Sonntag, September 8

Wenn sie ihre Gitarren singen lassen, träumt ein internationales Publikum von den Weiten der Prärie. Auf ihrem neuen Album wenden sich die beiden Brüder nun dem Weltall zu.

Ein heisser Wind trägt eine jahrhundertealte Melancholie durch die amerikanische Prärie, streicht den Reitern um die Stiefel und lässt selbst den abgebrühtesten Cowboy sehnsüchtig werden. Es ist die Melancholie des weiten Landes, die der Sheriff mit dem Gesetzlosen teilt und die Barmaid mit dem Geier auf dem Telegrafenmast.

Schwermut geistert auch durch den Sound der Band Hermanos Gutiérrez. Zwei Brüder spielen auf elektrischen Gitarren ihre Melodien, die von vergangenen Zeiten an abgelegenen Orten künden; von Recht und Unrecht, von Liebe und Trauer, von der Bläue des Himmels und von der Enge in den Herzen einsamer Reiter.

Der Mann, der am Telefon von dieser Musik erzählt, spricht freundlich und mit Aargauer Einschlag. Estevan Gutiérrez ist einer der erfolgreichsten Musiker der Schweiz: Vor kurzem war er auf USA-Tournee. Nun ist er unterwegs auf der A 3 von Basel nach Zürich und erkundigt sich, ob er durch die Freisprechanlage gut zu hören sei.

Wie ist es seinem Bruder und ihm gelungen, ein Millionenpublikum zu erreichen – mit Musik, die klingt wie der Soundtrack eines Spaghetti-Westerns? Und warum spielt das neue Album des Duos im Weltall statt im Grasland? Estevan Gutiérrez lacht, räuspert sich.

Sie wollten keine Band – und hatten plötzlich doch eine

Das mit dem Erfolg, das kam so: Vor acht Jahren ist Estevan auf Reisen in Ecuador, der Heimat der Mutter. Als er nach Hause kommt, stattet er seinem acht Jahre jüngeren Bruder einen Besuch ab. Mit dabei hat er seine Gitarre.

Alejandro Gutiérrez wohnt zu jener Zeit in einer Wohngemeinschaft in Zürich. Die Brüder improvisieren ein paar Melodien, als plötzlich ein Mitbewohner zur Tür hereinschaut. Er will wissen: «Was spielt ihr da? Warum kenne ich das nicht?» Die Musiker zucken mit den Schultern. Für sie sind es bloss Fingerübungen.

«Wir hatten eigentlich nie die Absicht, eine Band zu gründen», sagt Gutiérrez. Aber dann haben sie in jenem Mitbewohner einen ersten Fan. Dieser mahnt wieder und wieder: Sie sollen keine Egoisten sein und auch für andere spielen. Also treffen sich die Brüder häufiger, um mehr Gitarrenstücke auszutüfteln. Irgendwann fühlen sie sich sicher genug, um ein Album aufzunehmen.

Das Duo fährt nach Berlin, geht ins Tonstudio und macht sich an die Arbeit. Sie spielen, produzieren und mischen alles selbst. Sogar die Cover gestalten die Männer eigenhändig. Eines habe halt zum anderen geführt, sagt Estevan. So dass es immer weitergegangen sei mit ihrem Projekt – ohne dass sie es gross geplant hätten: «Was wir taten, fühlte sich immer richtig an.»

Zwei weitere, ebenfalls selbst produzierte Alben folgen. Irgendetwas an den verzerrten Gitarrenklängen der Hermanos Gutiérrez fasziniert die Menschen. Dass hier niemand singt, scheint keinen zu kümmern. Auch das Fehlen von Bassgitarre und Schlagzeug tut der Beliebtheit der Musik keinen Abbruch. Die Konzerte werden grösser und finden bald auch ausserhalb der Schweiz statt.

Und dann klingelt auf einmal das Telefon.

Ihr Song wird 45 Millionen Mal angehört

In Nashville hat Dan Auerbach, der Gitarrist und Sänger der Bluesrock-Combo Black Keys, bloss fünfzehn Sekunden gebraucht, um sicher zu sein: Diese zwei Schweizer muss er kennenlernen. Der Bruchteil eines Musikvideos reicht ihm als Grund zur Annahme, dass er sich mit den beiden verstehen könnte. Und dass sie mit seiner Unterstützung noch erfolgreicher werden könnten. Also ruft Auerbachs Management bei Alejandro und Estevan Gutiérrez an.

