Dienstag, November 11

Der französische Staatspräsident attackiert zum Auftakt des Wahlkampfs die Extremisten von rechts und links. Die von ihm angesetzten Neuwahlen sind für ihn das einzige Mittel zu einer «Klärung». Und er sei das «Bollwerk» der Nation.

Staatspräsident Emmanuel Macron glaubt, dass er den drohenden Machtwechsel in Frankreich noch mit der Kraft seiner Worte abwenden kann. An einer Medienkonferenz am Mittwoch beschwor er seine Landsleute, die «Männer und Frauen guten Willens», ihm bei der vorzeitigen Wahl der Abgeordneten am 30. Juni und 7. Juli eine neue Mehrheit zu verschaffen und nicht auf die Extremisten zu hören. Während der rund 90 Minuten verteidigte er seine Bilanz als Staatschef. Er bezeichnete Forderungen nach seinem Rücktritt nach dem «Votum der Wut» bei den EU-Wahlen als «absurd».

Am Sonntag ging das Rassemblement national (RN) in Frankreich als grosse Siegerin hervor. Die rechtsnationale Partei machte 31,4 Prozent der Stimmen und damit mehr als doppelt so viele wie Macrons Partei Renaissance. Noch am Sonntagabend hat Macron deshalb Neuwahlen ausgerufen. Die Ansprache war damals kurz.

Der Präsident will so weitermachen wie bisher

Nun erklärte sich Macron ausführlich und sagte, er betrachte es als seine Aufgabe, mit Neuwahlen für politische Klarheit zu sorgen. Das sei die einzige Lösung. Er habe «Vertrauen» in seine Landsleute und sei selber alles andere als «defaitistisch». Falls «am Tag danach» die extreme Rechte gewonnen haben sollte, werde dies Frankreich schwächen, sagte er warnend. Falls er aber im Gegenteil von seinen Bürgern eine neue Mehrheit erhalte, werde dies Frankreich stärken.

Noch findet er sich nicht damit ab, dass er nach dem 7. Juli im Fall einer rechtsextremen Mehrheit in der Nationalversammlung die Regierungsmacht an das rechtspopulistische RN abzugeben hätte. Ganz im Gegenteil: Am Mittwoch legte er mit einer erstaunlichen Zuversicht ein ganzes Programm mit Aufgaben und Reformvorschlägen dar. Macron, so scheint es, will weitermachen wie bisher.

Er beschuldigte die politischen Extreme beider Seiten, für die Instabilität und Handlungsunfähigkeit der Regierung verantwortlich zu sein. Und er verurteilte auch die politischen Kräfte, die nun im Hinblick auf die Wahlen zur Rettung einiger Sitze Wahlallianzen am rechten oder linken extremen Rand suchen. Am Sonntag seien da «die Masken gefallen», sagte er dazu.

Macron: «Wie könnte das möglich sein»

So stehe das vom Parteichef der Konservativen, Eric Ciotti, angestrebte Abkommen mit dem RN in totalem Widerspruch zur Politik und zu den Grundwerten der bürgerlichen Rechten, sagte Macron. Und er versuchte darzulegen, wieso dieses und andere Bündnisse zum Scheitern verdammt sind. Ciotti habe eine Verschärfung der Rentenreform gefordert, die das RN rückgängig machen wolle. Und wie könne ein Linksbündnis möglich sein zwischen «Sozialisten, die der Ukraine helfen wollen, und La France insoumise, die Russland unterstützt», meinte er angriffslustig. Er bezeichnete die von Jean-Luc Mélenchon angeführte extreme Linke als «antisemitisch» und «antiparlamentarisch».

Macron sollte ursprünglich am Dienstag den Medien Red und Antwort stehen, die Konferenz wurde dann aber auf Mittwoch 17 Uhr verschoben, dann schliesslich auf 11 Uhr vorgezogen. Und als Macron mit seiner üblichen Verspätung endlich seine einleitende Ansprache begann, fiel der Ton der Fernsehübertragung aus. Das alles vermittelte den Eindruck, da werde improvisiert. Nach dem Schock der unerwarteten Auflösung der Nationalversammlung und der Anordnung von Neuwahlen bereits am Ende des Monats herrscht in den politischen Kreisen der Hauptstadt eine fieberhafte Atmosphäre.

