Sonntag, April 27

Gjert Ingebrigtsen hat aus seinem Sohn Jakob einen zweifachen Olympiasieger geformt – er soll den Leichtathletik-Star aber auch über Jahre misshandelt haben. Vor Gericht steht Aussage gegen Aussage.

Was hat diese Frau zu sagen? Diese Frage stellt sich halb Norwegen. Tone Ingebrigtsen, 55 Jahre alt, ist am Montag vom Gericht in Sandnes als Zeugin vorgeladen. Sie soll in einem Prozess aussagen, den die norwegische Öffentlichkeit seit Wochen gebannt verfolgt.

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Das Leben der Familie Ingebrigtsen findet längst in ebendieser Öffentlichkeit statt – im Guten wie im Schlechten. Tone und ihr Ehemann Gjert Ingebrigtsen haben sieben Kinder, drei davon sind berühmte Leichtathleten. Henrik, Europameister über 1500 Meter, Filip, ebenfalls Europameister in dieser Disziplin, und Jakob, mit 24 Jahren der jüngste und erfolgreichste der drei. Er wurde in Tokio über 1500 Meter und in Paris über 5000 Meter Olympiasieger, dazu zweimal Weltmeister und sechsmal Europameister im Freien.

Mitverantwortlich für den Erfolg ist der Vater. Gjert trainierte die Brüder schon als Kinder. Mit Sport hatte der heute 57-Jährige früher nichts zu tun, er brachte sich das Trainer-Metier selbst bei. Auch dabei auf diesem Weg: das norwegische Fernsehen NRK. Es hat die Familie während mehrerer Jahre begleitet und die Dokumentation «Team Ingebrigtsen» gedreht. Die Ingebrigtsens stiessen dadurch in die norwegischen Wohnzimmer vor, wurden zur Lieblingsfamilie des Landes.

Ein offener Brief bricht den Damm

Tone Ingebrigtsen wird in der Serie als Ehefrau und Mutter dargestellt, die den Haushalt zusammenhält, während die Söhne sich vom Vater angeleitet aufmachen, in der Leichtathletik die Mittel- und Langstrecken zu erobern. Im Prozess in Sandnes spielt Tone Ingebrigtsen anders als in der TV-Serie eine Hauptrolle.

Vor Gericht steht wegen häuslicher Gewalt ihr Ehemann. Drei Söhne sowie die Tochter Ingrid werfen Gjert jahrelangen physischen und psychischen Missbrauch vor. Jakob, Filip und Henrik Ingebrigtsen haben 2022 mit dem Vater als Trainer gebrochen, im Jahr darauf veröffentlichten sie in der norwegischen Zeitung «VG» einen offenen Brief.

Die darin geschilderten Missbrauchsvorwürfe waren so gravierend, dass die norwegische Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Gjert Ingebrigtsen aufgenommen hat und ihn vor Gericht brachte. Die Brüder schrieben unter anderem: «Wir sind mit einem Vater aufgewachsen, der sehr aggressiv und kontrollierend war und im Rahmen seiner Erziehung körperliche Gewalt und Drohungen gebraucht hat.»

Hat Gjert seine Tochter mit einem Handtuch ins Gesicht geschlagen?

Ein Vorfall im Januar 2022 soll das Fass zum Überlaufen gebracht haben. Die Tochter Ingrid Ingebrigtsen war damals 16 Jahre alt. Während eines Streits soll Gjert sie mit einem nassen Handtuch ins Gesicht geschlagen haben. So stark, dass sie rote Flecken bekommen habe.

Ingrid flüchtete ins benachbarte Haus des Bruders Henrik, traf dort auf dessen Ehefrau, später kam die Mutter Tone dazu. Sie soll laut Zeugenaussagen gesagt haben: «Es reicht, Gjert ist krank, er braucht Hilfe.» Der Angeschuldigte bestritt den Vorfall und sagte, die roten Striemen im Gesicht der Tochter rührten von einer Hautkrankheit.

Es soll nicht das erste Mal gewesen sein, dass Ingrid den Zorn des Vaters abbekam. Er soll sie geschlagen haben, als sie den Pulsmesser vergessen hatte, und sie einmal trotz Atemnot zum Training gezwungen haben. Ingrid Ingebrigtsen ist heute 19 Jahre alt und hat mit dem Spitzensport aufgehört. Vor Gericht werden mögliche Misshandlungen von Ingrid und Jakob Ingebrigtsen verhandelt, die Vorwürfe anderer Geschwister sind entweder verjährt, oder es fehlen Beweise.

