Sonntag, Oktober 6

Bei der Frage nach möglichen Koalitionspartnern zeigen sich die Risse im linken Parteispektrum. Die einen schliessen eine Zusammenarbeit mit dem Macron-Lager aus – andere zeigen sich offener.

An der Place de Stalingrad in Paris, benannt nach der berühmten Schlacht zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion, herrscht am Sonntagabend Jubelstimmung. «Unser Volk hat klar die schlimmste Lösung ausgeschlossen», ruft Jean-Luc Mélenchon, Vorsitzender der radikal linken Partei La France insoumise, seinen Anhängern zu. Völlig überraschend hat sein linkes Wahlbündnis, der Nouveau Front populaire (NFP), die vorgezogene Parlamentswahl gewonnen. Und Mélenchon erklärt sogleich, was nun getan werden muss: «Der Präsident hat die Macht und die Pflicht, die neue Volksfront zum Regieren aufzufordern.»

Wenige Kilometer entfernt findet eine weitere Feier statt – die der französischen Sozialisten. Im Veranstaltungszentrum La Bellevilloise im 20. Arrondissement beschwört der erste Sekretär der Partei, Olivier Faure, die Einigkeit der Linken: «Wir werden uns nicht auf eine Koalition der Gegensätze einlassen.» Er selbst habe «nur einen Kompass», erklärt Faure, nämlich den des «Programms der Neuen Volksfront».

Die Linken haben die Wahl gewonnen, nun wollen sie regieren. Und das am liebsten allein. Doch das geht nicht: Zusammen haben die vier Bündnisparteien 180 Sitze in der neuen Nationalversammlung geholt, das ist weit von der absoluten Mehrheit von 289 Sitzen entfernt. Für eine Koalition infrage kommen allerdings nur das Präsidentenlager Ensemble und die konservativen Républicains. Und ein solches Zusammengehen schliessen nicht nur Mélenchon und Faure aus, sondern auch hochrangige Politiker der jeweiligen anderen Parteien – bis jetzt zumindest.

Wie einig ist das linke Lager wirklich?

Die Regierungsbildung in Frankreich wird kompliziert, und ihr Erfolg hängt massgeblich davon ab, ob das linke Lager so einig ist, wie es sich gibt. Dagegen sprechen nicht nur die vier separaten Partys, welche die Parteien am Wahlabend abhielten. Auch inhaltlich stehen sie teilweise weit auseinander. Die Tatsache, dass die Linke so kurz nach der Ausrufung der Neuwahlen durch Macron zusammenfinden konnte, hatte für einige Überraschung gesorgt.

Zu dem Bündnis zählen Kommunisten, die eine 32-Stunden-Woche fordern und unterstreichen, jeder Arbeiter solle weiter sein Schnitzel essen dürfen, ebenso wie die grüne Partei, die sich besonders für Umweltthemen einsetzt. Hinzu kommen die eher sozialdemokratischen Sozialisten und La France insoumise (LFI), die grösste Partei in dem Zusammenschluss. Der Parteichef Mélenchon trat in jüngster Zeit vor allem propalästinensisch auf und verharmloste Antisemitismus, als Präsidentschaftskandidat versprach er eine neue Verfassung. In den Reihen der Partei finden sich neben Hamas-Sympathisanten auch Globalisierungskritiker und Putin-Versteher.

LFI ist der Hauptgrund, warum zahlreiche Politiker der Mitte, unter ihnen auch Präsident Macron, eine Zusammenarbeit mit dem Linksbündnis ausschliessen. Doch die Dominanz, die die Partei in dem linken Bündnis hat, ist weniger gross als auch schon. In der neuen Nationalversammlung kommt sie auf 71 Sitze, die Sozialisten liegen mit 64 knapp dahinter.

Gemässigte Linke sind offen für Koalition

Und unter den Sozialisten gibt es gemässigte Stimmen, die eine gewisse Offenheit für die Zusammenarbeit mit der Mitte signalisieren. Der ehemalige Präsident François Hollande, der mit der Wahl am Sonntag ins Parlament zurückkehrt, betonte, das Land brauche eine Befriedung – und die vereinigte Linke müsse dabei eine Rolle spielen. Auch Raphaël Glucksmann, Spitzenkandidat der Sozialisten bei der Europawahl, gilt im Macron-Lager als gemässigter Linker, mit dem man diskutieren könnte. Er erklärte am Wahlabend, man müsse sich nun «wie ein Erwachsener verhalten».

Der grünen Parteichefin Marine Tondelier wird ebenfalls zugetraut, zwischen den zerstrittenen Lagern zu vermitteln. Tondelier lebt und politisiert im Wahlkreis von Marine Le Pen und kämpft dort seit Jahren gegen den Aufstieg der Rechtsextremen. «Die Frage ist jetzt einfach: Wer von den republikanischen Kräften ist bereit, unser Programm zu unterstützen?», sagte sie am Sonntag. Zudem hob sie hervor, dass der Sieg der Linken vor allem dem Zusammenschluss der Parteien zur republikanischen Front zu verdanken war.

