Sonntag, September 29

Nach diversen westlichen Zentralbanken wird auch das Fed am 18. September die Zinsen senken – möglicherweise sogar um 0,5 Prozentpunkte. Plus: Der Goldpreis erkennt, wohin sich die Fiskalpolitik in den USA bewegt.

«Die Republikaner sind die Partei, die sagt, dass die Regierung nicht funktioniert. Dann werden sie gewählt und beweisen es.»
P.J. O’Rourke, amerik. Autor und Satiriker (1947–2022)

0,25 oder 0,5%?

Das ist die Frage, die die Finanzmärkte gegenwärtig beschäftigt. Dass die US-Notenbank (Fed) am 18. September die Leitzinsen senken wird, ist so gut wie sicher. Offen ist bloss, ob der Offenmarktausschuss unter der Leitung von Jerome Powell eine Senkung um 25 oder um 50 Basispunkte (Bp) beschliessen wird.

Bis vor wenigen Tagen schien klar zu sein, dass es ein «normaler» Schritt von 25 Bp wird. Doch der als «Fed-Flüsterer» bekannte Journalist Nick Timiraos brachte am Donnerstag im «Wall Street Journal» wieder die Möglichkeit eines Doppelschritts ins Spiel. Auch Bill Dudley, der frühere Präsident der Distriktnotenbank New York, sagte in einem öffentlichen Auftritt in Singapur, er würde eine Zinssenkung von 50 Bp befürworten.

Nach diesen Aussagen von zwei einflussreichen Stimmen ist die an den Terminmärkten eingepreiste Wahrscheinlichkeit einer Zinssenkung von 50 Bp am 18. September wieder auf fast 50% gestiegen.

Die Rendite zweijähriger Treasury Notes, ein Vorlaufindikator für die erwartete Zinspolitik des Fed, ist seit Montag um weitere 10 Bp auf unter 3,6% gesunken.

Sollte der Fed-Offenmarktausschuss am kommenden Mittwoch tatsächlich für einen Schritt von 50 Bp stimmen, wäre das ein Eingeständnis, dass er bereits an der letzten Sitzung von Ende Juli mit den Zinssenkungen hätte beginnen sollen. Zudem besteht die Möglichkeit, dass die Märkte verunsichert reagieren könnten («Was sieht das Fed, das wir noch nicht sehen?»).

Doch im grossen Bild der Dinge ist es letztlich egal, ob es 25 oder 50 Bp sein werden. Wichtig ist die Tatsache, dass das Fed dem Beispiel der Europäischen Zentralbank und anderen westlichen Notenbanken folgt: Die Phase der Zinssenkungen ist eingeleitet.

Wir werfen im dieswöchigen «Big Picture» einen Blick auf die Inflation, das Thema Liquidität an den Finanzmärkten, auf die US-Wahlen sowie auf die Staatsfinanzen.

Erinnern Sie sich an die Zeit, als die Marktteilnehmer jeweils mit Bange die Publikation der monatlichen Inflationsdaten in den USA erwarteten? Sie ist vorbei. Jetzt ist es der monatliche Arbeitsmarktbericht, der für Angstschweiss sorgt – was zeigt, dass sich die Märkte nicht mehr vor dem Thema Inflation, sondern vor dem Thema Rezession fürchten.

Die diese Woche publizierten Daten bestätigten den bisherigen Trend. Gemessen am breiten Index der Konsumentenpreise (Consumer Price Index, CPI) hat sich die Inflation im August auf eine Jahresrate von 2,5% verlangsamt, nach 2,9% im Juli. Die Kernrate (Core CPI, ohne Energie und Nahrungsmittel) verharrte auf 3,2%.

Die von den Distriktnotenbanken von Cleveland und Atlanta erhobenen alternativen Teuerungsbarometer, die die grössten statistischen Ausreisser ausblenden, bestätigen den Trend der sinkenden Inflation. Allerdings hat das Tempo des Rückgangs abgenommen.

Weiterhin als zäh erweist sich die Inflation der Dienstleistungspreise, deren Kernrate im August mit 4,9% unverändert blieb. Auch die sogenannte Supercore-Inflationsrate, die die Komponente der Wohnkosten in den Dienstleistungspreisen ausblendet, ist mit 4,5% im Vergleich zum Vormonat unverändert geblieben.

Betrachtet man die Entwicklung des CPI in den vergangenen drei und sechs Monaten, dann lässt sich feststellen, dass die Veränderung der Konsumentenpreise auf annualisierter Basis bereits auf 1,2% (drei Monate annualisiert, orange Kurve) bzw. 2% (sechs Monate, blaue Kurve) gesunken ist.

Zwar zeigen sich in vielen Segmenten der US-Wirtschaft – vor allem in den Dienstleistungspreisen – Signale, dass sich der Inflationsdruck hartnäckig hält. Doch der Trend hat sich genügend gefestigt, dass das Fed die Inflation für besiegt erklären und den Zinssenkungszyklus beginnen kann.

Selbstverständlich ist damit noch lange nicht gesagt, dass Inflation in den kommenden Jahren kein Thema mehr sein wird. «Wir werden noch mehr inflationäre Ausbrüche erleben», sagt der Ökonom Kenneth Rogoff in diesem Interview.

