Samstag, Oktober 5

Der britische Autor hat gerade einen grossen Roman über den moralischen Niedergang Grossbritanniens geschrieben. Im Gespräch schildert Andrew O’Hagan die soziale Spaltung seines Landes. Sein Buch hält er für einen Ruf zu den Waffen.

Wir treffen uns in einem Café nördlich der Londoner City, gleich jenseits des Regent’s Park und des angrenzenden Primrose Hill. Von dessen Kuppe aus hat man einen phänomenalen Blick auf die Skyline, während an dessen Fuss ein stilles Wohnquartier liegt, nicht masslos luxuriös, aber dennoch ostentativ privilegiert. Hier lebt der Schriftsteller Andrew O’Hagan, und hier in der Gegend sowie in der angrenzenden Camden Town spielt sein Gesellschaftsroman «Caledonian Road» über den moralischen Ruin der britischen Gegenwart.

O’Hagan kommt etwas verspätet, begrüsst zunächst mehrere Leute im Café, man kennt ihn hier. Es sei sein Café, sagt er, kaum hat er sich gesetzt. Er habe es mit einem Freund vor drei Jahren gekauft und betreibe es seither. Sie hätten immer schon davon geträumt. Als sich die Gelegenheit bot, fragten sie sich: Wann, wenn nicht jetzt?

Der 1968 in Schottland geborene und heute in London und Glasgow lebende Schriftsteller ist auch regelmässiger Mitarbeiter der renommierten «London Review of Books», für die er Essays und Reportagen schreibt, jüngst über den Parteikonvent der Republikaner in Milwaukee. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, «Caledonian Road», bei Ullstein erschienen, wird im nächsten Jahr verfilmt. Man könnte O’Hagan leicht für einen Banker halten. Er kommt im Dreiteiler mit weissem Hemd und Krawatte. Das leicht angegraute Haar ist akkurat zur Seite und nach hinten gegelt, ein scharf gezogener Scheitel teilt es links am kantigen Kopf.

Andrew O’Hagan, es muss Ihnen ein grosses Vergnügen bereitet haben, dieses Buch über den britischen Sittenverfall zu schreiben. Sie konnten gar nicht mehr aufhören, es wurde 800 Seiten dick.

Zehn Jahre habe ich daran gearbeitet, und laufend erforderten die Ereignisse eine Anpassung des Plots: Das begann mit dem Brexit, dann kam die Migrationskrise, schliesslich die Pandemie. Ich sog alles in mich auf und schöpfte aus dieser Fülle an Stoff einen Gesellschaftsroman, der hier in der Gegend spielt.

Sie stechen auch mit vergnügter Boshaftigkeit diese Eiterblase aus Korruption, Niedertracht und Politikversagen auf.

Während ich schrieb, beobachtete ich, wie sich das Chaos in Boris Johnsons Grossbritannien ausbreitete. Ich habe zwei Dinge zu tun versucht: Zum einen wollte ich mir in diesen düsteren Zeiten den Sinn für Humor bewahren. Zum anderen fühlte ich mich verpflichtet, immer tiefer in diesen Sumpf einzudringen. Das britische Leben und seine Institutionen waren verletzbar geworden, auch wegen narzisstischer und unmoralischer Politiker.

Das Buch endet allerdings etwas überraschend und enttäuschend auf einer versöhnlichen Note. Fehlte Ihnen die Lust zur nötigen Härte?

Die Hauptfigur landet im Gefängnis, und einige kommen zu Tode, und Sie nennen das versöhnlich? Sie haben zugleich recht, denn ich glaube, da ist Hoffnung in der Welt. Ich bin im Grunde ein optimistischer Mensch. Wir müssen durch die Schrecken der Gegenwart hindurch und mit einer Idee für morgen daraus hervorkommen.

In Ihrem Roman schildern Sie den Niedergang Britanniens im 21. Jahrhundert. Da ist von Ihrem Optimismus wenig spürbar. Beginnen wir also mit den Schrecken der Gegenwart.

Ich war 11 Jahre alt, als Margaret Thatcher an die Regierung kam. In meinen Teenager-Jahren beobachtete ich die Auslöschung vieler möglicher Lebensweisen. Industrien wurden zerschlagen, Lebensgemeinschaften zerstört, ein Argwohn bemächtigte sich der Menschen, den es zuvor nicht gegeben hatte. Der Charakter der Gesellschaft veränderte sich.

Können Sie Margaret Thatchers Leistung etwas genauer beschreiben?

Es gab auch zuvor unfähige Regierungen. Aber es war das erste Mal, dass die Gesellschaft gespalten wurde. Das ging auf Thatcher zurück. Sie brachte eine Unterschicht hervor, die Trennung von jenen, die erfolgreich waren, und jenen, die es nicht geschafft hatten.

