In der obligatorischen Schule wird seit Jahren über Sinn und Unsinn von Noten diskutiert. Wie sieht es bei den Hochschulen aus? Ein Blick zur Universität Freiburg, die seit 2019 einen Master ohne Noten anbietet.
Gerade war an den Schweizer Hochschulen wieder Prüfungsphase. Die Zeit, in der sich die Studierenden frühmorgens mit koffeinhaltigen Getränken und Snacks ausgerüstet in den Bibliotheken treffen, um zu büffeln. In den Pausen sagen sich die Studierenden dann mancherorts «Vier gewinnt» – eine Anlehnung an das gleichnamige Strategiespiel, bei dem der gewinnt, der mit seiner Farbe eine Viererreihe vervollständigen kann.
Bei den Studierenden aber hat gewonnen, wer in der Prüfung eine Vier schreibt, im Schweizer Notensystem also knapp genügend ist. Hauptsache, bestanden.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verzichten die pro Jahrgang vierzig Studierenden des Medizinmasters in Freiburg aber auf dieses Bonmot. Denn die Studierenden bekommen während der sechs Semester keine Noten.
Der Studiengang ist damit eine Ausnahmeerscheinung in der Schweiz. Aber wie geht das, ein Studium ohne Noten?
Reflexion vor Repetition
Zwar finden auch in Freiburg regelmässig theoretische Prüfungen statt. Nur erhalten die Studierenden keine Noten, sondern ihre ausgefüllte Prüfung, einen Lösungsbogen sowie die eigene Punktzahl im Vergleich zur Klasse. Sind das nicht auch Noten, einfach in anderen Worten?
Raphaël Bonvin verneint. Er ist Vizedekan der medizinischen Abteilung an der Universität in Freiburg und Programmleiter des Medizinmasters. Laut Bonvin gibt es zwei Unterschiede zu den herkömmlichen Studiengängen. Erstens seien Prüfungsresultate ohne Noten «nicht mehr Mess-, sondern Informationsinstrument». «Wenn es Noten gibt, denken die Studierenden nur ans Bestehen. Bei uns fragen sie sich: Wie kann ich ein guter Arzt werden?»
Zweitens herrsche in Freiburg weniger Druck. Wer nämlich eine schlechte Prüfung schreibt, muss sie nicht automatisch wiederholen. Stattdessen fliesst das Resultat in eine ganzheitliche Bewertung ein, die eine sogenannte Prüfungskommission am Ende des Schuljahres vornimmt.
Die Kommission berücksichtigt dabei diverse Punkte, unter ihnen auch die Selbstbeurteilung oder den Umgang mit den Pflegerinnen oder Patienten. Damit die Kommission ein möglichst umfassendes Bild bekommt, müssen die Studierenden ihren Lernprozess dokumentieren. Wer zum Beispiel im Bereich der Kardiologie schlecht abgeschnitten hat, muss seinen Lernplan überarbeiten und der Prüfungskommission vorlegen. Reflexion vor Repetition.
Kann man also Arzt werden, ohne von Kardiologie eine Ahnung zu haben, solange man nur empathisch genug ist? Bonvin sagt: «Bei uns kommt kein Student durch, der fachlich eine Niete ist, dafür sozial kompetent. Aber es kommt auch keiner durch, der zwar gute Prüfungen schreibt, aber nicht empathisch ist.»
Ein «Ökosystem» für die Studierenden
Der Bericht, den die Studierenden Ende Jahr erhalten, ist etwa eineinhalb Seiten lang. In diesem definiert die Prüfungskommission Ziele und begründet, weshalb man das nächste Schuljahr erreicht hat – oder nicht.
Die allermeisten Studierenden, die den Master in Medizin anfangen, schliessen ihn auch ab. Das sei in Freiburg nicht anders, sagt Bonvin. Ausnahmen seien Einzelfälle. Studierende etwa, die krank seien oder auf ein berufsbegleitendes Studium umsteigen wollten. «Wer den Bachelor in Medizin hat, bringt für gewöhnlich die nötige Disziplin mit, um auch den Master zu bestehen.»