EZB, Bank of England, Schweizerische Nationalbank, Bank of Canada, die Zentralbanken Schwedens, Dänemarks und Neuseelands – und nächste Woche auch das Fed: Die Leitzinsen sinken. Unter den Zentralbanken der OECD-Staaten schert bloss die Bank of Japan aus und erhöht – extrem sachte – die Zinsen. Das Resultat lässt sich an den Devisenmärkten sehen: Der Yen hat sich zum Dollar seit Mitte Juli um knapp 15% aufgewertet.

Die geldpolitische Wende bedeutet, dass dem globalen Finanzsystem in Summe wieder mehr Liquidität zugeführt wird. Das von der Londoner Research-Boutique CrossBorder Capital ermittelte globale Barometer zeigt eine deutliche Verbesserung der Liquiditätsversorgung:

Dafür ist nicht die Geldpolitik allein verantwortlich. Auch die Abschwächung des Dollars, tiefere Bondrenditen sowie die nach dem Finanzmarkt-Beben der ersten Augustwoche wieder gesunkene Volatilität am Markt für US-Staatsanleihen beeinflussen die globale Liquiditätslage positiv. Der nachgebende Ölpreis ist ebenfalls vorteilhaft für die Liquidität im System.

Betrachtet man die Entwicklung der breiten Geldmenge M2, so ist der grösste Teil des geldpolitischen Bremsmanövers in der westlichen Welt vorbei. In den USA (blau) und der Eurozone (gelb) weitet sich M2 wieder aus, während China (rot) und Japan (grün) weiter bremsen:

Auf globaler Basis lässt sich feststellen, dass die Geldmenge M2 gegenwärtig wieder mit einer jährlichen Veränderungsrate von rund 5% wächst (untere Hälfte der Grafik):

Diese Entwicklung ist positiv für die Finanzmärkte (die oben abgebildeten Grafiken finden Sie jede Woche im The Market Chart Pack).

Angesichts des schwächeren Dollars wächst auch der Spielraum für die People’s Bank of China, um den Pfad einer expansiveren Geldpolitik einzuschlagen. Parteichef Xi Jinping forderte heute Freitag in einem öffentlichen Auftritt die Provinzregierungen auf, alle notwendigen Schritte einzuleiten, um das für das laufende Jahr gesetzte Ziel von 5% Wirtschaftswachstum zu erreichen. Zudem hat Chinas Regierung zum ersten Mal seit 1978 beschlossen, das Pensionsalter zu erhöhen: für Männer von 60 auf 63 Jahre, für Frauen von 55 auf 58 bzw. für Fabrikarbeiterinnen von 50 auf 55 Jahre.

Bis zu den Wahlen in den USA sind es noch 53 Tage. Diese Woche trafen Donald Trump und Kamala Harris zur ersten – und einzigen – TV-Debatte aufeinander. Das Verdikt der Wettbörsen ist klar: Harris hat das Duell gewonnen. Die Wahrscheinlichkeit eines Sieges der amtierenden Vizepräsidentin am 5. November ist an den Wettbörsen gestiegen.

Trump hat bereits angekündigt, dass er an keiner TV-Debatte mehr teilnehmen will. Der nächste Showdown findet damit am 1. Oktober statt, wenn die beiden Anwärter für das Amt des Vizepräsidenten, Tim Walz und J.D. Vance, aufeinandertreffen.

Aus Sicht der Finanzmärkte ist das Rennen aber noch viel zu eng, als dass sie sich für das eine oder andere Szenario positionieren könnten. Wie delikat die Sache wird, zeigen die Analysten von BCA Research anhand dieser Grafik:

Angenommen, Kamala Harris gewinnt die als sicher geltenden demokratischen Staaten (blau) sowie die Swing States Wisconsin, Michigan und Pennsylvania. Zudem gewinnt sie die eine Elektorenstimme für den Grossraum Omaha im Bundesstaat Nebraska (er ist der einzige Staat, der seine Elektorenstimmen nach Wahldistrikten aufteilt): In diesem Fall hätte sie mit 270 Elektorenstimmen die Wahl gewonnen, während Trump nur auf 268 kommt.

Trump bräuchte aber nur einen einzigen Elektoren, der von der Usanz abkehrt und seine Stimme entgegen dem Abstimmungsresultat doch dem früheren Präsidenten gibt – dann wäre alles wieder offen, und es könnte eine wochen- oder monatelange Unsicherheit drohen, bis klar wird, wer die Nachfolge von Joe Biden im Weissen Haus antritt.

Marko Papic, Chefstratege von BCA, hält es für weitgehend irrelevant, ob der nächste Präsident Trump oder Harris heisst. Von enorm grosser Wichtigkeit sei aber die Frage, ob es einer Partei gelingt, einen Sweep zu erreichen: Das ist dann der Fall, wenn eine Partei sowohl das Weisse Haus als auch beide Kongresskammern dominiert.

