Donnerstag, September 19

Nikoletta Stoyanova / Getty

Odessa war einst eine Stadt voller Kultur, Genuss und Touristen. Erstmals seit dem Krieg kehrte über den Sommer ein Hauch Normalität ein. Wie geht es den Menschen?

Der Barkeeper an der Strandbar mixt Cocktails, Angler auf zerfallenen Betonpieren warten auf einen Fang, einige Kinder spielen im Sand. Plötzlich heult die Sirene des Luftalarms auf. Ein Angler wirft seine Rute gekonnt wieder aus, dann lehnt er sich in seinem Klappstuhl zurück. Die Kinder spielen weiter. Das Signal scheint niemanden zu kümmern.

Die Sirene ertönt in Odessa jeden Tag, und zwar mehrmals. Sie erinnert daran, dass sich das Land noch immer im Krieg befindet. Wie in vielen ukrainischen Städten gehört sie hier zum Alltag.

Odessa war einst eine beliebte Destination für Touristen. Es bot schöne Strände, ein reichhaltiges Kulturangebot und einen Hafen, der für die ukrainische Wirtschaft von grosser Bedeutung war. Dann kam der Krieg.

Die Unesco hat die Stadt als gefährdet eingestuft. Im ersten Kriegsjahr waren die Strände gesperrt, der Tourismus kam fast komplett zum Erliegen. Heute ist der Hafen wieder teilweise in Betrieb, und in der Hafenstadt kehrt das Leben allmählich zurück.

Nun endet ein Sommer zwischen Krieg und Normalität. Was bedeutet das für die Menschen hier?

Nika Losowska, 33, Gastrounternehmerin

«Diesen Sommer kehrte der Tourismus endlich zurück. Das Wetter war gut, und die Saison war sehr erfolgreich. Die vielen Luftalarme beeinflussen das Geschäft nicht gross. Die Menschen haben sich daran gewöhnt und bleiben meistens sitzen. Wir fordern unsere Kunden auch nicht auf, Schutz zu suchen. Jeder kann selber entscheiden, ob er Schutz suchen will – auch das Personal. Falls sie das möchten, gibt es auf der anderen Strassenseite einen Schutzraum.

Am ersten Tag der Umsetzung des Getreideabkommens schlugen zwei Raketen in den nahe gelegenen Hafen ein. Wenige Sekunden nach dem Alarm hörten wir bereits die Explosionen. Die Vorwarnzeit ist hier in Odessa sehr kurz, denn die Russen beschiessen die Stadt von der Krim aus. Sie liegt nur 60 Kilometer entfernt.

Während der ersten fünf Monate des Kriegs war ich im Ausland. Odessa dauerhaft zu verlassen, war für mich aber nie eine Option. Trotz der permanenten Gefahr bin ich gerne hier. Ich geniesse es dennoch, wenn ich beruflich ins Ausland reisen kann, um dort Vorträge zu halten.

Vor dem Krieg führte ich neben einem Restaurant auch noch ein Café mit einem Fine-Arts-Museum sowie einen Ghost-Kitchen-Betrieb, also ein Restaurant mit Menus zum Ausliefern oder Abholen. Heute ist nur noch dieses Restaurant übrig geblieben. Wegen der vielen Stromausfälle können wir es nur mithilfe eines Generators betreiben. Ich beschäftige noch zwölf Mitarbeitende, fast alles Frauen. Die Männer mussten an die Front. Einer meiner Barkeeper ist gefallen.

Die Preise für die Rohmaterialien steigen ständig, und ich kann die höheren Kosten nicht immer direkt an die Kundschaft weitergeben. Der Gewinn ist deshalb stark zurückgegangen – dabei läuft das Geschäft eigentlich gut.»


Witali, 32, Informatiker und Webdesigner

«Seit Juli betreibe ich mit zwei Freunden die ‹Equator Terrace› in Odessa. Es ist ein Projekt, um Partys und Konzerte zu veranstalten. Wir betreiben dort eine Bar und bieten Workshops an, zum Beispiel in Holzbildhauerei.

Das Gebäude haben wir durch Zufall entdeckt: Es ist bei einem Angriff auf das benachbarte Restaurant stark beschädigt worden, seither stand es leer. Die Lage ist sehr gut: Unser Lokal befindet sich zwischen dem Jachthafen, dem Strand und einem Health-Track. Im Moment investieren wir noch immer Geld, um es wieder instand zu setzen; Gewinn haben wir deshalb noch keinen gemacht.

In Zukunft möchten wir auch Schulungen anbieten, um das ökologische Bewusstsein zu fördern. Bei uns gibt es zum Beispiel Speisen aus lokaler Bioproduktion. Die Kräuter und Gewürze bauen wir in kleinen Mengen selbst an. Meine Familie stammt aus der Region Winnizja und war einst in der Landwirtschaft tätig.

