Mittwoch, Februar 5

Die Kandidatenkür bei Bundesratswahlen treibt seltsame Blüten. Die Geschichte einer Obsession.

Der Duden, das Referenzwerk der deutschen Sprache, führt den Begriff inzwischen mit exklusiver Nebenbedeutung: «Ticket» steht nicht mehr nur für Fahrschein und Eintrittskarte, sondern auch für «Kandidierendenliste bei einer Wahl, besonders schweizerische Politik». Und als nun die Mitte-Partei während Wochen mit so viel Eifer wie Ernüchterung nach Personal fahndete, das der scheidenden Verteidigungsministerin Viola Amherd nachfolgen will, war wieder überall im Land von diesem Ticket die Rede.

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«Ausgewogen» müsse es sein, mehr als eine Person habe darauf zu stehen, selbstverständlich auch eine Frau, dazu sei die Breite der Partei abzudecken. Am Schluss fanden sich mit dem Bauernverbandspräsident Markus Ritter und dem auf den letzten Drücker rekrutierten Zuger Regierungsrat Martin Pfister zwei Männer, beide um die 60 Jahre alt, beide im konservativeren Flügel der Partei verortet. Am 21. Februar wird die Bundeshausfraktion der Mitte-Partei entscheiden, wer offiziell aufs Ticket zuhanden der Bundesversammlung kommt. Um zumindest den Anschein einer Auswahl zu wahren, wird es aller Voraussicht nach eine Doppelkandidatur sein.

Dabei sind solche Mehrfachnominationen weder zwingend noch alte Sitte. Sie erfüllen einen Zweck, der nun im Fall der Mitte-Partei buchstäblich ad absurdum geführt wird.

Brüskierte Genossen

Lange Zeit war der Einervorschlag der Normalfall. Eine Partei, die einen Bundesrat (damals nur Männer) ersetzen musste oder einen Sitz zugesprochen bekam, evaluierte die Interessenten aus den eigenen Reihen und nominierte dann einen offiziellen Kandidaten. Bis Ende der 1980er Jahre war das die übliche Praxis. Noch die Bundesräte Adolf Ogi, Arnold Koller, Flavio Cotti und Kaspar Villiger wurden von ihren Fraktionen auserwählt und vom Plenum gewählt.

Natürlich gab es auch einige wenige Fälle, bei denen sich das Parlament um Wahlvorschläge foutierte. Was sein gutes Recht ist. In Artikel 168 der Bundesverfassung heisst es: «Die Bundesversammlung wählt die Mitglieder des Bundesrates» – also frei, ohne Vorgaben durch eine Partei. Legendär ist die Bundesratswahl von 1973, als es zu einem dreifachen Eklat kam: Drei Bundesratssitze mussten neu besetzt werden, dreimal wählte das Parlament nicht den offiziellen, sondern einen «wilden» Kandidaten. Am häufigsten brüskiert wurden bisher die Sozialdemokraten.

Schon 1959, als erstmals zwei SP-Vertreter in die Landesregierung gewählt wurden, war nur einer von ihnen – Willy Spühler – von der Partei vorgeschlagen worden. Den zweiten Kandidaten, den ehemaligen Star-Kommunisten und damals amtierenden Parteipräsidenten Walther Bringolf, verschmähte das Parlament. Es wählte stattdessen den Basler Hans-Peter Tschudi, der als «Vater der AHV» bis heute als einer der prägendsten Magistraten des Landes gilt. Eine besondere Demütigung erlebten die Genossen dann 1983, als sie mit der Einerkandidatur von Lilian Uchtenhagen in die Geschichtsbücher eingehen wollten – mit der ersten Frau im Bundesrat. Doch die Bürgerlichen verwehrten ihnen den Triumph: In einer kurzfristig orchestrierten Aktion wurde der Solothurner Otto Stich gewählt, der eben erst aus dem Nationalrat ausgeschieden war. Es ist der Ursprung des Berner Bonmots von der «Nacht der langen Messer».

Zehn Jahre später folgte die erste grosse Zäsur in der Geschichte der Bundesratswahlen: Weil das Parlament wieder eine weibliche Einerkandidatur der SP – jene von Christiane Brunner – ignorierte, griffen die Sozialdemokraten rigoros durch. Zuerst drängten sie den gewählten Francis Matthey zur Nichtannahme der Wahl, dann setzten sie auf ein Zweierticket mit Christiane Brunner und Ruth Dreifuss (die schliesslich gewählt wurde).

