Tadschikistan sorgt für ein Paradox: Im Land selber herrscht relative Ruhe, aber im Ausland gehen viele Terrorakte auf das Konto von Tadschiken. Dieser Widerspruch lässt sich nur mit der besonderen Geschichte dieser zentralasiatischen Republik und des IS erklären.

Nach dem Anschlag auf das Moskauer Konzerthaus Crocus City Hall mit mindestens 139 Todesopfern haben die russischen Behörden vier Männer im Alter von 19 bis 32 Jahren als Haupttäter identifiziert. Sie stammen alle aus Tadschikistan und besassen zumindest eine zeitweilige Aufenthaltsberechtigung für Russland. Das wirft die Frage auf, ob von den mehreren Millionen Arbeitsmigranten aus Tadschikistan eine generelle Gefahr ausgeht und weshalb gerade diese frühere Sowjetrepublik als Brutstätte des Terrorismus dasteht.

Experten weisen seit langem auf die verblüffende Zahl von Tadschiken in den Reihen der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hin. Das Blutbad in Moskau ist deshalb kein Einzelfall, sondern steht in einer langen Reihe von Anschlägen durch Islamisten aus Zentralasien. Auch Europa gerät dabei nicht zum ersten Mal ins Visier. Kurz vor Weihnachten hatten Ermittler Pläne für Anschläge auf den Kölner Dom und den Stephansdom in Wien aufgedeckt und Verdächtige aus Tadschikistan festgenommen. Im vergangenen Juli wurde eine Terrorzelle in Nordrhein-Westfalen mit Beziehungen zum IS zerschlagen. Unter den neun Festgenommenen waren sechs Tadschiken.

Anschlag im Westen, Drahtzieher im Nahen Osten

Entsetzen erregte 2017 in Schweden die Bluttat eines abgewiesenen Asylbewerbers, der in Stockholm mit einem Lastwagen Jagd auf Passanten machte und fünf Personen tötete. Der Täter war ein aus Usbekistan stammender ethnischer Tadschike. Er handelte laut einer Studie der Militärakademie West Point im Auftrag derselben IS-Drahtzieher in Syrien, die später auch eine tadschikische Terrorzelle in Deutschland anwiesen, Anschläge auf amerikanische Militäreinrichtungen zu planen.

Weniger Beachtung findet in Europa, dass sich Tadschiken auch in der islamischen Welt oft dem IS für Anschläge zur Verfügung stellen. In Iran war dies in jüngerer Zeit zweimal der Fall – bei Angriffen auf ein schiitisches Heiligtum in Shiraz und auf eine Gedenkfeier in Kerman. Auf das Konto von Tadschiken gehen zudem viele Attacken in Afghanistan, die sich meist gegen die Herrschaft der Taliban richten. Dies lässt sich daran erkennen, dass die vom IS veröffentlichten Kampfnamen der Täter oft den Zusatz «al-Tajiki» (der Tadschike) aufweisen. Offen bleibt damit, ob es sich um tadschikische Staatsbürger oder um Angehörige der tadschikischen Minderheiten in Afghanistan oder anderen Ländern Zentralasiens handelt.

Im Kontrast zu den vielen Gewaltakten steht, dass die angrenzende Republik Tadschikistan von grossen Terrorattacken bisher verschont geblieben ist. International am meisten Aufsehen erregte der Angriff auf eine Gruppe von Velotouristen im Jahr 2018, bei dem auch ein Schweizer ums Leben kam. In aller Regel suchen sich die tadschikischen Fanatiker ihre Ziele aber im Ausland. Der Grund dafür liegt in der Geschichte des IS und seinem strategischen Kalkül.

Als die Terrormiliz vor zehn Jahren in ihrem syrisch-irakischen Herrschaftsgebiet ein Kalifat ausrief, zog dies auch radikalisierte Muslime aus Zentralasien an. Nach unterschiedlichen Schätzungen sollen sich dem «heiligen Krieg» 1000 bis 2000 Tadschiken angeschlossen haben. Ihre islamistischen Visionen für die Heimat stellten sie dem Ziel hintan, das Kalifat zu verteidigen und zu vergrössern. Bald übernahmen die Tadschiken tragende Rollen in der Terrormiliz. Besonders spektakulär ist der Fall von Gulmorod Chalimow, der in Tadschikistan eine Spezialeinheit der Polizeitruppen kommandiert hatte und 2015 mitsamt Anhängern zum IS überlief. Er stieg zum «Kriegsminister» des Terror-Kalifats auf.

