Mittwoch, März 19

In vielen Betten läuft wenig. Das habe vor allem mit den Frauen zu tun, deren Ansprüche steigen würden, sagt die Psychologin Juliane Burghardt. Was eigentlich eine gute Nachricht sei, bedeute indessen ein Verlust.

Frau Burghardt, der Philosoph Michel de Montaigne soll gesagt haben: «Die Bewegung der ganzen Welt läuft auf Paarung hinaus.» Stimmt das nicht mehr?

Es sieht nicht so aus. Auch Sigmund Freud nannte Sex die treibende Kraft des Menschen. Doch es gibt immer weniger, was uns zu Sex motiviert.

Sie haben internationale Studien ausgewertet und selber eine Untersuchung durchgeführt zur Frage, wie häufig die Leute Sex haben. Der eindeutige Befund: Vor 15 Jahren war es häufiger. Wie ist es heute?

In einer Beziehung hat man durchschnittlich einmal wöchentlich Sex, als Single einmal im Monat oder seltener. Darin liegt auch schon ein Grund für die Abnahme: Es gibt mehr alleinstehende Menschen. Eine wachsende Anzahl Leute hatte in den letzten zwölf Monaten keinen Sex, und viele junge Menschen fangen gar nicht erst damit an, auch nicht, nachdem sie 18 sind.

Wie viel Sex ist normal?

Die Frage musste kommen. Ich habe darauf keine Antwort. Grundsätzlich ist gut, was sich gut anfühlt. Das Bedürfnis nach gelebter Sexualität ist individuell verschieden. Manchen Paaren genügt es, einmal im Jahr miteinander zu schlafen.

Dennoch möchten die meisten der Befragten offenbar mehr Sex haben.

Wunsch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Wobei es auch erstaunliche Antworten gibt. Sogar einige sich als asexuell identifizierende Personen wünschten sich mehr Sex.

Wie ist das zu erklären?

Asexualität liegt auf einem Spektrum. Viele asexuelle Menschen erleben überhaupt keine sexuelle Anziehung, andere selten. Asexuelle können trotzdem regelmässig Sex haben. Wenn man sieht, aus wie vielen Gründen die Leute Sex haben, ist nicht überraschend, dass er einem fehlt. Man möchte sich dem Partner nahe fühlen, Sex bringt Entspannung. Vielleicht will man auch einfach wie alle anderen sein.

In einer wissenschaftlichen Untersuchung aus den USA gaben die Befragten 237 verschiedene Gründe an, weshalb sie Sex haben. Welche haben Sie überrascht?

Eine der krassesten Antworten war: um jemand anderen mit einer sexuell übertragbaren Krankheit anzustecken. Manche haben aus Rache Sex, «um das Thema zu wechseln» oder um Streit zu vermeiden. Interessant fand ich auch die stereotypen Antworten: Man hat Sex als Mittel gegen Kopfschmerzen oder um danach besser einzuschlafen.

Und um Kalorien zu verbrennen!

Daraus resultiert dann bestimmt kein guter Sex.

Es ist umstritten, ob es Asexualität überhaupt gibt, oder ob es sich nicht um sexuelle Lustlosigkeit handelt, von der offenbar immer mehr Leute betroffen sind. Das sagen jedenfalls Urologen und Sexualtherapeuten. Ist das nicht einfach nur ein weiteres Label?

Es ist nicht dasselbe. Asexuelle leiden in der Regel nicht unter ihrer Lustlosigkeit. Sie leben gut damit. Davon betroffen ist eine kleine Gruppe, je nach Studie 1 Prozent der Bevölkerung. Was andere erotisch anspricht, lässt asexuelle Menschen kalt.

Junge Leute haben einen starken Sexualtrieb. Nun trifft Ihr Befund aber nicht etwa nur auf die über 70-Jährigen zu, sondern genauso auf die Generation Z. Warum haben junge Leute so wenig Sex?