Mittel gegen Aussenseiter

Seither sind Mehrfachvorschläge der neue Standard. Erfunden hat sie indes nicht die SP, sondern die SVP. Sie hatte schon 1979 bei der Nachfolge von Bundesrat Rudolf Gnägi zwei Kandidaten offiziell portiert, um nach der Fusion mit den Demokratischen Parteien der Kantone Glarus und Graubünden die Breite ihres Personals abzubilden. Gewählt wurde der Bündner Leon Schlumpf. Und auch der Freisinn experimentierte schon einmal mit einer Doppelkandidatur: als die FDP 1984 nicht nur den eigenen Präsidenten Bruno Hunziker zur Wahl vorschlug, sondern auch Elisabeth Kopp, die dann als erste Frau in die Landesregierung einzog.

Beide Beispiele nahmen vorweg, um was es bei den Tickets bis heute geht: um Taktik und Kalkül. Sie dienen dazu, unterschiedliche innerparteiliche Richtungen zu berücksichtigen und damit interne Zerreissproben zu vermeiden. Sie sollen die Gleichberechtigung der Geschlechter (zumindest auf dem Papier) demonstrieren und mit mehreren valablen Kandidaten auch gleich das Partei-Image aufpolieren – im Sinne des permanenten Wahlkampfs. Vor allem aber soll mit dem Ticket das Risiko vermieden werden, dass die politischen Gegner einen Aussenseiter in den Bundesrat wählen.

Und so beschäftigt sich die Bundesversammlung bei jeder Ersatzwahl in der Regel mit mindestens einer offiziellen Doppelkandidatur. 1999 setzte die CVP (heute: Die Mitte) sogar auf ein Quintett aus zwei Frauen und drei Männern aus allen Landesteilen, als Ersatz für die gemeinsam zurückgetretenen Bundesräte Koller und Cotti. Das Manöver hatte aber nur begrenzt disziplinierende Wirkung: Bei so viel Auswahl sah sich das Parlament ermuntert, weitere «wilde» Kandidaten zu portieren (die aber erfolglos blieben).

Das Blocher-Trauma

Sabotiert wurde die Strategie des Mehrfach-Tickets ein Jahr später. Bei der Ersatzwahl für Adolf Ogi stellte die SVP die Zürcher Regierungsrätin Rita Fuhrer und den Thurgauer Nationalrat Roland Eberle auf. Doch gewählt wurde mit dem Berner Ständerat Samuel Schmid ein Vertreter des gemässigten Berner Flügels, der in der parteiinternen Ausmarchung früh gescheitert war. Im Jahr 2007 folgte das Trauma der Abwahl von Christoph Blocher – und die Wahl der von Mitte-links portierten Bündner SVP-Regierungsrätin Eveline Widmer-Schlumpf. Die wählerstärkste Partei des Landes reagierte mit Nulltoleranz, nicht nur bei Widmer-Schlumpf, sondern auch bei einer allfälligen weiteren Missachtung des offiziellen Tickets: Wer sich «wild» in den Bundesrat wählen lässt, wird per Klausel in den Statuten automatisch aus der Partei ausgeschlossen. Es war Anfang und Höhepunkt eines inzwischen obsessiven Ticket-Zwangs.

Und er führte zu einem kaum noch hinterfragten Nichtangriffspakt zwischen den Parteien. Interne Disziplinierung und Einschüchterung möglicher Sprengkandidatinnen und -kandidaten gehören seither zum Vorgeplänkel von Ersatzwahlen. Dabei zeigt gerade das aktuelle Beispiel der Mitte-Partei, wie wenig ein solches Ticket mit der einstigen Strategie einer formellen Doppelkandidatur zu tun hat: Weder wird das inhaltliche Parteispektrum abgedeckt, noch konnte eine Frau gefunden werden, die sich für das Amt interessiert. Und die Gefahr von «wilden» Kandidaturen ist bei dieser Auswahl ohnehin nicht gebannt.

Vielleicht wäre es ehrlicher, mangels Interessenten eine Einerkandidatur aufzustellen – und darauf zu hoffen, dass sie von der Bundesversammlung goutiert wird. Zumindest ein Beispiel aus jüngster Zeit sollte Die Mitte ja bestens kennen: die Wahl von Doris Leuthard, die 2006 als Parteichefin allein ins Rennen gestiegen war.

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