Nicht nur deshalb eigne sich der Medizinmaster für das Experiment ohne Noten. Bonvin sagt: «Die Studierenden verbringen mehr Zeit im Spital als im Hörsaal, sie werden gewissermassen als Assistenzärzte ausgebildet.» Der hohe Praxisanteil zwinge die Universität dazu, auf andere Dinge zu fokussieren, und diese anderen Dinge seien kaum zu benoten. Etwa das professionelle Auftreten. Bonvin hat darum ganz auf Noten verzichtet, als er den Studiengang konzipierte. Um zu verhindern, dass das theoretische Wissen allzu sehr ins Gewicht fällt, nur weil es leichter benotet werden kann.
Als Vorbild diente das Cleveland Clinic Lerner College of Medicine in den USA, das weltweit zwanzig bis dreissig Nachahmer gefunden hat, unter ihnen die Universität Freiburg. Dort hat Bonvin ein «Ökosystem» mit Lernbegleitern oder Workshops zum Thema Work-Life-Balance geschaffen. Ein bisschen wirkt der Studiengang wie eine Rundumbetreuung für die Studierenden.
«Viel weniger Druck und Stress»
Und den Studierenden scheint der Master entsprechend zu gefallen. Das zumindest legen die Ausführungen von Mathilde Brugger nahe. Brugger hatte bereits den Bachelor in Freiburg gemacht und befindet sich nun im fünften Semester des Masters ohne Noten. Sie sagt: «Ich empfinde viel weniger Druck und Stress als vorher.»
Brugger habe Zeit für Hobbys, weil sie abends oder in den Prüfungsphasen nicht mehr lernen müsse. Für die eins bis vier Prüfungen pro Semester lerne sie aber nicht weniger, nur weil es keine Noten gebe. «Ich möchte schon gut sein an den Prüfungen.» Aber wenn das Leben spiele, man Probleme mit der Familie oder der Masterarbeit habe, dann könne man das in der Selbstbeurteilung vermerken. Brugger sieht keine Nachteile im Studieren ohne Noten. «Höchstens, dass wir jetzt mehr Konkurrenzkampf haben. Weil wir nach den Prüfungen wissen, wie wir im Vergleich mit anderen abgeschnitten haben.»
Laut SRF hat das Freiburger Modell das Interesse anderer Universitäten geweckt. So überarbeite die Berner Fachhochschule gerade ihr Bewertungssystem. Auch die Universität Genf beobachte den Medizinmaster in Freiburg mit Interesse.
Feedback ist zentral
Es liegt gerade im Trend, auf Noten zu verzichten. Diverse Schweizer Primar- und Sekundarschulen haben Noten in manchen Klassen abgeschafft. Der Nidwaldner Bildungsdirektor Res Schmid sagte jüngst in dieser Zeitung, er sei nicht einverstanden mit dieser Entwicklung. «Eine Note ist noch immer die fairste aller Bewertungen.» Nur sie schaffe Fakten.
Und wie sieht es in der höheren Bildung aus, bei den Universitäten?
Stefan Wolter ist Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern. Er hat sich mehrfach kritisch zur Abschaffung von Noten geäussert. Wolter sagt: «Die Forschung zeigt teilweise, dass Studierende nicht automatisch weniger Stress haben, wenn sie keine Noten kriegen. Bisweilen haben sie sogar mehr Stress, weil sie so ihre Leistungen nicht einschätzen können.»
Laut Wolter sei es zentral, dass sich die Schüler einschätzen könnten. «Die Lernpsychologie beweist seit Jahrzehnten, dass man nur mit Feedback lernen kann. Dieses Feedback muss aber eindeutig zu interpretieren sein.» Bei allen Nachteilen, die Noten hätten, seien sie immerhin «klar zu verstehen». Voraussetzung sei, dass die Noten auch «richtig» seien, die Leistung des Schülers auch abbildeten. Es gebe aber Hinweise darauf, dass die Noten hierzulande durchaus glaubwürdig seien. «Beispielsweise wird der Zusammenhang zwischen den Noten und dem späteren Erfolg auf dem Arbeitsmarkt auch mit der Zeit nicht kleiner.»
Will heissen: Wer Schule und Studium mit guten Noten abschliesst, wird es beruflich eher weit bringen. «Vier gewinnt» ist also ohnehin nicht die beste Herangehensweise.