Das Lucerne Festival widmet sein Sommerprogramm 2024 der «Neugier». Das ist fast jeder Mensch von Natur aus, aber für die Musik hat dieses Motto eine besondere Bewandtnis.

Als Adam und Eva in den berüchtigten Apfel bissen, brachten sie sich und uns um das Schönste, ums Paradies. Das Lucerne Festival hat dieser verlorenen Utopie 2023 seine Sommerfestspiele gewidmet. Ein Jahr später fragt man in Luzern nun nach dem Motiv: Was hat die ersten Menschen eigentlich dazu getrieben, ihren folgenschweren Regelverstoss zu begehen? War es bloss die verlockende Lust, etwas Verbotenes zu tun?

Mag sein, man kennt das ja. Aber das eigentliche Motiv ist universellerer Natur: Es treibt unsere Spezies von jeher an, sich auf unbekanntes Terrain zu wagen oder den forschenden Blick, metaphorisch gesprochen, in eine dunkle Höhle zu richten. Es ist das Verlangen, «mit eigenen Augen zu sehen, was darin an Wunderbarem sein möchte», so hat es Leonardo da Vinci einmal poetisch formuliert.

Das nie Dagewesene

Im Deutschen wurde diese ureigentümliche Begierde zur «Neugier» domestiziert. Deren vielfältige Spielarten will das Lucerne Festival von Mitte August an einen Monat lang in der Musik ergründen. Tatsächlich war Neugier dort, wie in allen Künsten, immer schon die mächtigste Triebfeder der Kreativität. Nur das, was einmal neu war und buchstäblich unerhört, hat Bestand.

Die blosse Reproduktion bewährter Muster hingegen verfällt über kurz oder lang dem Vergessen; die Musikgeschichte ist ein unbarmherziger Richter. Wir sollten das im Auge haben, wenn wir heute darüber diskutieren, ob künstliche Intelligenz eines Tages Meisterwerke auf dem Niveau eines Beethoven oder Wagner komponieren wird.

Sie wird es nie können. Denn ihr fehlt bei ihren immer perfekteren, aber langweiligen Stilkopien das entscheidende menschliche Motiv: die Lust am Neuen, die etwa Beethoven dazu inspirierte, Konventionen infrage zu stellen und die Formen zu sprengen; die Wagner veranlasste, die über Jahrhunderte gewachsene Harmonik an ihre Grenzen zu treiben und damit den Weg in die Moderne zu ebnen. Auch heutige Komponistinnen und Komponisten begnügen sich im besten Fall nicht mit Wiederholung; wollen sie vor der Zeit bestehen, muss ihr kreativer Geist wie eh und je nach dem nie Dagewesenen, dem So-noch-nicht-Gesagten streben.

Blick in Leonardos Höhle

Für die Interpreten, aber auch für die Programmmacher im Bereich der klassischen Musik liegt darin eine gewaltige Verpflichtung. Schliesslich gilt es, auch bei altbekannten Werken Blick und Ohr für das seinerzeit Unerhörte zu schärfen, durch frische Lesarten, innovative Zugänge und ungewöhnliche Werkfolgen jenes «Wunderbare» neu erfahrbar zu machen.

Als Publikum sollten wiederum wir Hörer die Sinne weit öffnen für den Blick in Leonardos geheimnisvolle Höhle. Warum nicht einmal einem weniger bekannten Komponisten lauschen oder einem als sperrig verschrienen Werk? Wir könnten uns einlassen auf gerade erst entstandene Musik oder auf bewährte Lieblingsstücke in neuer Interpretation. Eben darauf wollen wir Sie, liebe Leserin, lieber Leser, mit diesem NZZ-Schwerpunkt zum Lucerne Festival ein bisschen neugierig machen.

Exit mobile version