Doch auch im LFI-Lager gibt es solche, die mit ihrem rabiat auftretenden Parteichef Mélenchon uneins sind. Die prominenteste Figur unter ihnen ist der Journalist und Satiriker François Ruffin, der 2017 erstmals in die Nationalversammlung einzog. «Es liegt an uns, mit ganz Frankreich zu sprechen», erklärte er am Wahlabend. Man müsse sich bewusst sein, dass man nur «eine sehr, sehr relative Mehrheit und eine Minderheit im Land» habe. Einige wiedergewählte LFI-Kandidaten, unter ihnen auch Ruffin, haben bereits angekündigt, die Fraktion der Partei zu verlassen.

Ein zähes Ringen um die Mehrheit steht bevor

Die gemässigten Linken könnten nun versuchen, die Unterstützung des Macron-Lagers zu gewinnen. Wie auch Macron haben sich die Vorsitzenden der anderen beiden Parteien in dem Lager, Mouvement démocrate und Horizons, für ein «demokratisches und republikanisches Bündnis» ausgesprochen – eine Formulierung, die viel Interpretationsspielraum lässt. Der Horizons-Vorsitzende Édouard Philippe warnte am Sonntag davor, dass die «Glaubwürdigkeit unseres Landes» belastet wäre, falls sich keine Mehrheit finden würde.

Wie zäh das Ringen um eine solche Mehrheit werden dürfte, zeigt ein Blick auf die detaillierte Sitzverteilung. Ein komfortables absolutes Mehr käme zustande, wenn sich NFP und Ensemble als ganze zusammenschliessen würden. Ein solches Szenario ist allerdings ausgeschlossen.

Finden sich die gemässigten Kräfte des linken Lagers mit den Macronisten zusammen, fehlen zur absoluten Mehrheit immer noch 29 Sitze. Es wäre also eine Zusammenarbeit mit den konservativen Republikanern nötig. Diese wiederum gaben noch am Sonntagabend zu verstehen, dass sie nicht für eine Koalition zu haben sind.

Hinzu kommt, dass die französische Politik über keinerlei Erfahrung mit Koalitionen verfügt. Präsident Macron lässt sich darum noch etwas Zeit damit, einen Premierminister zu ernennen, Gabriel Attal bleibt vorläufig im Amt. Der Nouveau Front populaire hat mitgeteilt, im Laufe der Woche einen Kandidaten für das Amt des Regierungschefs vorzuschlagen. Von dieser Personalie wird es abhängen, ob die Mitte und die Linke zusammenfinden – oder ob eine lange Periode der Unsicherheit bevorsteht.

Die wichtigsten Versprechen des Nouveau Front populaire

Sozialpolitik: Der soziale Wohnungsbau soll beschleunigt und die Mieten in Gebieten mit hoher Nachfrage gedeckelt werden. Der Mindestlohn wird um 200 Euro auf 1600 Euro angehoben, die Preise von einigen Grundnahrungsmitteln und Treibstoffen sollen gedeckelt werden. Jeder Franzose und jede Französin wird das Recht haben, mit 60 in Rente zu gehen.

Einwanderung: Das Anfang des Jahres verschärfte Immigrationsgesetz soll abgeschwächt werden; insbesondere der Zugang zur medizinischen Grundversorgung für Flüchtlinge soll möglich bleiben. In Frankreich geborene Kinder ausländischer Eltern sollen einen leichteren Zugang zur Staatsbürgerschaft erhalten; Gleiches soll für Hunderttausende von Sans-Papiers gelten, die in Frankreich leben und arbeiten.

Steuern: Die von Macron abgeschaffte Vermögenssteuer soll wieder eingeführt werden. Zudem sollen Unternehmen, die sogenannte Superprofite erzielen, zusätzliche Abgaben leisten müssen. Die Einkommensteuer, heute in 5 Progressionen aufgeteilt, wird künftig 14 Kategorien haben. Erben soll nur noch bis zu einem Maximalbetrag möglich sein – und unter einer höheren Besteuerung.

Gesellschaft und Sicherheit: Bei Justiz und Polizei soll der Personalnotstand behoben werden. Für allfälliges Fehlverhalten der Polizei soll eine externe unabhängige Disziplinarkommission gegründet werden. Der Einsatz von grosskalibrigem Gummigeschoss – eine umstrittene französische Eigenheit – wird verboten. Wer sein Geschlecht ändern möchte, kann das kostenlos in einem Rathaus tun. Zudem wird ein Menstruationsurlaub eingeführt und der Kampf gegen Antisemitismus und Islamophobie verstärkt.

Aussenpolitik: Das Bündnis positioniert sich proeuropäisch. Die Waffenlieferungen an die Ukraine sollen fortgesetzt, jene an Israel allerdings vorübergehend gestoppt werden – solange die Regierung das Völkerrecht im Gazastreifen und im Westjordanland nicht respektiere. (nbe.)

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