Laut der Uno und Hilfsorganisationen bleibt die Versorgungslage im Gazastreifen katastrophal. Israel entgegnet, es lasse immer mehr Hilfsgüter in das Kriegsgebiet. Was stimmt?

17 Lastwagen stehen hinter grossen Betonmauern auf dem Parkplatz des Grenzübergangs Kerem Shalom im Süden Israels, 320 Meter vom Gazastreifen entfernt. Auf den Camions stapeln sich Konserven, Mehlsäcke und Hygieneartikel von NGO und Uno-Organisationen. «Diese Lastwagen sind alle inspiziert und werden auf die palästinensische Seite geschickt», sagt Shimon Friedman, der Sprecher der israelischen Regierungsbehörde Cogat, die für die Koordinierung der Hilfsgüter für den Gazastreifen zuständig ist.

An diesem Tag Ende Mai stauten sich laut Friedman auf der anderen Seite des Übergangs rund 700 Lastwagen. Am 13. Juni waren es gemäss Cogat bereits 1000. «Leider haben die internationalen Organisationen nicht die notwendigen Schritte getan, um die Hilfsgüter zu verteilen», sagt Friedman. Zudem weist der Sprecher darauf hin, dass die Zahl der Lastwagen weitaus höher sei, als das Uno-Hilfswerk für die Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) und andere Organisationen behaupteten.

Spricht man mit den internationalen Organisationen, hört man hingegen, dass eine sichere Verteilung von Hilfsgütern nicht mehr möglich sei – vor allem, seit Israel im Mai seine Rafah-Offensive gestartet habe. Die humanitäre Situation im Gazastreifen sei immer noch katastrophal.

Tedros Ghebreyesus, der Chef der Weltgesundheitsorganisation, sagte am Mittwoch, überall im Gazastreifen herrschten Bedingungen ähnlich einer Hungersnot. «Trotz Berichten von grösseren Nahrungsmittellieferungen gibt es derzeit keine Hinweise darauf, dass die Bedürftigsten ausreichende Mengen und hinreichende Qualität von Essen erhalten», sagte Ghebreyesus. Laut Unicef erhalten gegenwärtig knapp 3000 unterernährte Kinder im Gazastreifen keine ausreichende medizinische Versorgung, um sie vor dem Hungertod zu bewahren. Wie kommt es zu den divergierenden Darstellungen Israels und internationaler Organisationen – und wie ist die Situation vor Ort?

Welche Grenzübergänge sind offen?

Einer der wichtigsten Durchgänge für humanitäre Hilfe ist der Grenzübergang von Ägypten nach Rafah im Gazastreifen. Dieser ist seit dem 7. Mai geschlossen. An diesem Tag hatte die israelische Offensive auf die Stadt im südlichen Gazastreifen begonnen. Als Reaktion machte Ägypten den Grenzübergang zu. Am Dienstag teilte die EU mit, dass sich auf der ägyptischen Seite derzeit über 2000 Camions mit Hilfsgütern stauten, die nicht in den Gazastreifen kämen.

Am 1. Mai liess Israel erstmals Hilfsgüter durch den Grenzübergang Erez im Norden des Gazastreifens. Wenige Tage nach dem Beginn der Offensive auf Rafah schuf Israel zudem mit West-Erez noch einen zusätzlichen Durchgang für humanitäre Hilfe. Seit dem 7. Juni können auch wieder Hilfsgüter über den temporären amerikanischen Pier an der Küste Gazas den Küstenstreifen erreichen. Die Anlegestelle war einige Tage ausser Betrieb, nachdem sie wegen schweren Seegangs beschädigt worden war.

Die neu geöffneten Übergänge seien allerdings nicht ausreichend, sagt der Sprecher des Palästinenser-Hilfswerks UNRWA, Jonathan Fowler, im Gespräch. «Das Problem mit dem Übergang Erez ist, dass er nicht für die Durchfahrt von Lastwagen gebaut wurde», sagt er. Erez war vor dem Krieg der wichtigste Übergang für Palästinenser aus dem Gazastreifen, die zum Arbeiten nach Israel kamen. Dennoch begrüsst Fowler, dass Israel weitere Übergänge geöffnet hat.

Gerade im Norden des Gazastreifens ist die Not gross – hier kommt auch nach israelischen Angaben nur wenig Hilfe an. Laut dem Cogat-Sprecher Shimon Friedman erreichten Ende Mai durchschnittlich 200 bis 250 LKW pro Tag den Gazastreifen über Kerem Shalom, während über die beiden Übergänge im Norden nur rund 80 Camions täglich kamen.

«Grosses Risiko, umgebracht zu werden»

Auch der amerikanische Pier konnte die Lage kaum verbessern. Nicht nur, weil darüber seit seiner Inbetriebnahme sehr viel weniger Hilfsgüter den Gazastreifen erreicht haben als angenommen. Sondern auch, weil er nicht genutzt wird. Das Welternährungsprogramm der Uno teilte am Sonntag mit, es werde wegen Sicherheitsbedenken bis auf weiteres keine Hilfsgüter mehr verteilen, die den Anleger erreichen.

Die Sicherheit ist auch das grosse Problem in Kerem Shalom, wohin einige der Camions, die sich vor Rafah stauen, nun umgeleitet werden. «Die Israeli stellen es oft so dar, als seien wir einfach inkompetent und würden die Hilfsgüter, die sie hinüberlassen, nicht abholen», sagt der UNRWA-Sprecher Fowler. «Das Problem sind aber ganz einfach die andauernden Kämpfe – knapp 200 unserer Mitarbeiter wurden seit Kriegsausbruch bereits getötet», sagt er. «Es ist sehr, sehr schwierig, die Hilfsgüter abzuholen, wenn es ein grosses Risiko gibt, dabei umgebracht zu werden.»