Ein starkes Klassenbewusstsein war doch aber nichts Neues in der britischen Gesellschaft?

Es gab zwar Armut, aber nie dieses Gefühl von Aussichtslosigkeit. Man lebte solidarisch miteinander. Thatcher führte einen kompetitiven Kapitalismus in die Gesellschaft ein. Sie verkaufte zum Beispiel die Sozialwohnungen an die Mieter. Sie glaubte, mit Wohneigentum vielen Menschen zu relativem Wohlstand zu verhelfen. Es führte aber dazu, dass einige wohlhabend wurden und andere arm blieben. Sozusagen über Nacht wurden sich Nachbarn fremd.

Wäre es besser, wenn die Armut gleich verteilt geblieben wäre? Immerhin verschaffte Thatcher einigen Leuten den sozialen Aufstieg.

Es gibt einen institutionellen Bias in dieser Gesellschaft, der zum Beispiel auch meine Privilegien schützt. Ich zeige mit dem Finger nicht auf andere Menschen. Im Mittelpunkt meines Romans steht eine Figur, die sehr viele Ähnlichkeiten mit mir hat, ähnlich privilegiert, ähnlicher Hintergrund, vergleichsweise wohlhabend.

Am Ende wird er verhaftet. Das wünsche ich Ihnen nicht.

Die Geldgier wurde ihm zum Verhängnis. Ich nehme damit meine Generation aufs Korn, die Idealisten der 1970er Jahre, die alle Feministen sein wollten, die nach dem Glück suchten und die Welt verändern wollten. Wir kämpften für Gleichberechtigung und für faire Verteilung des Wohlstands. Und was haben wir erreicht? Nichts. Darum haben die jungen Menschen recht, die uns sagen: Ihr seid aufrechte Liberale, ihr schreibt für die richtigen Zeitungen, ihr habt die richtigen Ansichten, ihr werdet gut bezahlt. Aber was habt ihr wirklich getan?

Und was antworten Sie?

Schriftsteller haben noch nie eine Revolution angezettelt. Aber sie können in den Menschen etwas bewegen, indem sie die Welt zeigen, wie sie ist.

Sie haben auf die Spaltung der Gesellschaft hingewiesen. Wir sehen jedoch nicht nur Grenzen zwischen arm und reich oder links und rechts. Es gibt auch die Spaltung entlang ethnischer Linien. Bricht die Gesellschaft nicht vielmehr auseinander, als dass sie gespalten wird?

Rechtsnationale Parteien haben begriffen, dass sie aus diesen vielfältigen Spaltungen politisches Kapital schlagen können. Mit Erfolg bewirtschaften sie Wut, Entfremdung und Frustration der von der Politik abgehängten, schlecht bezahlten und unterprivilegierten Einheimischen, die überzeugt sind, die Migranten seien das Problem und nicht etwa sie selber oder Boris Johnson, der den Brexit vollzogen hat.

Eigentlich müssten doch die an der Armutsgrenze lebenden Einheimischen die natürlichen Verbündeten der vielen ebenso unterprivilegierten Migranten sein.

Es geschieht genau das Gegenteil. Die weissen jungen Männer werfen den Migranten vor, sie kämen in unser Land und würden ihnen ihre Jobs wegnehmen. Das ist ein Trugschluss, und ausserdem wollen sie die Jobs gar nicht, die ihnen die Einwanderer angeblich wegnehmen. Sie haben sie nie gewollt. Aber das dringt nicht in die Köpfe dieser Männer ein.

Nigel Farage greift diese Themen mit seiner rechtsnationalen Partei Reform UK auf. Aber hat er auch Antworten?

Politiker wie Nigel Farage bewirtschaften die Ängste und Vorurteile vieler Unzufriedener. Sie greifen deren Unmut auf und befeuern ihn wie Kulturkrieger. Wir können unser Land zurückholen, heisst es dann. Wie soll das gehen, und was soll das bedeuten? Will er diesen frustrierten Leuten Jobs verschaffen? Wird die Gesellschaft ihnen mit ihren Drogenproblemen helfen? Und gibt er ihnen eine Zukunft? Nein, das tut er nicht.

Die Konservativen wiederum sind mit ihren Antworten gescheitert. Hat Keir Starmer mit seiner Labour-Regierung eine Vorstellung, wie das Land zu reformieren wäre?

Man wird sehen müssen. Ist er nicht auch Teil der privilegierten Klasse? Vielleicht ist es heute ohnehin gar nicht möglich, in der Regierung zu sein, ohne nicht zugleich Teil des Problems zu sein. Gibt es irgendwo in Europa eine Regierung, die genuin daran interessiert ist, das Leben der Ärmsten in der Bevölkerung ernsthaft zu verbessern?

