Mittwoch, Oktober 9

Margrethe Vestager war der liberale Superstar Europas. Dann folgten Rückschläge auf juristischer und politischer Ebene.

In Paris und Berlin ist man in jenem Winter 2018/2019 nervös. Will die EU-Kommission tatsächlich die geplante Fusion zwischen den Bahnsparten von Siemens und Alstom verbieten? Die Wirtschaftsminister Frankreichs und Deutschlands lobbyieren schon seit Wochen, nun greifen auch noch der Präsident und die Kanzlerin zum Hörer und versuchen, die Kommissarin Margrethe Vestager umzustimmen.

Vergeblich. Die damals 50-jährige Dänin und ihr Team bleiben standhaft. Trotz drohender Konkurrenz aus China dürfen die beiden Bahngiganten nicht zusammenfinden. Zu gross wäre mit der Machtkonzentration die Gefahr, dass der Wettbewerb in Europa eingeschränkt würde und die Preise steigen könnten, so die Analyse der EU.

Die grossgewachsene Vestager steht im Zenit ihrer Laufbahn. Dass sie früher als Inspiration für den dänischen Politik-Serien-Hit «Borgen» diente, erstaunt in jenen Jahren nicht. Im Kampf für den freien Wettbewerb und einen unverzerrten Binnenmarkt scheut sich der «Google-Schreck» auch nicht vor grossen Fischen. Der Apple-Chef Tim Cook nennt das Bussverfahren einen «totalen politischen Mist», der frühere amerikanische Präsident Donald Trump sagte 2018 gar, dass «diese ‹Tax-Lady› die USA wirklich hasst».

Doch Vestagers Stern beginnt in ihrer zweiten Amtszeit zu sinken. Nicht nur muss sie zeitweise überdurchschnittlich viele Niederlagen auf dem juristischen Parkett verkraften, auch ihre politischen Ambitionen lösen sich gleich mehrfach in Luft auf. Nun verabschiedet sie sich wohl bald ganz von der grossen Bühne.

Gemäss Informationen der «Financial Times» besteht kein Zweifel daran, dass die dänische Regierung für den Kommissionsposten in Brüssel eine andere Person nominieren wird. Vestagers sozialliberale Partei, eine Kleinstformation im Königreich, schnitt bei den Wahlen von 2022 schlecht ab und ist seither nicht mehr in der Regierung vertreten.

Der «Fuck-Finger» im Büro

Vestager kam schon als junge Frau mit der Brüsseler Bürokratie in Kontakt. Mit 21 Jahren absolvierte die Tochter von zwei Pfarrersleuten ein Praktikum im EU-Parlament. Ihr erster Eindruck von der Grossstadt war nicht eben angenehm, wie sie später dem Satireportal «DG Meme» erzählen wird: Überall stinkt es, und im Tram wird ihr die geliebte Handtasche gestohlen.

Gänzlich abgeschreckt ist sie offenbar nicht, mehr als ein Vierteljahrhundert später kehrt Vestager in die belgische Hauptstadt zurück – nach lediglich drei Jahren im dänischen Regierungskabinett, wo sie sich mit einer drastischen Sozialreform bei der Linken keine Freunde gemacht hat. Die Skulptur mit emporgerecktem Mittelfinger, die ihr die Gewerkschaften damals «geschenkt» hatten, steht noch immer in ihrem Büro.

Mit dem Ressort für Wettbewerb, Kartellrecht und Unternehmensfusionen übergibt ihr der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Verantwortung für einen der einflussreichsten Posten innerhalb der EU – und Vestager geht die Herausforderung energisch an.

Die verfügbaren Instrumente wendet sie offensiv an. Sie nimmt die aus liberaler Sicht stossenden und innerhalb des EU-Binnenmarkts grundsätzlich verbotenen staatlichen Beihilfen ins Visier – ein Streitpunkt auch in den andauernden Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU. Im Vergleich zu ihren beiden Vorgängern behandelt Vestager in ihrer Amtszeit deutlich mehr Fälle. Viele davon sind in der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt. Jene aber, bei denen es um grosse Summen geht und die gerichtliche Auseinandersetzungen zur Folge haben, schlagen oftmals weit über Europa hinaus Wellen.