Vor allem seit dem tödlichen israelischen Angriff auf einen Hilfskonvoi von World Central Kitchen (WCK) im April sind Sicherheitsbedenken ein grosses Hindernis für die Verteilung der Hilfsgüter. Der WCK-Konvoi hatte seine Route mit Israel koordiniert und wurde dennoch beschossen. Während WCK seine Arbeit nach einer längeren Pause wieder aufgenommen hat, vertraut eine andere NGO, die ihren Namen nicht genannt haben möchte, bis heute nicht darauf, dass die Sicherheitskoordination mit der israelischen Armee funktioniert. Sie gibt keine Daten mehr an die israelischen Streitkräfte weiter.

Wie viele LKW kommen wirklich in den Gazastreifen?

Das Problem ist also primär die Verteilung der Hilfsgüter, nicht unbedingt die Zahl der LKW – darin sind sich die israelische Regierung und die UNRWA einig. Trotzdem ist unklar, wie viele Lastwagen den Gazastreifen überhaupt erreichen. Denn die Zahlen der israelischen Behörde Cogat und jene der Uno gehen weit auseinander.

Laut UNRWA kommen seit der Rafah-Offensive so gut wie gar keine Lastwagen mit Hilfsgütern mehr in den Gazastreifen. Glaubt man Cogat, passierten im Mai aber täglich rund 350 LKW die Übergänge nach Gaza. «Ich weiss, dass es andere Zahlen von verschiedenen Organisationen gibt, aber die zeichnen kein akkurates Bild», sagt der Cogat-Sprecher Shimon Friedman. Nur Cogat zähle die Zahl der Lastwagen aller Organisationen zusammen und berechne zudem humanitäre und kommerzielle Lieferungen ein.

Der UNRWA-Sprecher Jonathan Fowler weist ausserdem auf unterschiedliche Zählweisen hin: «Während Israel auch einen halbvollen LKW als einen ganzen zählt, zählen wir diesen als einen halben.» Gemäss Hilfsorganisationen müssen mindestens 500 LKW mit Hilfsgütern pro Tag den Gazastreifen erreichen, damit die humanitäre Lage stabilisiert wird.

Immer mehr kommerzielle Lastwagen erreichen Gaza

Die vom Cogat-Sprecher erwähnten kommerziellen Lieferungen – die die UNRWA nicht zählt – erreichen den Gazastreifen erst seit rund anderthalb Monaten. Sie machen nach israelischen Angaben etwa 30 bis 45 Prozent aller Lieferungen aus. Im Mai hat das israelische Militär Händlern aus Israel und dem Westjordanland wieder erlaubt, Nahrungsmittel nach Gaza zu verkaufen.

Ami Shaked, der israelische Geschäftsführer des Übergangs Kerem Shalom, bestätigt, dass kommerzielle Lieferungen rasch angestiegen seien. Das liege an den Wirtschaftsinteressen der Logistikfirmen. «Die UNRWA bezahlt etwa 2000 Schekel für einen Lastwagen. Der Marktpreis für die kommerziellen Lastwagen liegt momentan allerdings bei 7000 bis 10 000 Schekel», sagt Shaked in Kerem Shalom. Händler bezahlen demnach umgerechnet bis zu 2400 Franken. «Also bevorzugen die Logistikfirmen die Lieferungen des privaten Sektors.»

Es ist kein Geld da, um die Güter zu kaufen

Menschen in Gaza berichten laut Hilfsorganisationen, dass wieder mehr Güter auf den Märkten zu finden seien – offenbar eine Folge der kommerziellen Lieferungen. In den letzten Wochen veröffentlichte Bilder und Videos von israelischen Stellen, die Märkte voller Lebensmittel im Gazastreifen zeigen, entsprechen daher wahrscheinlich der Realität. Doch ob diese Lebensmittel auch bei den Menschen ankommen, ist fraglich.

«Wir haben immer dafür plädiert, auch kommerzielle Lieferungen in den Gazastreifen zu lassen, sie sind aber keine Lösung für das Problem», sagt der UNRWA-Sprecher Jonathan Fowler. «Die Nachfrage übersteigt weiterhin das Angebot um ein Vielfaches, und die Inflation im Gazastreifen ist enorm. Die Menschen könnten sich die Güter auf den Märkten oftmals nicht leisten.»

Gleichzeitig gibt es immer wieder Berichte, Fotos und Videos von Hilfsgütern, die zu hohen Preisen auf Märkten im Gazastreifen verkauft werden. Videos der israelischen Armee zeigen, wie die Hamas Hilfskonvois plündert. Lieferungen, die eigentlich für die Bedürftigsten vorgesehen sind, landen über diesen Umweg auf den Märkten – wo sie nur diejenigen mit ausreichend Geld erwerben können.

Geld ist jedoch knapp im Gazastreifen. Die Wirtschaft in dem stark umkämpften Gebiet ist kollabiert, bezahlte Arbeit gibt es fast gar nicht mehr. Und selbst wenn die Menschen Geld auf dem Konto hätten, gebe es im Gazastreifen kaum noch Möglichkeiten, an dieses heranzukommen, sagt Fowler. Laut Berichten existiert derzeit im gesamten Gazastreifen nur noch ein funktionierender Bancomat.

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