Weil sie so gestresst sind und Stress die Libido verringert. Viele junge Leute sind psychisch angeschlagen. Das zeigen diverse Studien, das hört man von Psychotherapeuten, die keine freien Therapieplätze mehr haben. Angst und Depressionen unter Jungen nehmen zu, die Medikamente dagegen dämpfen das Verlangen.

Was ist mit dem Handy als Sex-Verhinderer?

Das Internet trägt seinen Teil zur sexuellen Abstinenz bei. Das Handy hält die Leute davon ab, sich physisch zu treffen. Sich zu berühren, zu umarmen, sich wirklich aufeinander einzulassen, in Kontakt zu sein. Die Qualität von Freundschaften nimmt dadurch ab. Wenn es einem schlecht geht, fehlt ein soziales Netz. Man sitzt einsam zu Hause. Das macht mir mehr Sorgen als die Tatsache, dass die Leute weniger Sex haben.

Andererseits sind die Jungen vernünftig, wie es zum Bild dieser Generation passt: Sie berauschen sich weniger, was sich auch auf ihr Sexleben auswirkt.

Die Jungen, aber auch die übrige Bevölkerung, konsumieren weniger Alkohol, und das hat ebenfalls weniger Sex zur Folge. Der alkoholisierte Sex ist meistens nicht gut, man bereut es am Morgen, wenn man plötzlich neben dem Ex-Freund aufwacht.

Der Rausch senkt Hemmungen. Kann das manchmal nicht auch helfen, sich fallen zu lassen?

Manche Leute nehmen weitere Drogen, um besseren Sex zu haben. Es stimmt, dass man im Rausch von sich abrücken kann, nicht ständig an die Arbeit denkt oder weniger Versagensängste hat. Ich kann es trotzdem nicht empfehlen.

Die Frauen sind besser ausgebildet denn je. Sie orientieren sich in ihrem Dating-Verhalten aber weiterhin nach oben, der Mann muss ihnen intellektuell mindestens ebenbürtig sein. Ist auch dies ein Grund für den Verzicht auf Sex?

Unbedingt. Seit Frauen vom Mann finanziell unabhängig sind, fordern sie auch mehr von einer Beziehung. Dabei wählt die Frau meist den Mann aus und nicht umgekehrt. Das ist kein Feminismus, sondern Evolutionstheorie. Will eine Frau Sex von einem Mann, erhält sie ihn. Wenn eine Frau die Wahl hat, eine Beziehung einzugehen, in der sie schlechten Sex hat oder allein zu bleiben, bleibt sie lieber allein. So haben Frauen zwar weniger Sex, aber damit auch weniger schlechten Sex. Denn noch immer kommen auf drei Orgasmen eines Mannes nur ein Orgasmus einer Frau.

Kennen die Männer den weiblichen Körper wirklich immer noch so schlecht?

Es gibt das Beispiel des Mannes, der glaubte, einen Orgasmus seiner Frau daran zu erkennen, dass sie Gänsehaut bekam.

Seit Frauen auswärts arbeiten, kommt die Doppelbelastung hinzu. Da ist man abends dann nur geschafft.

Sieht man den Wäschestapel neben dem Bett und weiss, dass später noch gebügelt werden muss, verringert das die sexuelle Lust garantiert. So berichten es die Frauen. Bei den Männern verändert sich das nicht. Die Männer hingegen sagen, dass sie weniger Sex hätten, sobald kleine Kinder da sind. Den Frauen schien das gar nicht aufzufallen. Vielleicht erwarten die Frauen nichts anderes als weniger Sex, während dies den Männer noch nicht klar ist.

Inwiefern spielen auch der Feminismus und #MeToo eine Rolle, dass man eben nicht mehr alles mitmacht als Frau?