Tech-Konzerne gehen stets vor Gericht

Der spektakulärste Entscheid stammt aus dem Jahr 2016, als die Wettbewerbshüter zu dem Schluss kommen, dass Irland dem IT-Giganten Apple unzulässige Steuervorteile in der Höhe von 13 Milliarden Euro gewährt habe. Apple und Irland legen Berufung ein – und gewinnen vor dem erstinstanzlichen EU-Gericht. In zweiter und letzter Instanz könnte sich das Blatt allerdings wenden: Gemäss dem – für die Richter des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nicht verbindlichen – Schlussantrag des Generalanwalts ist das Urteil der Vorinstanz aufzuheben. Das Verdikt soll am 10. September bekanntgegeben werden.

Mit Google wiederum, einem anderen IT-Giganten, liegt Vestagers Wettbewerbsbehörde seit Jahren über Kreuz – von den fünf bedeutsamen Kartellrechtsfällen betreffen ihn gleich drei. Die von der EU-Kommission ausgesprochenen Bussen sind happig: 2017 sind es 2,4 Milliarden, 2018 über 4,3 Milliarden und 2019 nochmals 1,4 Milliarden Euro. Die Streitfälle betreffen mit Shopping, Adsense und Android verschiedene Google-Dienste; im Kern geht es aber stets darum, dass der amerikanische Konzern aus Sicht der Wettbewerbshüter seine Marktmacht missbrauche.

Sämtliche Sanktionen gegen Google sind juristisch noch nicht rechtskräftig. In zwei Fällen – Shopping und Android – hat das erstinstanzliche EU-Gericht den Entscheid der Kommission aber grösstenteils bestätigt. Sie liegen nun beim EuGH. Zu Adsense gibt es noch keinen Richterspruch.

Ambitionen zerschlagen

Vestager, die seit Jahren in Brüssels quirligem Stadtteil Ixelles wohnt, wird längst nicht mehr im Amt sein, wenn die Streitfälle dereinst abgeschlossen werden. Zudem ist noch kaum absehbar, welche Wirkung – oder welchen Schaden – das umstrittene Gesetz über digitale Dienste (DSA) haben wird, mit dem die Kommission den Jugendschutz stärken will. Eine faire Bilanz über ihre Amtszeit wird erst in ein paar Jahren möglich sein.

Klar ist aber jetzt schon: Vom Nimbus eines «liberalen Superstars», wie er ihr in den ersten Jahren zuweilen angedichtet wurde, ist gegen Ende nicht mehr viel übrig. Gleich mehrere persönliche Pläne erfüllen sich nicht wie gewünscht.

Nach den EU-Wahlen von 2019 aspiriert sie mithilfe der liberalen Fraktion vergeblich auf den wichtigsten Posten in Brüssel, das Kommissionspräsidium. Wegen der Erosion der politischen Mitte muss sie sich mit dem Amt der Kommissionsvizepräsidentin zufriedengeben.

Im Herbst 2023 legt sie ihren Posten vorübergehend gar auf Eis, weil sie sich fürs Präsidium der Europäischen Investitionsbank bewirbt. Doch wiederum scheitert ihr Karriereplan. Das Rennen macht die spanische Gegenkandidatin, unter anderem weil Frankreich gegen Vestager weibelt. Eine Retourkutsche für den geplatzten Alstom-Siemens-Deal?

So steht die einst Hochgejubelte derzeit ohne (bekannte) Anschlusslösung da, obwohl sie sich mit 56 Jahren im besten Politikeralter befindet. Aus ihrem Brüsseler Umfeld ist nichts zu erfahren, ja es ist gar durchaus möglich, dass der Ausgang der Wahlen in den USA eine Rolle spielt: Kommt Donald Trump zurück an die Macht, kann sich Vestager einen Posten in einer Organisation mit amerikanischer Beteiligung wohl abschminken.

Dreht nun der Wind?

Unklar ist auch, wer Dänemark künftig in der EU-Kommission vertritt. Anders als die Mehrheit der 27 EU-Länder hat sich Kopenhagen noch nicht in die Karten blicken lassen, wen es nach Brüssel schicken möchte. Die Bewerbungsfrist läuft am 30. August ab. Spätestens dann geht auch das Gerangel um die verschiedenen Kommissionssitze los – notabene auch um jenen des einflussreichen Wettbewerbshüters.

Einer, der aus seinen Ambitionen kein Hehl macht, ist der selbstbewusste und streitbare EU-Kommissar Thierry Breton. Nur zu gerne würde er in Vestagers Fussstapfen treten, er ist von Paris allerdings noch nicht einmal offiziell nominiert. Klar ist: Mit Breton würde im zwölften Stock des Brüsseler Berlaymont-Gebäudes ein anderer Wind wehen. Er ist ein energischer Befürworter einer europäischen Industriepolitik – ein Konzept, gegen das Vestager während ihrer gesamten Karriere angekämpft hat.

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