Es gibt viele Gründe, Bücher zu schreiben und sie zu lesen. Neuerdings scheint man sie wieder als Medikamente betrachten zu wollen.
Kürzlich sagte mir ein niederländischer Verleger: «Buchhändler haben sich schon immer gerne beschwert.» Das stimmt, selbst in den besten Zeiten haben sie gerne gejammert und gestöhnt und auf die Bücher hingewiesen, die sie nicht verkaufen konnten. Natürlich waren alle anderen schuldig: der Autor, der Verleger, der Gestalter.
Doch in letzter Zeit scheinen die Klagen der Buchhändler begründeter zu sein. Seit 2008 sind die Buchverkäufe in den Niederlanden um etwa fünfzig Prozent zurückgegangen, wobei die niederländische Belletristik besonders stark betroffen war. Junge Leute scheinen die englische Sprache zu bevorzugen, wenn es um Bücher geht. Ein niederländischer Verlag erklärte seinen Autoren, dass ein Teil der Bücher ins Englische übersetzt werde, nicht für den britischen oder den amerikanischen Markt, sondern für die Niederlande.
Englisch ist sexy, Niederländisch ist es nicht. Ein Kolumnist wies dann auf die niederländischen Liedermacher hin, die ihre Sprache entdeckten, vielleicht sollte ich sagen: wiederentdeckten, und die mit ihrer Muttersprache erfolgreich waren. So wäre denn noch nicht alles verloren?
Und worüber sprechen wir, wenn wir von niederländischer (oder deutscher oder spanischer oder griechischer) Literatur sprechen?
Schreiben im Dienst des Staates
Vor bald dreissig Jahren veröffentlichte der deutsche Literaturkritiker Hermann Wallmann einen Essay mit dem Titel «Es gibt keine niederländische Literatur». Er sprach das Offensichtliche aus, wozu Kritiker und Philosophen oft gezwungen sind, als er schrieb, dass ein Schriftsteller «kein Land, geschweige denn eine Regierung repräsentiert».
Das ist zweifellos richtig, aber gleichzeitig nehmen viele Autoren gerne Geld von ihren Regierungen an, weil sie Deutsche, Niederländer oder Spanier sind, um etwas in ihrer Muttersprache zu schreiben. Der Roulettetisch des Lebens hat uns nicht auf eine Zahl, sondern auf ein Land fallen lassen.
Wir sollten Autoren, die staatliche Gelder annehmen, nicht allzu sehr kritisieren, obwohl Autoren Gefahr laufen, zu Künstlern im Dienste eines Staates oder einer Ideologie zu werden. Das gilt nicht nur für repressive Staaten, sondern überall dort, wo die Moral zum wichtigsten Teil der Gleichung wird, die wir Literatur nennen.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass Künstler, manchmal auch Schriftsteller, gerne Geld von wohlhabenden Kunstliebhabern annahmen. Heutzutage ist diese private Grosszügigkeit selten, obwohl es immer noch Mäzene gibt. Und fairerweise muss man sagen, dass uns im Laufe der Jahrhunderte so manches Kunstwerk entgangen wäre, wenn es nicht die enthusiastische Unterstützung durch die Kirche gegeben hätte.
Die Kunst dient seit langem dazu, Sünden abzugelten, und ich bin mir nicht einmal sicher, ob wir uns dieser Praxis widersetzen sollten oder ob Schönfärberei wirklich etwas Schändliches ist. Denn schliesslich ist die Schönfärberei nur ein Versuch, Vergebung zu erlangen.
Auf jeden Fall wurde die Nationalliteratur schon seit geraumer Zeit dazu benutzt, den nationalen Mythos zu untermauern, der Romancier und Dichter wurde ungefragt zum Fusssoldaten oder zum Exportprodukt, wenn ein ausländischer Verlag sein Werk in Übersetzung veröffentlichte.
Nationalstaatliche Sentimentalitäten
In diesen Tagen und auf diesem Kontinent, der im Zweiten Weltkrieg einen Grossteil seines Glanzes verloren hatte, bin ich mir nicht so sicher, wie sich der zeitgenössische Autor fühlt, wenn ihm gesagt wird, er sei ein kultureller Fusssoldat seines Heimatlandes. Dies gilt umso mehr, als wir nicht mehr sicher sind, ob wir Nationalstaaten brauchen und, wenn ja, in welcher Form. Dies ist die grosse Debatte zwischen jenen, die Brüssel und alles, wofür Brüssel steht, umarmt haben, und jenen, die in Brüssel den grossen Feind, den grossen Dieb der Souveränität der Völker Europas sehen.