Weniger Sex bedeutet tatsächlich, dass man weniger ungewollten einvernehmlichen Sex hat. Darunter verstehe ich: Man hat ein Date, geht mit dem Mann nach Hause, möchte eigentlich nicht, dass mehr passiert, und trotzdem wehrt man sich nicht gegen die Annäherungsversuche. Der Mann ist vielleicht ganz nett. Man ist ambivalent, fühlt sich hin- und hergerissen. Ab einem gewissen Punkt denkt man: Jetzt sind wir schon so weit gegangen, lasse ich es doch geschehen.

Das sind dann die Grenzfälle, in denen man dem Mann Jahre später vorwirft, die Zeichen der Ablehnung nicht gelesen zu haben.

Ja. Viele Menschen, die regelmässig diesen ungewollten Sex haben, leiden unter Kindheitstraumata. Sie gelangen besonders schnell in Situationen, in denen sie nicht richtig auf ihren Körper hören. Der Partner kann da nicht viel machen, weil der andere von sich aus selbst gar nicht weiss, was er will. Diese Menschen haben in der Regel häufig Sex, ohne dass es sie glücklich machte. Mehr Sex heisst also nicht automatisch Befriedigung.

Sie schreiben, dass das Begehren der Männer in langjährigen Beziehungen stärker bleibt als dasjenige der Frauen. Das klingt zwar etwas klischiert, aber Sie stützen sich auf Daten. Sagen Frauen heute einfach auch eher einmal Nein, während sie früher alles mitgemacht haben, um ihn bei Stimmung zu halten?

Lange war Vergewaltigung in der Ehe nicht einmal ein Straftatbestand. Gut möglich also, dass sich Frauen früher eher zu Sex nötigen liessen, weil dieser einfach in eine Ehe gehörte, während sie heute sagen: Du hast kein Recht auf Sex, aber ich habe ein Recht auf meine körperliche Selbstbestimmung. Das erachte ich als eine gute Entwicklung.

Was ist mit dem Mann, an den es die Erwartung gibt, dass er immer will und kann?

Natürlich kann sich auch ein Mann zu Sex genötigt fühlen. Die Männer stehen unter Druck, ihre Männlichkeit zu beweisen. Es ist verständlich, wenn auch sie sich vermehrt verweigern.

Sex ist so präsent in der Werbung, den Medien, im Internet, dass einem die Lust vergehen kann. Im 19. Jahrhundert war der Anblick eines geschwungenen Fusses eines Fauteuils schon erregend. Ist die Sexualität geheimnislos geworden?

Die Viktorianer haben die Tischdecke eingeführt, damit man die Tischbeine nicht mehr sieht. Die Beobachtung, dass wir heute nichts mehr der Phantasie überlassen, da wir Sexualität so explizit benennen und zeigen, ist wichtig. Dennoch sind es äussere Stimuli, also Bilder, die zu sexueller Erregung führen, bei Männern noch mehr als bei Frauen, für die Beziehungsaspekte tendenziell wichtiger sind, um für sexuelle Lust empfänglich zu sein.

Das klingt jetzt alles so, als müsste man sich freuen, dass Sigmund Freud endlich widerlegt ist und die Sexualität an Bedeutung verliert. Mehr Achtung voreinander scheint weniger Sex zur Folge zu haben. Weshalb haben die Menschen überhaupt noch Sex?

Weil es grundsätzlich etwas Schönes ist. Sex lässt die Beteiligten eine Verbundenheit spüren. Es erzeugt Nähe. Das Verlangen belebt, und die Befriedigung bewirkt, dass man mehr davon will. Es gibt also eine Art Aufwärtsspirale: Guter Sex führt zu gutem Sex.

Die Psychologin Juliane Burghardt forscht an der Karl-Landsteiner-Universität in Krems an der Donau. Vor kurzem ist ihr Buch «Alles kann, nichts läuft: Warum wir immer weniger Sex haben» erschienen. S.-Hirzel-Verlag, Stuttgart 2024. 176 S., Fr. 34.90.

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