Vor fünfzig Jahren starb der RAF-Terrorist Holger Meins an den Folgen eines Hungerstreiks. Die RAF erklärte Meins zum Märtyrer, das Foto seiner Leiche wurde zur Ikone. Der Historiker Wolfgang Kraushaar sagt, warum das eine Zäsur war.
58 Tage lang war Holger Meins im Hungerstreik. Am Ende wog er bei einer Grösse von 1 Meter 83 noch 39 Kilogramm. Vor fünfzig Jahren, am 9. November 1974, starb Meins im Gefängnis.
Holger Meins war ein Terrorist der Rote-Armee-Fraktion (RAF), die ab 1970 in der Bundesrepublik Anschläge verübte, Bomben legte, Politiker und Wirtschaftskader entführte und ermordete. 200 Personen hat die RAF zwischen ihrer Gründung 1970 und ihrer Auflösung 1998 verletzt, 34 ermordet. Gemeinsam mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Mahler und Ulrike Meinhof bildete Holger Meins die erste Führungsriege der RAF. Anfang der 1970er Jahre löste diese kleine Clique in der Bundesrepublik Furcht, Schrecken, aber auch Faszination aus.
Während des Hungerstreiks wurde Holger Meins zwangsernährt. In den Tagen vor seinem Tod hat die Justiz die Kalorienzufuhr für ihn gedrosselt. Kurz vor dem Tod von Meins verlangte sein Anwalt vom zuständigen Richter, einen Vertrauensarzt vorzulassen. Der Richter lehnte ab.
Wolfgang Kraushaar, hätte die Bundesrepublik den Tod von Holger Meins verhindern müssen?
Die Justiz hätte mehr tun müssen, um den frühzeitigen Tod von Holger Meins zu verhindern. Zum Beispiel mit einer besseren medizinischen Versorgung. Allerdings haben die Gefangenen der RAF ihr Schicksal selbst bestimmt. Andreas Baader, der Anführer der RAF, hat das Ende von Meins in sehr zynischer Weise bereits vorweggenommen. Er sagte einmal, beim Hungerstreik würden «Typen kaputtgehen».
Wie prägte der Tod von Holger Meins die öffentliche Meinung über die RAF?
Die Fotos des toten, völlig abgemagerten Holger Meins mit seinem ausgemergelten Gesicht und seinem langen Bart entfalteten eine derartige Wucht, dass man von einer Zäsur sprechen muss. Die linke Öffentlichkeit sah in Holger Meins nicht mehr bloss einen Gewalttäter, sondern ein Opfer, einen Märtyrer. Und das wurde auf die RAF als Ganzes übertragen. Sympathisanten trugen diese Bilder an Demonstrationen wie eine Monstranz vor sich her. Das weckte Assoziationen.
Die Leiche von Holger Meins erinnerte an den toten Jesus Christus.
Ja, aber sie erinnerte auch an die Bilder von verhungerten KZ-Häftlingen. Jesus und Auschwitz in Kombination, das war wirkungsmächtig. Birgit Hogefeld, eine der zentralen Figuren der dritten Generation der RAF, erklärte einmal, dass diese Bilder sie dazu brachten, sich der RAF anzuschliessen. Auch Siegfried Haag, der Anwalt von Holger Meins, ging nach dem Tod seines Mandaten in den Untergrund und wurde Terrorist. In den Jahren 1975/76 war er der Anführer der RAF.
Die RAF wollte mit den Hungerstreiks den eigenen Körper zu einer Waffe machen. Wie effektiv war diese Waffe?
Seit Juni 1972 sass die gesamte Führungsriege der RAF in Haft: Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Holger Meins. Sie alle traten immer wieder in Hungerstreiks. Viele dachten damals, die sogenannte Baader-Meinhof-Gruppe sei am Ende. Das war ein furchtbarer Trugschluss. Die RAF war nie stärker als zu dieser Zeit. Nie hatte sie so viele Unterstützer und Sympathisanten. Und die, man muss es ganz klar sagen, haben sich von der Selbstinszenierung der RAF einlullen lassen.
Wie meinen Sie das?
Der RAF gelang es, die sogenannte Isolationsfolter zum bestimmenden Thema in der Öffentlichkeit zu machen. Sie behauptete, die Justiz würde die Gefangenen durch Sinnesentzug und Abschottung von ihren Angehörigen und Mithäftlingen «foltern». Problematische Haftbedingungen gab es aber eigentlich nur in zwei Fällen, beide im Gefängnis Köln-Ossendorf.
Wo die RAF-Terroristinnen Astrid Proll und Ulrike Meinhof gleichzeitig in Einzelhaft sassen.
Proll und Meinhof sassen in einer Zelle, wo kein Geräusch von aussen eindrang. Tag und Nacht brannte grelles Licht. Sie hatten keine sozialen Kontakte mehr. Sie drohten tatsächlich an einem totalen Sinnesentzug psychisch zugrunde zu gehen. Aber später, im Sondertrakt für RAF-Häftlinge in Stuttgart-Stammheim, war exakt das Gegenteil der Fall: Baader, Raspe, Meinhof und Ensslin fanden hier geradezu exzellente Haftbedingungen vor.