«Dieses Szenario wäre schlecht für die Märkte», sagt Papic in diesem Interview. Der Grund? «Weil beide Parteien fiskalpolitisch verrückt und verantwortungslos geworden sind.» Geteilte Macht in Washington, wenn die Opposition mindestens eine der beiden Kongresskammern hält, wäre nach Ansicht von Papic immerhin ein Garant für etwas Disziplin in der Fiskalpolitik.

…it will stop.

Diese Aussage von Herbert Stein (1916–1999), dem Wirtschaftsberater der US-Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford, ging als Stein’s Law in die Wirtschaftsgeschichte ein. Sie benennt die – an sich banale – Einsicht, dass eine nicht-nachhaltige Entwicklung irgendwann an ihr Ende stösst.

Auf die öffentlichen Finanzen der Vereinigten Staaten von Amerika trifft das zu. Die ausstehenden Schulden, die in den Händen des Publikums liegen – die Treasury-Bestände in den Portfolios der staatlichen Vorsorgeinstitute sind darin nicht berücksichtigt –, belaufen sich gegenwärtig auf rund 100% des BIP. Das ist marginal weniger als der bisherige historische Höchstwert von 106% des BIP unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg:

Das überparteiliche Congressional Budget Office (CBO) geht in seinen Projektionen davon aus, dass dieser Wert in den kommenden Jahren stetig steigen wird. Der Grund dafür ist simpel: Die US-Regierung arbeitet gegenwärtig mit einem jährlichen Haushaltsdefizit von rund 6% des BIP – und keine der beiden Parteien hat im bisherigen Wahlkampf auch nur ansatzweise einen Plan vorgelegt, wie das Budgetdefizit eingedämmt werden soll.

Im Gegenteil, gemäss den Projektionen des CBO wird das Budgetdefizit in den kommenden Jahren kontinuierlich steigen, und zwar primär wegen der laufenden Zinszahlungen («Net interest outlays»):

Diese Projektionen sind konservativ, denn sie enthalten keine Rezessionen, in denen sich das Budgetdefizit normalerweise ausweitet. Zudem geht das CBO davon aus, dass die von Präsident Trump 2017 eingeführten Steuersenkungen wie ursprünglich geplant Ende 2025 rückgängig gemacht werden – was aber sowohl Harris als auch Trump bereits ausgeschlossen haben.

Die Verschuldung Amerikas wird also weiter steigen. Einige Zahlen dazu: Im laufenden Jahr muss der amerikanische Staat erstmals in seiner Geschichte mehr als 1 Bio. $ (1000 Mrd.) für den Zinsdienst bezahlen. Das sind fast 3 Mrd. $ pro Tag und verschlingt gegenwärtig 12% der gesamten Staatsausgaben. Die USA geben ab diesem Jahr erstmals mehr für Zinszahlungen aus als für ihren Verteidigungshaushalt. Weil im Zeitraum der nächsten zwölf Monate zudem fällige Staatsanleihen im Umfang von rund 9 Bio. $ refinanziert werden müssen und diese bisher grösstenteils deutlich tiefer verzinst waren, wird die Zinslast weiter steigen.

Marko Papic warnt davor, dass eine erste Revolte des Bondmarktes anstehen könnte, falls einer Partei in den Wahlen ein Sweep gelingt. Und eine Revolte am Bondmarkt würde bedeuten, dass die Zinsen plötzlich kräftig steigen – ähnlich wie in Grossbritannien im Herbst 2022, als der Bondmarkt Premierministerin Liz Truss aus dem Amt fegte.

Wir können unmöglich prognostizieren, wann der «it will stop»-Teil von Stein’s Law zuschlagen wird. Vielleicht nach den Wahlen, vielleicht bleibt es am Treasury-Markt auch noch für Jahre vergleichsweise ruhig. Weil es aus gegenwärtiger Perspektive aber weitgehend unwahrscheinlich ist, dass in Washington irgendein politischer Wille zu mobilisieren ist, die Staatsfinanzen in den Griff zu bekommen, sind nur zwei plausible – sich gegenseitig nicht ausschliessende – Szenarien möglich:

Erstens, dass Inflation in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ein wiederkehrendes Phänomen sein wird. Und zwar nicht als Unfall, sondern als bewusst toleriertes Instrument, um das nominale Wirtschaftswachstum zu erhöhen und die Schuldenlast über Inflation zu erodieren. 2% dürfte für das Fed künftig nicht die Ober- sondern die Untergrenze der tolerierten Inflationsrate sein.

Zweitens, dass das Fed jeweils rasch einspringen und Staatsanleihen kaufen wird, wenn am Bondmarkt eine Revolte droht und die Zinsen deutlich steigen sollten. Egal, wie man es künftig nennen wird – Quantitative Easing oder ein anderer Begriff –, aber nebst den offiziellen Mandaten Preisstabilität und Vollbeschäftigung wird das Fed immer sein primäres, inoffizielles Mandat erfüllen müssen: die Sicherstellung der Refinanzierungsfähigkeit des amerikanischen Staates.

Der Goldpreis scheint sich bereits auf diese neue Welt vorzubereiten. Mit diesen Perspektiven haben Gold, Silber und Goldminenaktien einen festen Platz in jedem Portfolio verdient.

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