Nur wenig später sitzen die Brüder im Flugzeug und reisen in die Vereinigten Staaten. Dass Auerbach dort wirklich zu einem Freund wird, davon zu träumen, trauen sie sich wohl kaum – aber es ist wirklich so. Estevan Gutiérrez sagt: «Wir waren ziemlich nervös, weil wir so grossen Respekt vor Dan und seiner Arbeit hatten. Aber dann war plötzlich alles ganz einfach.»

In der Musik, in raren Schallplatten und Western-Kleidern finden die drei Männer gemeinsame Themen. Die anfängliche Nervosität legt sich. Dan Auerbach gehört schon bald zur Familie Gutiérrez. Ein Stück, das sie zu dritt einspielen, heisst «Tres Hermanos» – drei Brüder.

Entsprechend locker sei es dann im Studio zugegangen: «Dan hat nie versucht, uns zu verändern. Aber er hat uns geholfen, unseren Stil weiterzuentwickeln.» Das Resultat ist eine Platte, die überall auf der Welt gehört und gelobt wird.

Die zwei Aargauer sind auf einen Schlag Berühmtheiten: Ihr erfolgreichstes Stück, «Cerca De Ti», wird bei Spotify 45 Millionen Mal gestreamt. Damit gehören Hermanos Gutiérrez zu den erfolgreichsten Schweizer Bands. Zum Vergleich: Selbst «The Code» von Nemo, dem Gewinner des Eurovision Song Contest, wurde bisher nur halb so häufig angehört.

Die Musik lässt den Fans Raum für ihre eigenen Trips

Im vergangenen April machten Hermanos Gutiérrez bei ihrer USA-Tour im Coachella Valley halt. Das dortige Festival zieht jedes Jahr bis zu 250 000 Gäste an und gilt als eines der grössten der Welt. Sie spielten zur gleichen Zeit wie die legendäre Hip-Hop-Gruppe The Fugees. Aber das Interesse galt ihnen, den Brüdern mit den Gitarren.

«Die Leute hatten die Wahl und wollten zu uns! Das Zelt war längst voll, aber es drängten sich immer noch mehr Menschen hinein. Es war völlig verrückt», sagt Estevan Gutiérrez. Es macht den Eindruck, als könnten die Fans nicht genug bekommen von dem wehmütigen Gitarrensound mit den Sergio-Leone-Anleihen und der Charles-Bronson-Rauheit; von den sonnengereiften Melodien und den kargen Rhythmen.

Das zeigen auch die Single-Auskopplungen aus ihrem neuen Album, «Sonido Cósmico», das am 14. Juni erscheint. Diese wurden bereits millionenfach gestreamt. Was ist das Geheimnis dieses Erfolgs? Estevan meint, dass das Publikum vor allem den unverfälschten, simplen Zugang zur Musik zu schätzen wisse. «Wir machen keine komplizierten Sachen. Wir spielen ehrliche Musik.» Auf der Bühne sei es genauso: Sie stellten sich hin und spielten. Mehr nicht.

Gerade durch ihre Einfachheit werde die Musik so kraftvoll, sagt Estevan Gutiérrez. Sie liessen den Zuhörern den Raum, auf «ihren eigenen Trip» zu gehen. Und wenn das gelinge, berühre ihn das wiederum sehr tief.

Die Sehnsucht bleibt

Nun, da die Hermanos Gutiérrez bereits in den Himmel des Erfolgs aufgestiegen sind, greifen sie buchstäblich nach den Sternen: Auf «Sonido Cósmico» wenden sie sich der Unendlichkeit des Weltalls zu.

Es ist ein ziemlich grosser Schritt, wie Estevan Gutiérrez mit einem Lachen selbst einräumt. Aber auch der sei nicht geplant gewesen. Er sagt: «Wir waren wieder in Nashville und suchten nach etwas Neuem. Dann hatten wir diesen magischen Moment, in dem alles klar wurde.»

Vielleicht hat den Brüdern in jenem Moment gedämmert, dass die Melancholie des Astronauten im Kosmos noch viel grösser sein muss als die des Reiters in der Weite. Oder kann es, wenn man die Weite einmal kennt, nur noch nach weiter oben gehen? Aus den Gitarren der Hermanos Gutiérrez erklingt jedenfalls noch immer der Sound der Sehnsucht.

Hermanos Gutiérrez treten am 1. Juni im Rahmen des Festivals Unique Moments in Zürich auf. Ihr Album «Sonido Cósmico» erscheint am 14. Juni.

Exit mobile version