Freitag, September 20

Die Niederlande wollen ein Opt-out aus dem EU-Asylsystem. Doch das geht nicht, wie die Regierung selbst anerkennt. Der Angriff von Rotterdam ist Wasser auf die Mühlen von Geert Wilders – obwohl vieles unklar ist.

Der Angriff geschah am Donnerstag kurz vor dem Eindunkeln: Unmittelbar neben der berühmten Erasmusbrücke attackierte ein Mann mit einem langen Messer offenbar wahllos Passanten. Ein 32-jähriger Inline-Skater wurde tödlich verletzt, ein 33-jähriger Mann erlitt Verletzungen. Dass es nicht mehr Opfer gegeben hat, ist notabene dem beherzten Eingreifen eines zufällig anwesenden Personal Trainers zu verdanken. Er hielt den Angreifer mit einem Fitnessstock in Schach.

Beim Verletzten handelt es sich um einen Schweizer Staatsbürger, wie die niederländische Polizei bekanntgab. Diese sprach zuerst von schweren Verletzungen, was das Schweizer Aussendepartement (EDA) im Verlauf des Freitags aber korrigierte. Der Mann sei nur leicht verletzt worden und habe das Spital wieder verlassen können.

Über den Täter, der ebenfalls verletzt worden ist, ist erst wenig bekannt. Er ist 22 Jahre alt und stammt aus der Stadt Amersfoort. Zum Motiv äussern sich die Behörden bis jetzt nicht. Gemäss niederländischen Medienberichten, die sich auf Augenzeugen stützen, schrie der Mann während der Tat «Allahu akbar» (Gott ist gross). Der neue Premierminister Dick Schoof sagte vor einer Regierungssitzung, dass der Angreifer möglicherweise geistig verwirrt sei.

«Islamisierung der Niederlande»

Für Geert Wilders, dessen islamophobe Partei für die Freiheit vergangenen November die Parlamentswahlen klar gewonnen hat, ist die Messerattacke trotz allen Ungewissheiten Wasser auf die Mühlen. Auf der Plattform X teilte er am Freitag einen Artikel zum Thema und schrieb darüber einzig: «Allahu akbar – Islamisierung der Niederlande».

Denn Wilders treibt die niederländische Regierung in der Zuwanderungspolitik derzeit vor sich her, obwohl er selbst gar nicht im Kabinett sitzt. Bereits im Mai, als sich vier rechte Parteien auf eine Koalition geeinigt hatten, kündigte der wohl bekannteste Islam-Kritiker Europas «die strengste Asylpolitik, die wir jemals hatten» an.

Aus den Worten sind diese Woche Taten geworden – die allerdings auf wackligem Fundament stehen. Wilders Platzhalterin Marjolein Faber, die Ministerin für Asyl und Migration, schrieb am Mittwoch einen Brief nach Brüssel und beantragte einen Ausstieg aus dem EU-Asylsystem. Dieses ist im europäischen Vertrag verbrieft.

Die Anzahl der Asylanträge war in den vergangenen Jahren in den Niederlanden einigermassen stabil und liegt im Durchschnitt der EU-Länder. Laut Faber ist die Verschärfung aber notwendig, um die «verfassungsrechtlichen Aufgaben wie die Bereitstellung von Wohnungen, Gesundheitsversorgung und Bildung» erfüllen zu können. Wilder sprach in der Folge von einem «Mini-Nexit».

Es braucht Einigkeit der EU-Staaten

Doch so einfach ist es nicht, wie die EU-Kommission Den Haag postwendend beschied: Ein solches Opt-out sei nur im Falle einer Vertragsänderung möglich – und eine solche sei derzeit nicht in Sicht. In der Tat ist eine Reform der rechtlichen Grundlage eine überaus langwierige Prozedur. Ein Opt-out wird Mitgliedstaaten, wenn überhaupt, beim Beitritt oder während einer ohnehin anstehenden Revision gewährt. Bei den gemeinsamen Asylregeln gilt dies etwa für Dänemark. Sämtliche 27 EU-Regierungen müssen einverstanden sein.

