Donnerstag, November 14

Der Literaturwissenschafter und Schriftsteller Thomas Strässle erzählt in «Fluchtnovelle» die Geschichte seiner Eltern: zwei Verliebte zwischen Ost und West. Aber ganz bei sich.

Es fängt schon beim Titel an: «Fluchtnovelle». Das eine, die Novelle, wirkt ganz leicht. In «Flucht» dagegen steckt die Schwere menschlicher Not. Tatsächlich ist es ein in mehrfachem Sinne doppelköpfiges Buch, mit dem Thomas Strässle die Geschichte seiner Eltern literarisch aufarbeitet. So berührend und kurios ist ihr Fall, dass sich seiner schon der Schweizer Schriftsteller Hermann Burger annehmen wollte.

Zwei junge Menschen, die einander zufällig in der DDR kennenlernen und alles daransetzen, ihr Leben miteinander zu verbringen. Was die beiden verbindet, ist schnell klar: die Liebe. Was sie vorerst aber trennt, sind Staatsgrenzen und Stacheldrähte. Sie ist aus Leipzig und er aus der Schweiz. Damit beginnt die Novelle rund um einen west-östlichen Grenzverkehr, die ein fast schon politisches Happy End findet.

Achtung: Republikflucht

Mitte der sechziger Jahre macht sich eine Gruppe Schweizer Studenten auf, die kulturellen Kernzonen des östlichen Deutschland kennenzulernen. Man fährt nach Weimar und später auch nach Erfurt. Viel ist nicht los in der thüringischen Stadt, aber im «Haus der Roten Armee», so haben die jungen Männer gehört, soll es noch Getränke geben.

Und da ist sie: Kunststudentin aus Dresden, kinnlanges Haar, schmale Wangen. Diese Merkmale werden später eine Rolle spielen, wenn es darum geht, sie dem sozialistischen Staat zu entreissen und in die Schweiz zu entführen. Das Juristendeutsch der DDR sieht in dieser Form der Republikflucht finstere Zwecke: die «ökonomische und politische Schädigung der Deutschen Demokratischen Republik» und die «Versorgung der imperialistischen Rüstungsindustrie mit gut ausgebildeten Fachkräften». Wer Bürger des Arbeiter- und Bauernstaates in das «Lager der Kriegstreiber» bringe, mache sich der Verhetzung schuldig.

Man wird die Schweiz der sechziger Jahre schwerlich der Kriegstreiberei bezichtigen können. Aber Thomas Strässle bezweckt mit den Zitaten aus der verschriftlichten Paranoia der DDR etwas ganz Bestimmtes. Seine Novelle schildert bis ins Detail, wie das Private mit dem Politischen kollidiert. Die Geschichte seiner Eltern ist einmalig, und doch steht sie stellvertretend für Tausende ähnliche Schicksale.

Ganz sacht erzählt Strässle in seinem Buch. Er springt vor und zurück und bringt auch die Perspektive eines Ichs ein, das er wohl selbst ist. Nachforschungen werden angestellt und mit Kindheitserinnerungen verglichen. Erinnerungen an Fahrten mit den Eltern nach Chemnitz, wo die Grossmutter lebte.

Die «Fluchtnovelle» ist trotz ihrer Kürze Gefühls- und Kriminalgeschichte in einem. Ein ganzer Staat muss ausgetrickst und mit seinen eigenen Waffen geschlagen werden. Akribisch bereitet Thomas Strässles Vater im Sommer 1966 ein Verwirrspiel vor, mit dem es gelingen soll, die Freundin in die Schweiz zu bringen. Für die Behörden muss sie eine andere sein, um für ihn die eine werden zu können.

Drehbuch für einen inneren Film

Halb Literaturwissenschafter, halb Schriftsteller, hat Strässle grossartiges Material zusammengetragen. Er hat sich in den Stasi-Akten umgesehen und Hermann Burgers Interview-Tonbänder abgehört, die im Schweizerischen Literaturarchiv liegen. In der Novelle kann man Originalzitate nachlesen. Burger hätte aus dem Stoff vielleicht einen ganzen Roman gemacht und alles auserzählt. Strässles kunstvolle Novelle aber konzentriert das Geschehen und schafft etwas Atmosphärisches: das Drehbuch für einen inneren Film des Lesers.

Man meint, dem Vater zuschauen zu können, wie er zum Passfälscher wird und als Herzensagent durch die kommunistischen Bruderstaaten reist, um nach geeigneten Schlupflöchern im System zu suchen. Die unerbittliche Akkuratesse der DDR ist das eine, die Pflichtversessenheit der Schweizer Behörden das andere. In einem Brief an diese versucht der junge Mann seine Vorgehensweise beim Kidnapping seiner Freundin zu erklären und schreibt: «Der Unterzeichnete hält eine Darlegung seiner Motive für unnötig.»

Thomas Strässle: Fluchtnovelle. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 122 S., Fr. 25.90.

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