Die Behörden interessieren sich bis jetzt nicht für unser Geschäft. Die ukrainische Bürokratie ist sehr hemmend. Noch immer herrscht eine ‹sowjetische Mentalität›: Viele Menschen hier erwarten, dass der Staat dafür zuständig ist, ihr Leben zu gestalten. Ich finde, sie sollten viel mehr Selbstverantwortung lernen.

Neben dem Lokal habe ich noch einen Job in der IT-Branche. Inzwischen arbeiten viele Ukrainer bei globalen Unternehmen. Das bringt neues Wissen und Erfahrung ins Land. Es könnte die Ukraine innovativer und moderner machen. Das Land hat schon viele harte Zeiten überstanden. Wir werden auch diese hinter uns lassen.

Einige meiner Freunde haben die Ukraine verlassen, meine Familie lebt weiterhin hier. Ich habe zwar die Dokumente, um für berufliche Aufgaben im IT-Bereich ins Ausland zu reisen, benutzt habe ich sie aber noch nie.

Mein Platz ist im Moment hier. Ich will etwas bewegen und mich für etwas einsetzen, was dem Land Fortschritt bringt. Für mich ist es wichtig, mich vom Krieg nicht paralysieren zu lassen und gerade in dieser Zeit den Menschen hier zu helfen. Nach dem Krieg werde ich immer noch Zeit haben, um zu reisen.»


Dascha, 32, Marketing-Fachfrau

«Odessa wäre eine wunderbare Stadt: das Meer, die entspannte Lebensweise der Menschen, das grosse Angebot im Sportbereich. Die junge Generation ist sehr kreativ, es entstehen ständig interessante Party-Locations und Kulturprojekte. Doch der Krieg ist allgegenwärtig.

Ausserdem ist die ‹sowjetische Mentalität› sehr verbreitet, besonders unter den älteren Menschen. Viele Entscheidungsträger sind nicht in der Lage, das Potenzial von Menschen zu erkennen und sie nach ihren Fähigkeiten einzusetzen.

Dazu kommt die Korruption, insbesondere in der lokalen Politik. Alle guten Jobs in der Stadtverwaltung gehen an Familienmitglieder und enge Freunde der Lokalpolitiker. Natürlich machen diese Leute den Job nicht gut. Man muss deshalb oft sehr lange warten, bis ein Anliegen bearbeitet wird.

Ich arbeite derzeit im Marketing. Das ist ideal, um noch genügend Zeit für den Laufsport zu haben, um zu malen oder zu tanzen. Zu Beginn des Krieges hatte ich überlegt, einen Job bei der Armee anzunehmen. Ich wollte mein Wissen im Bereich IT und Marketing einbringen. Davon habe ich aber abgesehen, nachdem eine Freundin bei der Armee angefangen hatte. Sie war hochqualifiziert, dennoch wurde sie nur für einfache Bürotätigkeiten und als Sekretärin eines Kommandanten eingesetzt.

Westeuropa unterstützt die Ukraine zwar stark, aber ich würde mir mehr Agilität wünschen. Oft kommt die Hilfe erst dann, wenn es bereits zu spät ist. Dadurch wird der Krieg unnötig verlängert. Ich finde, dass der Westen gegenüber Putin viel mehr Stärke zeigen sollte. Solange man ihm keine Grenzen aufzeigt, wird er weiter nach Territorien anderer Länder greifen.»


Wladislaw, 27, Agrarwirtschafter

«Ich trainiere fast täglich bei Sonnenaufgang hier bei der Outdoor-Fitnessanlage. Dazu absolviere ich auch noch andere Trainingsprogramme im Kraftsport- und Fitnessbereich. Sport ist meine absolute Leidenschaft. Er lenkt mich vom Krieg und von den Problemen unseres Landes ab.

Ich bin froh, dass bisher niemand von meiner Familie und meinen Freunden verletzt oder getötet worden ist. Dennoch ist das Leben in dieser Zeit sehr schwierig. Es gibt viele Kriegsschäden, die Preise und die Steuern sind gestiegen, es gibt Sperrstunden und viele Kontrollen an den Checkpoints. Ich weiss, dass diese Massnahmen der Sicherheit dienen, aber sie hemmen leider auch die Logistik.

Die Fortbewegung durch das grosse Land ist sehr schwierig geworden. Viele Strassen und Bahnlinien sind beschädigt, die Strom- und Wasserversorgung ist beeinträchtigt. Ausserdem haben wir viele Gebiete verloren, oder sie sind umkämpft. Im Agrargeschäft sind deshalb grosse Verluste entstanden.

Nach dem Krieg möchte ich Freunde in Deutschland und in Kroatien besuchen. Im Moment will ich meine Heimat aber nicht verlassen. Ich bin hier geboren und liebe die Ukraine. Wir müssen unser Land wieder aufbauen.»

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