Mit dem Ende der Sowjetunion schien der Sieg der Freiheit besiegelt. Heute ist die Demokratie bedroht. Durch Ideologisierung von rechts und von links.
Die liberale westliche Ordnung, wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen ist, schien im Jahr des Zusammenbruchs des Sowjetsozialismus ihren endgültigen Triumph feiern zu können. Damals machte Francis Fukuyamas Wort vom «Ende der Geschichte» Furore.
Fukuyamas zumeist nur oberflächlich rezipierte und ursprünglich als Frage formulierte These besagte, die Geschichte habe sich nicht, wie von vielen vorausgesagt, auf eine Konvergenz von Kapitalismus und Sozialismus und damit auf das «Ende der Ideologie» zubewegt. Sie habe vielmehr mit einem eindeutigen Sieg der liberalen Demokratie und der kapitalistischen Marktwirtschaft über das freiheitsfeindliche System der Sowjetunion geendet.
Der Kern der These wird vom Aufstieg von Autokratien, die, wie die russische, die völkerrechtliche Ordnung mit Füssen treten, nicht widerlegt. Und auch durch die zunehmende Aggressivität und geopolitische Dominanz Chinas und Nordkoreas nicht. Denn Fukuyama meinte, im geschichtlichen Prozess setze sich am Ende das Bessere und Richtige durch. Auch für nichtwestliche Länder sei klargeworden, dass es keine gangbare Alternative zum politischen und wirtschaftlichen Liberalismus gebe.
Die besseren Ideen
Diese gemäss Fukuyama von Hegel inspirierte Sicht der Geschichte dient dem Ausdruck seiner Überzeugung, letztlich seien es die besseren Ideen, die politisch, wirtschaftlich, sozial und vor allem kulturell zum Erfolg führten, sich schliesslich durchsetzten und damit ihre Alternativlosigkeit unter Beweis stellten.
Dieses Bessere und Richtige scheint zurzeit gefährdet zu sein. Nicht allein wegen das Aufstiegs neuer autokratischer Herrschaftsformen und nicht nur wegen der Wiederkehr kriegerischer Auseinandersetzungen, sondern auch durch die wachsende westliche Geschichtsblindheit. Und schliesslich durch ein moralisch aufgeladenes und damit Andersdenkende ausgrenzendes Verständnis von «Demokratie», nach dem alles Linke demokratisch und alles Nichtlinke, weil «rechts», auch undemokratisch ist.
Was die Angelsachsen «liberal democracy» nennen – Kontinentaleuropäer sprechen eher vom demokratischen Verfassungs- oder Rechtsstaat –, ist jedoch nicht einfach «Demokratie». Das demokratische Element kam sogar erst relativ spät hinzu. Die liberale Demokratie ist die Frucht einer Geschichte von teilweise blutigen Konflikten, die dazu führten, dass Konfliktlösungsstrategien etabliert wurden.
Die Macht des Staats bändigen
Voraussetzung von Demokratie im liberalen Verständnis ist ein komplexes Gefüge von Institutionen, die sich im Laufe der Geschichte herausbildeten. Sie dienen der Sicherung von Frieden, Sicherheit und individueller Freiheit. Sie sorgen für angemessene Repräsentation und Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger und bieten deshalb auch die Grundlage für wirtschaftliche Prosperität.
Demokratie im liberalen Verständnis schöpft ihre Legitimität aus der Überwindung der Probleme, die der Ausbildung moderner Staatlichkeit und ihrer Eingrenzung und Kontrolle zugunsten der Freiheit zugrunde lagen. Dabei war das erste und vordringlichste Problem die Gefahr des Bürgerkriegs, der in der frühen Neuzeit in seinen konfessionellen Ausprägungen eine besonders schmerzliche Erfahrung war. Die Lösung dafür war der souveräne Staat, der im Dienste der inneren Befriedung das Monopol legitimer Gewaltausübung beanspruchte.
Zweitens ging es darum, die dadurch erzeugte Macht und Willkür staatlicher Zwangsgewalt institutionell zu bändigen und die Rechte und die Freiheit des Einzelnen zu sichern. Dies wurde durch den liberalen Rechts- und Verfassungsstaat erreicht, der auf der Anerkennung individueller Freiheitsrechte, Parlamentarismus und Gewaltenteilung gründet.
Die Gefahr des Totalitären
Erst in einer dritten Phase schliesslich erhob sich die Forderung nach angemessener Repräsentation und diskriminierungsfreier Partizipation aller an der politischen Willensbildung. Dies geschah durch Demokratisierung des liberalen Verfassungsstaates, insbesondere durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts.
Das historisch jüngste, das «demokratische» Element setzt dabei alle anderen voraus und schliesst sie ein. Wird die Einbindung des demokratischen Elements in die Strukturen des liberalen Verfassungsstaates missachtet, die der Demokratie historisch vorausliegen, beginnt sich Demokratie als Herrschaft der Mehrheit gegen die Freiheit des Einzelnen zu richten. Sie wird illiberal und kann, wie die Geschichte lehrt, im Extremfall totalitäre Züge annehmen.