Fiebrige Atmosphäre in Frankreich

Ein politisches Psychodrama spielt sich am Dienstag auch bei den Konservativen ab. Eric Ciotti, der Vorsitzende der Partei Les Républicains (LR), hat am Fernsehen auf TF 1 alle mit der Bekanntgabe überrascht, er habe mit dem RN ein Abkommen ausgehandelt, das namentlich darin bestehe, dass mehrere Dutzend LR-Kandidaten in den Genuss einer Wahlhilfe des RN kämen. Dieser «Deal», wie die Zeitung «Le Parisien» dieses Wahlabkommen nennt, stellt einen totalen Bruch mit der bisherigen Bündnisdoktrin der Partei dar, die sich auf das Erbe und die Tradition des Gaullismus beruft. Aufgrund einer Umfrage behauptet die Zeitung «Le Figaro», rund die Hälfte der LR-Sympathisanten würden eine taktische Allianz mit dem RN im Hinblick auf die Wahlen vom 30. Juni und 7. Juli begrüssen.

Praktisch alle prominenten LR-Mitglieder haben sich jedoch empört von Ciotti distanziert: Senatspräsident Gérard Larcher und die gesamte LR-Fraktion im französischen «Oberhaus», der LR-Fraktionschef Olivier Marleix, frühere Minister wie Xavier Bertrand, François Baroin und die gegenwärtige Kulturministerin Rachida Dati (Ex-LR). Sie bezichtigen Ciotti, «gelogen» und seine Partei «verraten» zu haben. Einhellig fordern sie ihn auf, seinen Vorsitz umgehend abzugeben. Seine Strategie bedeute nichts Geringeres als einen «Suizid» der Partei.

Umfragen sagen Sieg für Le Pen voraus

Sie wollten bei einer Sitzung der Parteileitung am Mittwochnachmittag Ciotti «absetzen». Um dies zu verhindern, hat dieser angeblich die Türen der Parteizentrale verriegelt. Der frühere Staatspräsident Nicolas Sarkozy liess verlauten, er sei «global konsterniert», werde sich aber erst äussern, wenn sich «dieses für Frankreich unwürdige Geschrei» gelegt habe.

Mit der rechtsextremen Partei Reconquête von Éric Zemmour und Marion Maréchal (bei den Europawahlen 5,4 Prozent) hat das RN nach ersten Kontakten eine Wahlabsprache schliesslich abgelehnt, weil eine Allianz mit dieser identitären extremen Rechten nicht zu dem Image passt, das Marine Le Pen seit Jahren von ihrer eigenen Bewegung geben möchte.

Trotz anhaltenden politischen Streitereien und persönlichen Rivalitäten scheinen auf der Gegenseite die Verhandlungen über eine Wahlunion der Linksparteien Fortschritte zu machen. Diese Linksunion, die am Mittwoch den Zulauf weiterer kleinerer Parteien und Organisationen erhalten hat, soll vorzugsweise in jedem der 577 Wahlkreise eine gemeinsame Kandidatur vorschlagen. Das ist aber leichter gesagt als getan.

Laut ersten Umfragen kann das rechtspopulistische Rassemblement national bei den vorzeitigen Neuwahlen in Frankreich mit einem Stimmenanteil von bis zu 35 Prozent (Umfrage TF 1) rechnen. Es gibt auch Umfragen, die dem RN eine absolute Mehrheit voraussagen. Marine Le Pen hat ihren Parteichef Jordan Bardella bereits als nächsten Premierminister ins Spiel gebracht. Der zu einer «Volksfront» vereinten Linken werden gegenwärtig 25 Prozent, der Koalition der macronistischen Regierungsparteien 18 Prozent und den Konservativen von LR 9 Prozent prophezeit.

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