Montag, August 25

Riccardo Chailly setzt gleich zu Beginn des Sommerfestivals die Massstäbe mit zwei musikalischen Höhenflügen. Dann allerdings gibt noch ein Grosser der Zunft sein Debüt am Pult des Festivalorchesters, das nach 2026 einen neuen Chefdirigenten braucht.

Der Dirigent Bernard Haitink dachte viel über seinen eigenartigen Beruf nach. Doch er behielt die Erkenntnisse gern für sich. Wenn er trotzdem gefragt wurde, was er und die Vertreter seiner Zunft dort am Pult vor einem Orchester eigentlich täten, antwortete er listig mit einem Bonmot, oft begleitet von einer wegwerfenden Handbewegung: «Dirigenten? Ach, die sortieren doch bloss die Luft.» Vermutlich genoss er danach die irritierten Blicke, denn so etwas aus dem Mund eines der führenden «Luftsortierer» des 20. Jahrhunderts zu vernehmen, löste unweigerlich Verwirrung aus – und das sollte es auch.

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Haitink stiess die Neugierigen nämlich auf das faszinierende Phänomen, dass die zentrale Figur bei einem klassischen Konzert offensichtlich kein eigenes Instrument spielt und dennoch auf magische Weise alle Fäden in der Hand hält. Die Zeichen und Gesten, die er oder sie dafür benutzt, sind nur in Grundzügen normiert; bei den einen erscheinen sie klar und kontrolliert, bei anderen eher wie Geisterbeschwörungen – ihre Wirkung aber ist in jedem Fall nonverbal, also nur bedingt rational zu ergründen. Am Lucerne Festival konnte man während der hochkarätigen ersten Woche gleich mehrere Dirigenten erleben, bei denen das Geheimnis ihrer Kunst in diesem Grenzbereich zur Magie und zum Irrationalen zu liegen schien.

Innere Stürme

Das begann mit Riccardo Chailly, dem Chefdirigenten des Lucerne Festival Orchestra (LFO). Er gestaltete diesen Sommer gleich zwei Programme mit dem LFO, und die feinen Unterschiede in Stil und Körpersprache waren aufschlussreich. Generell gehört Chailly mit seiner eleganten Schlagtechnik und der äusserlich unaufgeregten, durch und durch beherrschten Zeichengebung zu den präzisesten Dirigenten unserer Zeit – auch das LFO hat diese Qualität in der bald zehnjährigen Zusammenarbeit schätzen gelernt. Wie aber entfesselt ein derart exakter Handwerker die nötigen Emotionen? Jedenfalls nicht, wie manche Pult-Artisten, durch raumgreifende Gesten.

Das wurde beim ersten der beiden Programme deutlich, dem Eröffnungskonzert. Da hier mit der nachgelassenen 10. Sinfonie von Gustav Mahler ohnehin eines der emotionalsten Werke des Repertoires auf den Pulten stand, setzte Chailly gerade nicht auf Entfesselung, sondern auf die gezielte Dosierung des Ausdrucks, der aber durch die Sublimation eine unerhörte Intensität und innere Freiheit gewinnt.

Diese Verdichtung durch Verzicht auf jede bloss äusserliche Leidenschaftlichkeit ist eins der Paradoxe bei der Interpretation von Musik. Wenn sie gelingt, entstehen, wie hier, oft Sternstunden. Die Musik löst sich dann gleichsam von den Interpreten, sie spricht aus sich selbst, alles Technische tritt in den Hintergrund, nichts wirkt mehr «gemacht» oder gar «gewollt». Dennoch sah man auf dem Schlussbild der TV- und Open-Air-Übertragung, die Chaillys Gesicht längere Zeit aus der Perspektive des Orchesters zeigte, welche inneren Stürme hier anscheinend gemeinsam durchlebt worden waren.

So etwas sind Ausnahmemomente, selbst in Luzern nicht alltäglich, in denen das Musizieren in existenzielle Dimensionen vordringt. Man kann dergleichen nicht erzwingen, es muss sich ergeben. Im zweiten Konzert mit dem LFO verfolgte Chailly denn auch eine andere Strategie: Bei dem Programm mit drei Werken von Sergei Rachmaninow trat er fast wie ein Anwalt auf, der die Musik des Exilrussen ein für alle Mal von jedem Nostalgie- und Kitsch-Verdacht befreien wollte. Die Körpersprache wirkte lockerer, impulsiver, als wollte er Musiker und Publikum unmittelbar dazu einladen, ihm in seinem Glauben an Rachmaninow zu folgen. Immerhin hat diese Überzeugung seit 2019 zu einem stattlichen Luzerner Zyklus mit fast allen Konzert- und Orchesterwerken geführt.