Sowohl die Erinnerung an die historische Genese des liberalen Verfassungsstaates wie auch die nüchterne Sicht auf Demokratie sind gerade heute wichtig. Denn es macht sich – wieder, muss man sagen –ein Demokratieverständnis breit, das dem Geist der aus der geschichtlichen Entwicklung entstandenen liberalen Ordnung diametral entgegengesetzt ist und sie deshalb von innen her zu gefährden droht.
Frieden und Freiheit
Es ist ein Verständnis von Demokratie, dem es nicht in erster Linie um Recht, Gleichheit und Frieden geht. Auch nicht um die individuelle Freiheit und die gesellschaftliche Zusammenarbeit. Es ist ein Verständnis, das an die Demokratie einen inhaltlichen und emanzipatorischen Anspruch stellt: Alles «Demokratische» soll zu einem moralisch und normativ aufgeladenen Programm erhoben werden – um den Preis, dass alle als undemokratisch ausgegrenzt werden, die dem Programm und seinen moralischen Forderungen nicht zustimmen.
Die Gefahr einer solchen Ideologisierung des Demokratischen liegt darin, dass die komplexen institutionellen Voraussetzungen der modernen Demokratie nicht mehr verstanden werden. Und dass zugleich die Erinnerung an ihre Genese aus der Überwindung von ideologisch-konfessionellen Bürgerkriegen, Willkür und Machtmissbrauch, Unterdrückung der Freiheit und Standesprivilegien verlorengeht.
Verloren geht damit vor allem das liberale Verständnis des Rechts als Instrument der Friedens- und Freiheitssicherung. Es wird vergessen, dass ohne die Unterwerfung von Machtansprüchen unter das Recht keine Freiheit möglich ist – selbst wenn die Machtansprüche demokratisch legitimiert sind. Weil dann Demokratie als Herrschaft der Mehrheit zur Gefahr für die Freiheit wird. Greifbar wird das etwa an der zunehmenden Aushöhlung der Verfügungsgewalt über das Privateigentum und an der Beschränkung der unternehmerischen Freiheit durch staatlich verordnete Nachhaltigkeitsagenden und eine Industriepolitik, die sich nur daran orientiert.
Wie Freiheit verspielt werden kann
Die liberale Ordnung, deren Zerfall bereits weit fortgeschritten ist, war zum grossen Teil eine Nachkriegsordnung. Sie nährte sich aus den Erfahrungen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Sie versprach Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Kontrolle der staatlichen Macht und vor allem: Frieden und Prosperität. Ähnliches gilt auch für die Erwartungen nach 1990 und dem Ende des Kalten Krieges, dem Sieg der westlichen liberalen Demokratien.
Aber gerade hier liegt das Problem: Im Rückblick haben sich diese Erwartungen zwar in einem weit höheren Masse erfüllt, als zu erhoffen war. Aber sie erfüllten sich in einer Zeit und an Menschen, die nicht von den Erfahrungen geprägt waren, auf deren Boden die Erwartungen einst herangewachsen waren. Die Erwartung erfüllte sich an Menschen, für welche die Segnungen einer liberalen Ordnung keine Hoffnung waren, sondern das Selbstverständliche, mit dem sie sozialisiert wurden.
So hat sich im Lauf der Zeit das Bewusstsein verflüchtigt, dass Freiheit und Prosperität nichts Selbstverständliches sind. Und dass ihre institutionellen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen ein so kostbares wie zerbrechliches Zivilisationsprodukt sind, auf dessen Grundlage allein real mögliche Freiheit gesichert – aber auch verspielt werden kann.
Anspruch ohne Verantwortung
Verspielt werden können Freiheit und Prosperität durch Feigheit und Unentschlossenheit gegenüber Rechtsbrüchen und Aggressionen derer, die die auf dem Recht beruhende internationale Ordnung nicht zu respektieren gewillt sind. Verspielt werden können sie durch eine Wohlstandsmentalität, die nur noch Ansprüche formuliert, aber weder Eigenverantwortung noch Haftung zu übernehmen bereit ist.
Verspielt werden können sie aber auch durch eine ideologisch genährte libertär-anarchistische Ablehnung des Staates und die damit verbundene, dazugehörige Verachtung der Demokratie. Eine Haltung, die vergisst, welches die Voraussetzungen für Frieden, Sicherheit und Freiheit sind. Und verspielt werden können Freiheit und Prosperität schliesslich auch dadurch, dass man die Funktion der sie schützenden Rechtsinstitutionen nicht mehr versteht und sie damit schwächt.
Diesen Tendenzen entgegenzuwirken – darin liegt die heute wichtigste Aufgabe der liberalen Kräfte der Gesellschaft. Ein Ende der Geschichte ist nicht in Sicht. Aber es sollte uns klar sein, was in der Auseinandersetzung der Ideen und der von ihnen geprägten Systeme jenes Bessere und Richtige ist, das es schon deshalb zu verteidigen gilt, weil es dazu zwar verschiedene Ausformungen, aber keine praktikable Alternative gibt. In diesem Sinne ist zumindest die Geschichte des 20. Jahrhunderts durchaus an ein Ende gelangt.
Martin Rhonheimer lehrte Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom; er ist Gründungspräsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy in Wien.