An Weihnachten ist sie gern gesehener Gast im Haus. Im Freien tötet sie mitunter Bäume. Die Mistel ist eine Pflanze mit unbestimmtem Ruf. Dabei ist der Halbschmarotzer nicht nur als Deko nützlich, er fördert auch die Vielfalt in der Natur.
Zu Weihnachten hängen ihre Zweige über Türen, an Wänden oder Fenstern. Die Mistel ist wohl der einzige Parasit, den Menschen sich freiwillig nach Hause holen.
Unter einem Mistelzweig soll man sich küssen, heisst es; Liebende bleiben dann ein Leben lang zusammen. Der Ursprung dieses Brauchs ist nicht ganz klar. Die einen führen ihn auf die nordische Mythologie zurück: Der Gott Balder, Sohn von Odin und Frigga, starb durch einen Mistelzweig. Frigga weinte, und ihre Tränen verwandelten sich in die weissen Beeren der Mistel. Als ihr Sohn aus der Unterwelt zurückkehrte, küsste sie jeden, der unter einem Baum mit Misteln ging.
Die anderen sagen: Zur Zeit der Saturnalien, der Feste zu Ehren von Saturn, feierten manche Römer Orgien – mit Küssen unter Mistelzweigen. Von den Orgien ist in der Schweiz nur ein Fruchtbarkeitssymbol geblieben, mancherorts tragen Bräute einen Mistelzweig im Kranz.
Die Mistel faszinierte nicht nur Rom: Plinius der Ältere beschreibt, dass die Mistel den gallischen Druiden so heilig war, dass sie die Heilpflanze nur mit goldenen Sicheln sammelten. Diese Erzählung halten die Asterix-Comics am Leben, die Mistel ist dort Teil des Zaubertranks, mit dessen Hilfe ein gallisches Dorf dem römischen Imperium trotzt. Und tatsächlich, Mistelpräparate können den Blutdruck senken, das Immunsystem stärken und das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen reduzieren. Immer wieder fragen Studien, ob die Mistel auch Krebs heilen kann oder gegen Alzheimer hilft. Seit über 2000 Jahren begleitet die Mistel den Menschen, und alles deutet darauf hin, dass es so bleibt. Dieser charismatische Parasit hat sich auch an uns festgesetzt.
Die meisten Forscher sind sich einig, wir wissen viel zu wenig über diese wundersame Pflanze. Erst im zwanzigsten Jahrhundert haben wir von der dunklen Gemeinsamkeit ihrer Familie erfahren: Die Sandelholzartigen zählen mehr als 2500 Schmarotzer und Halbschmarotzer. Der Sandelholzbaum, von dem die ganze Familie ihren Namen leiht, ist, neben Möbeln, vor allem als Bestandteil von Parfums bekannt – etwa als Zutat des Dufts Égoïste, «dessen Verführungskraft auf einem starken, unabhängigen und unergründlichen Charakter beruht», schreibt Chanel über seinen teuren Egoisten.
Typisch Bösewicht, profitiert die Mistel, wo andere eher leiden. Auch vom vielleicht grössten Problem der Erde, dem Klimawandel. Allein in den vergangenen hundert Jahren hat die Mistel mehr als 200 zusätzliche Höhenmeter für sich erobert. Es häufen sich Meldungen über Schäden an Obstplantagen oder Wirtschaftswäldern. Manchmal ist der Befall so heftig, dass die Misteln ihre Wirtsbäume unabsichtlich töten.
Für ihre Ausbreitung kann die Mistel sich auf Verbündete verlassen: Singvögel. Die Mönchsgrasmücke frisst nur die Fruchtwand der Beeren mit ihrem süsslichen Schleim. Wie bei einer Klette bleiben Samen am Schnabel hängen und werden woanders abgestreift. Die Mistel- und die Wacholderdrossel, aber auch Seidenschwanz und andere finden mit den Mistelbeeren eine Winternahrung, die sie als Ganzes verschlucken. An einem der nächsten Landeplätze wird der Samen ausgeschieden und findet sich mit Glück auf einem Ast wieder; dort kann er keimen.
Die Mistel ist ein listiger Diplomat, mit kleinen Futtergeschenken erkauft sie sich grosse Dienste. Auf diese Weise hat Viscum album, die Weissbeerige Mistel, alle Länder nördlich des Mittelmeers besetzt. Die nördlichsten Vorposten ihres Reichs liegen um den 55. Breitengrad, etwa im winterkalten Grenzgebiet zwischen Norddeutschland und Schweden. Im Westen und Süden lässt sie sich nur durch den Atlantischen Ozean und das Mittelmeer aufhalten. Im Osten reicht ihr Einfluss über Europa hinaus – und wächst weiter.
