Donnerstag, September 19

Isabelle Lehn hat einen rasanten Roman über einen Fall von mutmasslicher Wirtschaftskriminalität geschrieben. Ihr Roman wird selber zum Fall für die Mafia.

Es ist eine abenteuerliche Geschichte, die der auf die Mafia spezialisierte Journalist Sandro Mattioli 2018 recherchiert hat. Jahrelang soll eine gewisse Martina N. aus dem niedersächsischen Einbeck ihr unscheinbares Wesen in den Dienst der ’Ndrangheta gestellt haben. Anfang der 2000er Jahre arbeitete sie für die Deutsche Bank in Zürich, später im russischen Investmentsektor und zuletzt als Telefonistin und Halbtags-Sachbearbeiterin für die Nachrichtenagentur Deutscher Depeschendienst in Berlin. Bei der Insolvenz der Agentur im Jahr 2004 könnte Martina N. als Maulwurf der kalabresischen Mafia eine entscheidende Rolle gespielt haben.

Im Jahr 2009 liessen die italienischen Behörden die untergetauchte Betrügerin in ihrer Luxussuite im Florentiner Hotel Baglioni festnehmen. Wusste die Polizei, wen sie da an der Angel hatte? Was wusste Martina N., die aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kommende Verschleierungskönigin, am Ende noch von sich selbst?

Frau ohne Eigenschaften

Ohne Zweifel ist dieser Fall bester Stoff für die Literatur. Die deutsche Schriftstellerin Isabelle Lehn hat daraus tatsächlich einen grossen, erfindungsfreudigen Roman gemacht. Bei seiner Lektüre wundert man sich, wie er den Buchpreisjurys und den sonstigen literaturkritischen Wasserstandsmeldern bisher entgehen konnte. Denn: «Die Spielerin» ist ein Werk für klammheimliche Zeiten.

Wenn weltweit die Verschwörungstheorien blühen, können es sich die wahren Weltverschwörer im Schatten dieses Irrsinns gemütlich machen. Mit grösserer Gelassenheit denn je geht die Mafia heute ihren Geschäften nach. Wo es wirklich ums grosse Geld geht, tarnt sie sich hinter zurückhaltender Seriosität. Sie spielt unerkannt auf den Finanzmärkten mit und bindet sich das Schleifchen der Mildtätigkeit um, wenn sie in Wahrheit in die Geldtöpfe caritativer Organisationen greift. Das alles ist Thema bei Isabelle Lehn.

«Die Spielerin» kommt als rasantes Verwirrungskunststück daher. Es muss sich hinter dem Finanzwelt-Epos «Johann Holtrop» von Rainald Goetz genauso wenig verstecken wie hinter ähnlichen Milieuromanen von Ulrich Peltzer. Martina N. heisst bei Lehn einfach nur A. Bei ihrem Prozess, mit dem «Die Spielerin» beginnt, trägt sie einen Pagenhaarschnitt und eine crèmefarbene Bluse.

Ihre äussere Eigenschaftslosigkeit lässt sie fast durchsichtig wirken, und damit ist das Buch auch schon an einem wichtigen Punkt seiner erzählerischen Absichten. A. ist der blinde Fleck im System, durch den man am Ende fast alles sehen kann.

Diskreter Investor aus Zürich

Die Autorin rollt den Fall biografisch-chronologisch auf, springt aber auch zwischen den Zeiten hin und her. In Berlin rücken der Eigentümer und der Wirtschaftsberater der finanziell auf der Kippe stehenden Nachrichtenagentur ins Bild. Die Kollegin, die da 2004 im Maschinenraum des Medienunternehmens ihren Halbtagsdienst tut, ist ihnen naturgemäss kein Begriff.

Es stellt sich aber heraus, dass der Berater namens Oldenbrink im gleichen Haus wohnt wie A. Er im Dachgeschoss, sie in einer schäbigen, allerdings nicht ganz kleinen Wohnung. Ab und zu trifft man sich unten im Haus in einer Bar, wo der schnöselhafte Ökonom bei professioneller Distanz bleibt: «Eine Frau wie A. würde er nie wieder loswerden.» An dieser Stelle aber ist das Konjunktivische schon in einen finsteren Indikativ gekippt. Eine Frau wie diese wird man auch dann nicht mehr los, wenn man noch meint, sich vor ihr hüten zu können.

Als die Pleite der Agentur den 300 Mitarbeitern schon gefährlich nahekommt, lässt A. vor dem nervösen Oldenbrink die Bemerkung fallen, sie kenne da jemanden in Zürich, der an einem Investment interessiert wäre.

Das Verhängnis beginnt, und Isabelle Lehn holt auch noch einmal gross in die Vergangenheit der Frau A. aus. In Deutschland ist gerade die Mauer gefallen, als der Vater händeringend den Abschied der Tochter aus der Provinz mit ansehen muss. Sie geht nach Zürich. Im dortigen Bankenwesen macht sie Karriere mit einer Eigenschaft, die allen Klischees widerspricht: Das Unscheinbare ist ihr Trumpf. Sie ist ein Chamäleon, das nach und nach die karrierefördernden Eigenschaften ihrer Konkurrenten annehmen kann, ohne in der Truppe aufzufallen.

Lange Hand der Mafia

Frau A. ist der ideale Spiegel eines narzisstischen Systems, und deshalb funktioniert sie auch als Romanfigur so gut. Nichts Persönliches lenkt ab, hier schillern keine eigenen Hoffnungen und Wünsche durch den Stoff. Das Ziel von Frau A. scheint nicht einmal persönliche Bereicherung, wenn sie sich immer weiter hinauf- und hineinarbeitet in die Welt der Hochfinanz, der Derivate und der lichtscheuen Unterbringung von Schwarzgeld.

Die motivgebeutelten männlichen Kollegen können da nicht mithalten. Sie misstrauen der Aufsteigerin nicht einmal, die schliesslich auch in den Finanzmarktkrisen der Welt als Siegerin dasteht, bis es einen rätselhaften Knick gibt.

Was für ein Stoff, was für ein Roman! Aber wer erzählt da? In einem seltsamen Majestätsplural ist immer wieder von einem Wir die Rede. Von einem allwissenden Kollektiv, das die Fäden und möglicherweise auch A. in der Hand hat. Es könnte die Mafia höchstpersönlich sein, die hier Herrin der Geschichte bleiben will. Da hat sie die Rechnung aber ohne Frau L. gemacht.

Isabelle Lehn: Die Spielerin. Roman. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024. 272 S., Fr. 36.90.

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