Silvia Steiner (Mitte) sagt anlässlich der Eröffnung des «Space Hub»: «Bahnbrechende Erfindungen entstehen nicht einfach so.» Für Innovationen müssen die richtigen Bedingungen geschaffen werden. Das tue Zürich nun.

Der Direktor des ganzen Prestigeprojekts ist: Oliver Ullrich.

Er, der in der Weltraumforschung als Aussenseiter begann, hat nun alles, was ihm zu Beginn fehlte: Geld, Aufmerksamkeit, Prestige. Und er ist noch lange nicht fertig. Ullrich, der Forscher, der gern in die Gegenrichtung geht, sagt: «Ich bin halt immer noch neugierig.»

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