Heisst das, unsere demokratischen Institutionen sind nicht mehr in der Lage, mit den Problemen der modernen Gesellschaft umzugehen?

Wir schaffen es jedenfalls nicht mehr, jene in die Gesellschaft hereinzuholen, die am sozialen und wirtschaftlichen Wohlergehen nicht teilhaben. Wir sind keine Wohlstandsgesellschaft mehr.

Soll der Staat Vormund seiner Bürger sein?

Wenn man die Abgehängten der Gesellschaft nur lange genug ignoriert, dann werden sie radikalisiert. Heute neigt diese Radikalisierung überwiegend nach rechts. Es wird dann gegen Fremde, gegen Schwarze agitiert, das Land soll vor Zuwanderung geschützt werden.

Grossbritannien hat eine lange Tradition als Einwanderungsland, doch seit den frühen 1940er Jahren wird immer wieder vergeblich versucht, Einwanderer abzuschrecken. Wie soll es heute gelingen?

Die Migranten kommen auf Booten, ob man sie will oder nicht. Soll man sie etwa ertränken? Wir können nicht einfach sagen, die Migranten seien das Problem, sie sollen es selber lösen. Das sind zum grossen Teil Wirtschaftsflüchtlinge. Sie kommen nicht hierher, weil sie Coca-Cola wollen. Oder weil sie in einem Café sitzen und über den Zustand der Welt diskutieren möchten. Sie wollen die Chance auf ein besseres Leben haben, und sie wünschen sich, dass es ihren Kindern einmal besser geht als ihnen. Ist denn das ein so schrecklicher Instinkt?

Viele Menschen im Westen finden, nein, es sei kein schrecklicher Instinkt, aber nicht in ihrem Land! Denn mit ihnen kämen auch Gewalt und Antisemitismus ins Land.

Es ist der gleiche Instinkt, den viele nach Amerika ausgewanderte Europäer hatten oder den ich hatte. Ich lebe heute in London, Kind in der vierten oder fünften Generation irischer Einwanderer. Sie überquerten 1861 die Irische See und suchten im industrialisierten Glasgow Arbeit. Die irischen Katholiken veränderten diese Gesellschaft: religiös, ökonomisch, sozial. Sie wurden heftig angefeindet damals, sie integrierten sich, sie wurden meine Eltern, ich hatte das Glück, die Bildung zu erhalten, die ich brauchte. Und nun lebe ich in London und bin ein erfolgreicher Journalist und Schriftsteller, der durch die halbe Welt reist.

Dann wäre also alles eine Frage des Mindsets? Migranten gehen ihren Weg, arbeiten hart und machen Karriere, während die Abgehängten der britischen Gesellschaft in der Armutsfalle gefangen bleiben. Fehlt ihnen einfach nur der richtige Antrieb?

Es liegt mir fern, irgendwelche Vorurteile gegenüber schlechtbezahlten Arbeitern zu verbreiten. Aber ich sehe es hier im Café. Wir beschäftigen 14 Angestellte, Menschen von überallher, aber es ist richtig hart, Engländer zu rekrutieren. Wir haben einen Pakistaner in der Küche, wir haben eine Algerierin im Service. Oder nehmen Sie die Handwerker. Sie brauchen jemanden, der Ihnen das Dach repariert? Sie fragen einen Pakistaner, und er erledigt die Sache in einer Woche. Sie fragen einen Engländer, und es dauert fünf Wochen, bis er sich nur den Schaden anschaut. Darum ertrage ich das Gerede schlecht über die faulen Ausländer, die das Sozialsystem plündern. Die Wahrheit ist: Migranten halten dieses Land am Laufen. Gehen Sie in ein Krankenhaus: Sie werden umzingelt sein von Ausländern, die Ihnen helfen, indem sie auch einmal zwei Schichten arbeiten. Das lesen Sie nicht in den Zeitungen. Dort, zum Beispiel in der «Daily Mail», steht dann, die Menschen kämen hierher, um unsere Leute aus den Jobs zu drängen.

Wie wollen Sie den Ehrgeiz dieser abgehängten Einheimischen wecken, damit sie nicht einfach auf den Staat warten?

Die Imaginationskraft einer ganzen Generation zu entzünden, das ist es doch, was ein Schriftsteller tun möchte. Wir können den Leuten zeigen, dass man die Gesellschaft verändern kann. Romane haben keine Antworten, sie können die Welt nur beschreiben. Sie behaupten, mein Buch sei pessimistisch, ich würde sagen: Es ist ein Ruf zu den Waffen.

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