Ich würde sagen, dass diese Souveränität für die meisten Länder auf dem europäischen Kontinent und für viele andere Länder in der Welt ein Relikt der Vergangenheit ist. Aber das bedeutet nicht, dass wir automatisch zu Weltbürgern geworden sind, dass wir die «everywheres» sind im Gegensatz zu den «somewheres», die immer noch eine tiefe und emotionale Bindung zu dem Boden haben, auf dem sie geboren wurden.
Ob es mir gefällt oder nicht, es gibt nationale Sentimentalitäten, und manchmal überleben bestimmte Gefühle selbst das Verschwinden des Staates. Polen war eine ganze Weile verschwunden, um nach dem Ersten Weltkrieg wieder aufzutauchen.
Die Dichotomie zwischen Irgendwo und Überall ist künstlich; die meisten Menschen in Europa gehören heute mit einem Fuss zum Irgendwo und mit dem anderen Fuss zum Überall. Aber wer einmal ausserhalb seiner eigenen Komfortzone war, weiss auch, dass er kein echter Weltbürger ist. Und selbst wenn die meisten Autoren gerne von allen Menschen der Welt gelesen werden würden – ein Wunsch, den sie mit Jesus teilen –, stehen praktische Probleme zwischen diesem Wunsch und der Realität. Es werden Übersetzungen benötigt, und staatliche Gelder zur Förderung solcher Übersetzungen sind sehr nützlich.
Der Nationalstaat mag im Sterben liegen, aber viele von uns erweisen sich als loyale Soldaten, solange wir für den Staat nicht sterben müssen. Ich sage das, ohne pessimistisch klingen zu wollen. Geschichte hat immer bedeutet, von einer Katastrophe in die nächste zu springen, und Dichter waren sehr gut darin, sowohl den Sprung als auch die Katastrophe zu beschreiben, manchmal sogar besser als die Historiker.
Wir schreiben für die Vergessenheit
Das Buch, der Roman ist ein Irgendwo, angesiedelt an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Zeit, aber sobald das Buch veröffentlicht ist, wird es zu einem Überall. Im Idealfall entstehen verschiedene Übersetzungen, wenn das Buch von einem Ort zum anderen, von Land zu Land reist, manchmal in Begleitung des Autors, als sei das Buch das Pferd und der Autor sein Reiter.
Manchmal schreibt der Autor zufällig in unserer Lingua franca, und in diesem Fall ist eine Übersetzung vielleicht nicht nötig. Aber in den meisten Fällen erfordert ein literarisches Werk, das auf Reisen geht, eine Übersetzung. Einige Kritiker, ich erinnere mich an einen Artikel von Tim Parks, haben argumentiert, dass die Chance auf universellen Erfolg umso grösser ist, je spezifischer er von einem bestimmten Ort und einer bestimmten Zeit handelt.
Es ist nicht der beliebige Bewohner einer Metropole, der die Leser auf der ganzen Welt zu faszinieren vermag, sondern der Hinterwäldler in einem vergessenen Dorf. Ob das stimmt, bleibt eine offene Frage. Garantien gibt es jedenfalls keine, und die meisten von uns schreiben nicht für die Nachwelt, sondern für die Vergessenheit.
Aus wirtschaftlicher Sicht – ein Aspekt des Romans, den wir erörtern müssen, weil es besser ist, Heuchelei zu vermeiden – ähnelt die Literatur einer Fabrik für Pferdekutschen in Zeiten von Elektroautos. Es mag noch Interesse an diesen Kutschen geben, aber es ist ein begrenztes Interesse von einer besonderen und eher kleinen Gruppe von Menschen.
Bücher für die Ausgestossenen
Im Industriepark der Unterhaltung ist die traditionelle Literatur zu einer Industrie geworden, die keine Industrie mehr sein sollte. Der literarische Massenmarkt ist im Sterben begriffen, und wahrscheinlich sollten wir den am schlechtesten verkauften Büchern mehr Aufmerksamkeit schenken als den Bestsellern. Vielleicht sollte das Buch zu einem Sammlerobjekt werden. Die wirtschaftliche Blütezeit der Literatur mag vorbei sein, aber Stendhal verkaufte zu Lebzeiten nur einige hundert Exemplare. Mit anderen Worten: Viele zeitgenössische Autoren befinden sich in guter Gesellschaft.