Exzellent?
Für das anstehende RAF-Hauptverfahren wurden die Gefangenen im Gefängnis Stuttgart-Stammheim im 7. Stock auf einer eigenen Etage untergebracht. Sie hatten Zugang zu allen möglichen Zeitungen und Journalen, sogar zu Waffenjournalen. Sie besassen einen Fernseher, Bücher- und Schallplattensammlungen. Zudem konnten sie tagtäglich mehrere Stunden miteinander verbringen und alles Wichtige besprechen. Das war das glatte Gegenteil von «Isolationsfolter». Dennoch war dieses Etikett nicht mehr wegzubekommen.
Wieso gab es keinen Widerspruch gegen diese Behauptungen?
Manche Zeitungen, wie die «Welt» etwa, haben das von Anfang an in Zweifel gezogen. Aber der «Welt» schenkte man keinen Glauben, sie gehörte schliesslich zum Springer-Verlag. Es gab Medien, denen traute man nicht über den Weg, anderen hingegen sehr. Die Öffentlichkeit war tief gespalten.
Was hätte der Staat diesem Narrativ entgegensetzen können?
Die Justiz hätte sich zumindest um Klarheit bemühen und über die tatsächlichen Haftbedingungen aufklären müssen. Allerdings fragt sich, was das genutzt hätte. Als sich 1977 die verbliebenen Anführer der ersten Generation, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, in derselben Nacht das Leben nahmen, sprach die RAF umgehend von Mord. Und ein grosser Teil der linken Öffentlichkeit wollte genau das hören – dass der Staat, dem man misstraute, gemordet habe. Das rechtfertigte für sie, die RAF weiter zu mythologisieren.
Woher rührte dieses Misstrauen?
Man wusste, dass praktisch jeder Richter und Staatsanwalt in der Nachkriegszeit schon im Nationalsozialismus Teil der Justiz gewesen war. Diese Tatsache befeuerte das Mord-Narrativ der RAF und trug so mit dazu bei, ihre Existenz weiter zu verlängern.
Als die einstige RAF-Terroristin Daniela Klette im Frühjahr verhaftet wurde, gab es in der linksextremen Szene viele Solidaritätsbekundungen. Wie wichtig ist die RAF heute für diese Szene?
Die linksautonome Szene, die 1980 entstanden war, hat sich immer sehr stark an der Militanz der RAF orientiert. Es ging darum, an Demonstrationen zurückzuschlagen, Widerstand zu leisten. So redete man sich die Gewalt schön. Im Hamburger Schanzenviertel hingen schon Plakate für Daniela Klette und ihre beiden Gefährten Burkhard Garweg und Ernst-Volker Staub, als sie noch nicht gefasst worden war.
Die sogenannte Hammerbande um Lina E. hat in den vergangenen Jahren mutmassliche Neonazis überfallen und mit Werkzeugen auf sie eingeschlagen. Sind das die Nachfolger der RAF?
Man kann nicht ausschliessen, dass sich derartige Kreise weiter radikalisieren und irgendwann eine terroristische Folgeorganisation der RAF gründen. Eingetreten ist das bisher nicht. Klar ist aber, dass es in der linksextremen Szene eine neue Gewaltbereitschaft gibt.
Wie meinen Sie das?
Seit dem Ende der RAF gab es in Deutschland immer wieder linksextreme Gruppierungen, die Farbanschläge verübten oder Molotowcocktails warfen. Doch die Hammerbande zeugt von einer neuen Entwicklung. Es gelten scheinbar kaum noch Grenzen bei der Anwendung von Gewalt. Der Prozess gegen Lina E. zwischen 2021 und 2023 hat zudem gezeigt, wie viel Unterstützung diese Gewalttaten in der linksextremen Szene erhalten.
Zur Person
Wolfgang Kraushaar wurde 1948 in Hessen geboren. Seit 1987 arbeitet Kraushaar als Politikwissenschafter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er ist Experte für Protestbewegungen und Terrorismus.
Können Sie sich erklären, warum die Gewalttaten der RAF auch noch Jahrzehnte nach ihrer Auflösung faszinieren?
Das ehemalige RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo hat einmal versucht, sein eigenes Handeln als Terrorist nachträglich zu legitimieren. Er schrieb, Rebellion sei gerechtfertigt. Wer rebelliert, wehrt sich gegen eine bestimmte Politik oder kämpft für kulturelle Freiräume. Aber Rebellion ist nicht Terrorismus. Die Bluttaten der RAF werden immer wieder mit diesem Mythos des Rebellischen ummäntelt, um sie im Nachhinein zu rechtfertigen. Das ist eine Verwirrung, die sämtliche Grenzen verwischt und gefährlich ist.