Die Weissbeerige hat drei Unterarten, die ihre potenziellen Ziele untereinander aufteilen: Die Tannenmistel ist die genügsamste, sie sucht vor allem Weisstannen als Wirt. Die Föhrenmistel will mehr, sie besiedelt Waldföhren, Schwarzföhren, Bergföhren und manchmal Fichten. Die Laubholzmistel fordert die meisten Arten für sich, sie befällt Linde, Weide, Pappel, Robinie, Ahorn, Weissdorn, Birke, Mehlbeere und Apfel, manchmal auch Erle, Roteiche, Haselnuss, Hainbuche, Hopfenbuche, Birne und Rosskastanie, selten Edelkastanie, Eiche, Ulme oder Esche. Äusserlich sind die drei Unterarten gleich. Nur wenn man ihre Beeren zerdrückt, zeigt sich ein Unterschied: Samen der Laubholzmistel sind durch klebrige Schleimfäden mit der Fruchtwand verbunden. Nadelholzmistelsamen lösen sich ohne Fäden. Für ihre Wirte ist wichtig, was für alle drei gilt: Wo Weissbeerige sich festsetzen, werden sie bleiben.
Misteln zeigen ihren dunklen Charakter schon als Keimling. Bis zu vier Keime pro Samen ringen ab Mitte März miteinander, die kräftigsten setzen sich durch. Wer den Geschwisterkampf gewinnt, braucht viel Licht, wendet seinen Stengel aber schnell von der Sonne ab. Ausgelöst wird die Lichtflucht durch ein Protein im Gewebe, das dem kleinen Parasiten seinen Weg zum Wachsen weist; wenn die Sonne aus einer Richtung kommt, muss die Rinde auf der anderen liegen.
Sobald der Keimstengel die Rinde erreicht, formt er eine Haftscheibe, einen winzigen Pömpel, mit dem sich die junge Mistel am Wirtsbaum festsaugt. Aus dem Zentrum dieses Pömpels wächst der Primärsenker, ein Röhrchen, das mithilfe von Enzymen die Rinde aufweicht. Es ist ein leiser, zäher Feldzug, den die Mistel oben in den Baumkronen führt. Manchmal gelingt der Durchbruch nach Wochen. Ist das Holz gesund und die Rinde hart, kann sich die Belagerung über Jahre ziehen.
Die Mistel bleibt beharrlich. Sobald sie den Widerstand überwunden hat, gilt es den Sieg zu sichern. Ein bisschen wie bei einem Pilzgeflecht breiten sich Stränge unter der Rinde aus wie ein Netz – die Mistel hat nun Zugang zum Lebenssaft. Indem der Baum weiter wächst, legt er von Jahr zu Jahr einen weiteren Schutzring um die Verbindung mit dem Egoisten, der an ihm saugt.
Über ein Jahr vergeht nach der Zwangshochzeit, bis die Mistel ihr erstes Paar immergrüne Blätter austreibt, vier Jahre, bis aus der Mitte des Triebes drei neue Stengel wachsen, zwei seitlich und einer in der Mitte. Jetzt blüht sie auch zum ersten Mal, immer im Frühjahr, zwischen März und Mai, wenn viele Bäume noch kahl genug sind, dass Insekten die gelblich grünen Mistelblüten finden und bestäuben.
Ab dem fünften Jahr trägt die Mistel ihre Beeren. Sie sind Zeichen einer schlechten Ehe, die oft noch nicht einmal der Tod der Mistel scheidet – und schon auf den kann der Baum bis zu siebzig Jahre warten. Wenn Mönchsgrasmücken die Beeren fressen, transportieren sie nicht alle klebrigen Samen am Schnabel ab, einige fallen beim Fressen vielleicht auf denselben, vielleicht auf einen niedrigeren Ast. Und jeder frische Keimling bedeutet Potenzial für eine neue Bindung.
Als Halbschmarotzer setzt die Mistel auf eigene Fotosynthese. Halbe Sachen macht sie deshalb nicht. Sie entzieht ihren Wirtsbäumen Wasser und Nährstoffe, manchmal so viel, dass die Äste, um die sie wächst, so dürr aussehen wie verschrumpelte Arme, die zu müde aussehen, als dass sie sich noch lange am Leben halten könnten. Fehlt dann über längere Zeit der Regen oder sinkt das Grundwasser zu weit, tötet die Mistel ihren Wirt – und damit sich selbst. Dabei brauchte sie gar nicht so viel Wasser, nur ist sie nicht darauf eingestellt, dass jede Ressource irgendwann versiegt.
Obstbauern klagen seit Jahren über die Laubholzmistel, die ihre Ernten reduziert. Forstwirte schimpfen aus gleichen Gründen auf die Föhrenmistel. Gerade am Waldrand und an Hanglagen, wo viel Licht ist und viele Vögel, beansprucht die Mistel grosse Territorien.
Dem Menschen mag das Wirken der Mistel im Wald nicht gefallen. Für die Natur ist es hilfreich. Indem die Mistel die dominanten Nadelbäume schwächt, bilden diese weniger ausufernde Verzweigungen, und ihre Äste treiben erst in grösserer Höhe aus. Dazu bindet die Mistel mehr Nährstoffe als Nadeln; fallen ihre Blätter, verbessert das die Qualität am Boden. Das schafft Raum für Sprösslinge anderer Pflanzen.
Im Wald wirkt die Mistel wie ein stiller Uhrmacher, sie verlangsamt das Alte in seinem Takt, so dass Neues die Zeit hat, sich einzufügen. Vielfalt in der Natur schützt zwar nicht jeden Baum, aber den Wald als Ganzes – auch vor dem Befall durch zu viele Misteln.
Parasit, Schmarotzer, Egoist. In der Natur sind auch solche Wesen nützlich, ganz ohne Mystik oder Weihnachtsbrauch.