Im Falle des niederländischen Asyl-Wunsches ist dies überaus unwahrscheinlich – was die Regierung natürlich weiss. In gleichen Brief schrieb Asylministerin Faber, dass man – solange man nicht über ein Opt-out verfüge – «die rasche Umsetzung des Migrationspakts als zentral» erachte, der letzten Dezember nach jahrelangen Verhandlungen beschlossen worden sei. Er sieht unter anderem einen stärkeren Schutz der EU-Aussengrenzen sowie einen Solidaritätsmechanismus vor.

Ist es eine akute Krise?

Bereits vor einer Woche hatte Faber angekündigt, einen nationalen «Asyl-Notstand» ausrufen zu wollen und damit Teile des Asylgesetzes ausser Kraft zu setzen. Die Rückschaffung von abgewiesenen Asylbewerbern soll vereinfacht und der Familiennachzug erschwert werden. Obwohl die Asylmigration nur rund zehn Prozent der gesamten Nettozuwanderung ausmacht, sollen die Niederlanden für Asylsuchende so unattraktiv wie möglich werden.

Im Parlament regt sich nun aber Widerstand, wie sich diese Woche gezeigt hat: Dabei geht es weniger um die migrationsrechtlichen Verschärfungen als um die Verfassungsmässigkeit der geplanten Massnahme. Denn eine Notstandsgesetzgebung darf nur bei einer akuten Krise wie etwa einer Pandemie, einer Naturkatastrophe oder kriegerischen Ereignissen aktiviert werden. Gemäss der Opposition sind diese Voraussetzungen aufgrund der stabilen Asylzahlen derzeit nicht gegeben. Sogar die Koalitionspartei NSC zweifelt an der Rechtmässigkeit der Pläne.

Hohe Busse gegen Ungarn

Während sich andere EU-Staaten um die Stabilität des gemeinsamen Vertragswerks sorgen, kommt aus Ungarn Applaus für die niederländischen Ankündigungen. Europaminister Janos Boka kündigte auf X an, ebenfalls aus den europäischen Asyl- und Migrationsregeln aussteigen zu wollen, sofern ein Vertragszusatz dies ermögliche. Man bleibe aber ein «engagiertes Mitglied» der Schengen-Zone.

Dass ein allfällig formeller Antrag Ungarns mehr Erfolg hat als derjenige der Niederlande, ist zu bezweifeln. De facto hat sich Ungarn, das gegenwärtig die EU-Präsidentschaft innehat, ohnehin schon lange aus dem europäischen Asylsystem verabschiedet. Es weist Migranten an der Grenze konsequent ab und inhaftierte Asylsuchende zeitweise gar in geschlossenen Transitlagern an der serbischen Grenze.

Weil Ungarn eine «beispiellose und aussergewöhnlich schwere Verletzung des Unionsrechts» begangen habe, verhängte der europäische Gerichtshof (EuGH) erst diesen Juni eine drastische Strafe: 200 Millionen Euro Busse sowie ein Zwangsgeld von 1 Million Euro für jeden weiteren Tag, den Ungarn mit dem Vollzug eines früheren Urteils zuwartet.

Ungarn weigert sich, zu bezahlen

Doch Budapest denkt offenbar nicht daran, gegenüber Brüssel nachzugeben, wie ein EU-Kommissionssprecher diese Woche bekanntgab: Bis zum 17. September sei keine Zahlung eingegangen, weshalb man nun damit beginne, die 200 Millionen Euro von anstehenden Überweisungen an Ungarn abzuziehen.

Auch das Zwangsgeld scheint die Regierung von Viktor Orban nicht abzuschrecken: Die über 90 Millionen Euro, die in den drei Monaten fällig gewesen wären, sind bis Mittwoch nicht in Brüssel eingetroffen. Man werde nun eine Rechnung nach Budapest schicken, sagte der Sprecher. Zahlungsfrist: 45 Tage.

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