Was ich hier gesagt habe, sollte nicht als eine Form von Kulturpessimismus verstanden werden. Ganz im Gegenteil. Die Literatur wird wieder zu dem werden, was sie war, als die ersten Humanisten heimlich und nicht so heimlich voneinander abschrieben. Ein Zeitvertreib für eine kleine Gruppe von Menschen, die zufällig die perversen Freuden der Lektüre dessen verstehen, was gerade noch toleriert wird, da die Literatur unseren Herrschern so unbedeutend erscheint. Die Literatur sollte wieder zur Lieblingsbeschäftigung von Ausgestossenen werden.
Als Mittel, um Revolutionen auszulösen, sei es bei einem Leser oder in einer Gesellschaft, bin ich für die Zukunft der Literatur sehr optimistisch. Es kommt nicht auf die Zahl der Leser an, sondern darauf, wer sie liest. Ob solche Revolutionen gelingen und Fortschritt bringen, ist eine ganz andere Frage. Der Autor ist nicht dazu da, die Welt zu retten, aber ohne einen Hauch von Idealismus kommt die Literatur nicht aus.
Amy Hungerford, Professorin für Anglistik und vergleichende Literaturwissenschaft, sagte in einer Reihe von Vorlesungen über Nabokovs «Lolita», dass die Sprache der Moral die Sprache der Klischees sei. Das ist ein guter Grund, wenn auch nicht der einzige, die Sprache der Moral in der Literatur zu minimieren. Zugleich muss ich sagen, dass die Amoralität kein heimlicher Impfstoff ist, der uns vor der Sprache der Klischees schützt.
Grenzenloser Wettbewerb im Leiden
Die neue Betonung der Moral hat verschiedene Ursprünge, die wahrscheinlich auf die USA zurückgehen, wo viele gute und viele schlechte Dinge ihren Anfang genommen haben. Was man auf kultureller Ebene Globalismus nennt, zeigt sich in der Tendenz, sowohl mit Neid als auch mit Abscheu auf die USA zu blicken. Viele Bürger ausserhalb dieses Imperiums empfinden eine starke Sehnsucht, Amerikaner zu werden, doch dieselben Menschen verabscheuen ihr eigenes Verlangen. Kein Wunsch ohne ein Element des Ekels.
Die medizinische Vereinnahmung von fast allem ist Teil der westlichen Kultur geworden. Das hat auch die Literatur erfasst. Ein Psychiater sagte kürzlich bei einer öffentlichen Veranstaltung: «Ich kann nicht sagen, dass mein Sohn aggressiv, unverantwortlich, laut, unausstehlich, unangenehm und insgesamt unerträglich ist, aber ich kann sagen, und ich werde dafür Beifall bekommen, dass mein Sohn an ADHS leidet.»
Mit anderen Worten: Wir alle sind zu Leidenden und Mitleidenden geworden – der Wettbewerb im Leiden ist grenzenlos –, und das Leiden ist ebenso zum Kapital geworden wie das Kultur- und Bildungskapital.
Die Literatur scheint auf dem besten Weg zu sein, ein Zweig der Gesundheitsindustrie zu werden.
Im Allgemeinen bin ich für Toleranz. Der Leser hat ein Recht auf sein eigenes Konzept des Lesens; es ist nichts Falsches daran, Literatur in der Hoffnung zu betrachten, geheilt zu werden. Aber wenn Heilung und Trost zur Hauptaufgabe der Literatur werden und der Autor auf die Rolle eines weiteren Homöopathen reduziert wird, verlieren wir vielleicht mehr, als wir gewinnen.
Ich verstehe, dass es nur natürlich ist, wenn die Literatur den Zeitgeist widerspiegelt, wenn sie die Kultur abbildet, in der sie entstanden ist. Und so wie jede Aktion eine Reaktion hervorruft, bringt jede Kultur ihre eigene Gegenkultur hervor. So ist auch die medizinische Vereinnahmung von Literatur und Kunst – die Überzeugung, dass wir alle Patienten sind und als solche behandelt werden sollten, dieser Irrglaube, dass Empathie nichts anderes ist als eine leicht herablassende Art von Mitleid – bereits wieder auf dem Rückzug, auch wenn ich den letzten Vorhang vielleicht nicht mehr erleben werde.
Ausserdem war und ist die Literatur, ob in heiligen oder weniger heiligen Formen, immer eines der vielen Schlachtfelder, auf denen Machtkämpfe ausgetragen werden. Aber was für ein grossartiges Schlachtfeld kann die Literatur sein. In ihren besten Momenten sind sogar die Leichen schön.
Arnon Grünberg ist ein niederländischer Schriftsteller und Journalist. Er lebt und arbeitet in New York. – Aus dem Englischen von rbl.