Der IS Khorasan – lokal verwurzelt, aber mit globalen Zielen

Eine neue Ausgangslage trat ein, als sich im selben Jahr ein IS-Ableger für Afghanistan und umliegende Regionen bildete. Benannt nach dem historischen Gebiet Khorasan, sah sich der IS Khorasan (IS-K) als Bestandteil eines künftigen islamischen Grossreiches. Manche Zentralasiaten kämpften weiter in Syrien, andere suchten sich in Afghanistan und damit näher an der Heimat eine neue Basis. Einen grossen Prestigegewinn erzielte der IS-K, als ihm auch die bedeutendste Terrorgruppe Zentralasiens beitrat, die Islamische Bewegung Usbekistans.

Von Beginn weg prägten den IS-K drei Teilgruppen – Pakistaner, Afghanen und Zentralasiaten aus der früheren Sowjetunion. Ihr Ziel war anfangs, eine territoriale Basis in Afghanistan zu schaffen. Das brachte sie in Konflikt mit den Taliban, die ihrerseits die Kontrolle über das ganze Land beanspruchen und eine andere religiös-politische Linie verfolgen. Den IS-Extremisten ist es ein Dorn im Auge, dass die Taliban einen von Stammestraditionen geprägten, zu wenig «reinen» Islam pflegen, ethnische Minderheiten wie die Tadschiken diskriminieren und seit ihrer Machtübernahme 2021 pragmatische Beziehungen mit den Grossmächten Russland und China anstreben.

Der IS-K war in den letzten Jahren daher hauptsächlich in blutige Kämpfe mit den Taliban verwickelt. Aber zwischendurch liess er immer wieder seine internationalen Ambitionen aufblitzen, beispielsweise mit einem Selbstmordanschlag auf Russlands Botschaft in Kabul 2022. Im selben Jahr demonstrierte der IS-K mit Raketenangriffen in Richtung Usbekistan und Tadschikistan, dass er die dortigen Regime erschüttern will und im nordafghanischen Grenzgebiet unbehelligt operieren kann. Russland, das mit Tadschikistan verbündet ist und dort eine grosse Militärbasis betreibt, geht von 4000 IS-Kämpfern nahe der afghanisch-tadschikischen Grenze aus. Für einen Feldzug über die Grenze sind der IS und seine tadschikischen Fusssoldaten aber zu schwach.

Der Sonderfall Tadschikistan

Dies erklärt noch nicht, weshalb ausgerechnet Tadschikistan so viele Terroristen hervorbringt. Mehrere Gründe dürften dafür eine Rolle spielen. Von allen muslimischen früheren Sowjetrepubliken hat sich in Tadschikistan die Bindung an den Islam über die kommunistische Zeit hinweg am stärksten erhalten. Eine klare Bevölkerungsmehrheit lehnt zwar einen «islamischen» Staat ab. Doch die extreme Armut in Kombination mit der totalitären Unterdrückung durch das Regime von Emomali Rachmon bietet einen Nährboden für islamistische Ideen. Die Regierung betreibt eine drastische Religionspolitik und geht beispielsweise gegen Bartträger und verschleierte Frauen vor. Minderjährigen wird der Besuch der Freitagspredigt verboten.

Bei der Rekrutierung hilft dem IS-K auch die geografische Nähe zu Afghanistan und die sprachliche Verbundenheit mit den dortigen Tadschiken. Die Terrorgruppe verbreitet ihre Propaganda regelmässig auf Tadschikisch. Als einzige zentralasiatische Republik hat Tadschikistan in den neunziger Jahren zudem einen Bürgerkrieg durchgemacht. Dabei bildeten sich bewaffnete Milizen, von denen einige in Nordafghanistan mit den dortigen Islamisten in Kontakt kamen. Im Falle der vier Attentäter von Moskau könnte auch eine Radikalisierung in Russland erfolgt sein, aus der Erfahrung mit dem alltäglichen Rassismus der Mehrheitsbevölkerung und im Kontakt mit «europäischer» Lebensweise, die streng religiöse Muslime abstossen kann.

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