Allerdings verleitet Chailly die Liebe zu dieser Ausdruckskunst nicht zum Schwärmen, die Umsetzung des dichten Notentextes bleibt jederzeit pointiert und akkurat. Das kommt der impressionistischen frühen Tondichtung «Der Fels» und der überschiessenden 1. Sinfonie zugute, es schärft aber auch die Wirkung der Paganini-Rhapsodie, die quasi gegenüber dem KKL in Rachmaninows Hertensteiner Sommervilla entstanden ist. Mit der Pianistin Beatrice Rana hat Chailly hier eine Solistin zur Seite, die Emotionalität und Formbewusstsein ähnlich souverän in der Balance zu halten weiss. Die Mischung aus zirzensischer Virtuosität und kühler Prägnanz erinnert sogar an Rachmaninows eigenen, oft lakonischen Umgang mit seiner Musik.

Anwärter auf den Chefposten

Die beiden herausragenden Konzerte brachten in der schon länger geführten Diskussion um Chaillys Nachfolge beim LFO eine vernachlässigte Option wieder ins Spiel: Wäre angesichts dieses Niveaus eine Fortsetzung der Zusammenarbeit über das Vertragsende 2026 hinaus nicht doch die sinnvollste Lösung? Andererseits hat das LFO in den vergangenen Sommern auffällig viele Gastdirigenten an seinem Pult begrüsst – man darf auch «ausprobiert» sagen –, von denen tatsächlich etliche als Anwärter auf den Chefposten gelten können. Zu den Wunschkandidaten des LFO dürfte der Kanadier Yannick Nézet-Séguin gehören, der das Orchester am Dienstag zum wiederholten Mal leiten wird. Am Samstag trat allerdings unverhofft noch jemand auf den Plan.

Sir Simon Rattle gab sein spätes Debüt beim LFO und fand offenkundig auf Anhieb einen ungewöhnlich direkten Draht zu den Musikern. Das Programm dafür war ideal gewählt: In der vielgestaltigen 1. Sinfonie von Schostakowitsch legte man zunächst eine Basis – mit präziser, doch immer spielerischer Detailarbeit. In Mahlers «Lied von der Erde» nutzte man diese Grundlage dann, um die Musik atmen, organisch fliessen und schliesslich wie schwerelos fliegen zu lassen.

Das erinnerte mehr als einmal an die wundersam sublimierte Dichte des Eröffnungskonzerts, namentlich in den zahllosen berührenden Soli der Stimmführer im finalen Lied «Der Abschied». Die beiden Gesangssolisten Magdalena Kožená und Clay Hilley standen dahinter merklich zurück, sie blieben auch der Textgestaltung vieles schuldig. Doch erstaunlicherweise störte dies kaum, weil der Orchesterpart die Stimmen mit einem derart stimmigen und subtilen Rahmen umgab.

Bei Rattle, der im Januar siebzig geworden ist, kann man eine Entwicklung beobachten, die sich bei vielen Dirigenten im Alter verstärkt: Sie bauen immer souveräner auf ihren Erfahrungsschatz, modellieren als Meister des Überblicks in erster Linie Formverläufe und setzen zugleich an allen Schlüsselstellen, die sie genau kennen, Wegmarken und Akzente. Das eröffnet den Musikern Freiräume, sich selbst aktiver als üblich gestalterisch einzubringen. Bernard Haitink, der seine Laufbahn 2019 in Luzern beendete, hat diesen abgeklärten Dirigierstil in Vollendung zelebriert. In anderer Weise erlebte man ihn beim Auftritt von Daniel Barenboim mit seinem West-Eastern Divan Orchestra.

Während Lang Lang das g-Moll-Klavierkonzert von Mendelssohn leider arg zum Show-Stück machte, hörte man in Wagners «Siegfried-Idyll» und in Beethovens «Eroica», besonders im Trauermarsch, eine Gelassenheit und einen Mut zur epischen Grösse, die die Zeit anzuhalten schienen. Auch hier kann man die Magie kaum aus der aufs Wesentliche konzentrierten Gestik des Dirigenten begründen. Aber sie ist da, überwältigend stark, und macht das Konzert zu einem Ereignis, das lange nachklingt.

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