Training – auch am Morgen vor der Hochzeit

Der Prozess ist zur Hälfte vorbei, die drei Brüder und deren Partnerinnen, die Schwester Ingrid und Gjert Ingebrigtsen haben bereits ausgesagt. Die Geschwister berichteten von einer von Angst, Manipulation und Gewalt geprägten Jugend. Jakob Ingebrigtsen sagte: «Alles wurde kontrolliert, ich durfte nichts entscheiden, ich hatte keinen freien Willen.» Und Henrik sagte, der Vater habe in Jakob vor allem ein «Produkt» gesehen, mit dem sich viel Geld verdienen lasse.

Die Brüder sagten, der Vater habe sie ständig kritisiert, etwa, wenn sie zu lange vor der Spielkonsole oder am Handy gewesen seien. Obendrein habe er ihnen verboten, mit ihren Partnerinnen in die Ferien zu fahren. Gjert Ingebrigtsen verdonnerte Henrik einst sogar am Morgen vor dessen Hochzeit zu einer Trainingseinheit.

Der Angeklagte wies die Vorwürfe zurück und führte unter anderem die TV-Dokumentation ins Feld. Es könne nicht sein, dass den Produzenten kein Missbrauch aufgefallen sei. Über einen so langen Zeitraum hätte sich seine Familie nicht verstellen können. Er räumte lediglich ein, dass der Trainer in ihm mit der Zeit den Vater ersetzt habe: «Das bereue ich.»

Der Sport breitete sich im Familienleben aus

Bei der einstigen Vorzeigefamilie haben sich Ehrgeiz, Spitzensport und Privatleben auf toxische Weise vermischt. Die Wahrnehmung der Geschehnisse geht indes auseinander. Während die Kinder im Prozess von physischer und psychischer Gewalt berichteten, warf der Vater ihnen vor, von einem «krankhaften Ehrgeiz» getrieben zu sein.

Vor Gericht sagte Gjert Ingebrigtsen, er habe die Tätigkeit als Trainer nie gesucht; er sei hineingerutscht, nachdem ihn die Söhne bedrängt hätten, sie zu trainieren. Es sei ihm schwergefallen, in der Kommunikation zwischen der Rolle des Trainers und jener des Vaters zu unterscheiden: «Der Sport breitete sich im familiären Bereich aus.» Seine Verteidigerin wies daher in ihrem Eröffnungsplädoyer darauf hin, dass es sich nicht um eine gewöhnliche Familie mit gewöhnlichen Rahmenbedingungen handle, sondern um einen Vater, der trainiere, und Söhne, die Weltklassesportler seien.

Die Staatsanwältin distanzierte sich von dieser Sichtweise. Die Frage sei nicht, wie weit ein Trainer gehen dürfe, um einen Sportler zu pushen, sondern: «Ob ein Vater seine Tochter und seinen Sohn über einen Zeitraum von zehn beziehungsweise vier Jahren missbraucht hat.»

Unangenehmes Aufeinandertreffen im Trainingslager

Die norwegischen Medien ventilierten in den letzten Wochen jedes Detail des Prozesses. Jakob Ingebrigtsen befand sich zum Beispiel am Osterwochenende im Trainingslager in der Sierra Nevada. Dort soll auch der Vater Gjert aufgetaucht sein, der mittlerweile zwei andere norwegische Läufer trainiert. Jakob Ingebrigtsens Anwältin sagte dazu: «Das war unnötig belastend für Jakob.»

Die Ehefrau Tone hält bis jetzt zu ihrem Ehemann. Bei der Einvernahme durch die Polizei und auch in der Öffentlichkeit hat sie geschwiegen. Der Sohn Jakob vermutete am Rande des Prozesses, sie befände sich in einer «ausweglosen Situation». Beobachter sehen in ihr eine stille Beobachterin des Familienlebens.

Das Gericht hofft deshalb, dass Tone Ingebrigtsen Klarheit in die Situation bringen wird – sie ist die Kronzeugin. Dem Gericht muss sie allerdings nur die Personalien nennen; als Ehefrau des Angeklagten hat sie das Recht zu schweigen. Bei einer Verurteilung drohen Gjert Ingebrigtsen bis zu sechs Jahre Haft. Das Urteil wird Mitte Mai gefällt.

Ein Artikel aus der «»

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