Mittwoch, Januar 15

In Thomas Lehrs Roman kommen Extraterrestrische zu Wort. Was sie sagen, ist nicht besonders schmeichelhaft für die Menschlinge.

Im Herbst letzten Jahres gab es himmelstürzende Space-News. Die Weltraumbehörde Nasa bestellte Mark McInerney zum Direktor einer neu gegründeten Abteilung, die «unidentifizierte anomale Phänomene» zu erforschen hat. Wer jetzt die Vorstellung von kleinen grünen Männchen im All immer noch als Comic-Kram belächelt, sieht sich dem Ernst einer hoch wissenschaftlichen und hoch dotierten Organisation gegenüber.

So weit die Wirklichkeit. Hier kommt, als literarische Parallelaktion, ein gewisser Manfred ins Spiel. Manfred ist Studienabbrecher und baut als Informatiker Webseiten für kleinere Betriebe. Es ist ein loserhaftes Lotterleben, das er führt. Die Studentenzeiten, zu denen er ein toller Hecht war, sind längst vorbei, aber als er wieder einmal verkatert und mit bartstoppeligem Gesicht auf die Tastatur sinkt, ist die Rettung da.

Anders, als die Nasa vermuten würde, sind die Ausserirdischen längst unter uns. Auf verräterische Flugobjekte können sie verzichten. Als immaterielle Wesen satteln sie unsere Hirne, und schon geht er los, der Ritt. Für Manfred aus seinem traurig-öden Leben heraus, für den Leser in Thomas Lehrs Roman «Manfred» hinein.

Das entzauberte Ich

«Manfred» ist ein ziemlich verschlungener Roman, der Thomas Lehrs intellektueller Kunst das allerbeste Zeugnis ausstellt, sich aber eben nicht leicht verschlingen lässt. Das liegt an Zorrgh, der sich Manfreds bemächtigt hat. Als Ich-Erzähler parliert das ausserirdische Wesen in geschliffenen und ziemlich langen Schachtelsätzen. Verglichen mit dem, was man sonst in der deutschen Literatur lesen kann, erfüllt dieser Stil den Tatbestand des Paranormalen. Die Handlung ist auch nicht ohne.

Die Bilder des Hieronymus Bosch kommen im Roman immer wieder vor, und tatsächlich ist es so, als würde man lesend in dessen Ansammlungen von Dingen und Wesen hineinschauen. Das von fremden Wesen gekaperte Hirn ist eine Phantasmagorie und illustriert zugleich ein philosophisches Grundproblem. Kann ich überhaupt jemals wissen, ob ich es bin, der mich als ich denkt? Rund zweitausend Jahre Geistesgeschichte füllt Thomas Lehr oben in seinen literarischen Fleischwolf hinein, und unten kommt eine Screwball-Komödie heraus, die in der Gegenwart spielt.

Man sieht René Descartes, wie er träumend im deutschen Ulm seine grossen Ideen vom Ich entwickelt. Man sieht die viktorianische Mathematikerin Ada Lovelace und ihren Lehrer Charles Babbage. Auf der anderen Seite: Manfred, der Durchschnittsmensch. Paradoxerweise sind sie alle Auslöser der gleichen extraterrestrischen Beunruhigung.

Im Auswärtigen Amt, das auch Zorrgh entsandt hat, besteht die Befürchtung, dass diese «Menschlinge» dem «zutreffenden Gedanken» nahekommen könnten. Also muss durch eine ganze Armada von Agenten in den Lauf der irdischen Geistesgeschichte eingegriffen werden. Die Menschheit soll auch weiterhin dort bleiben, wo sie selbstverschuldet hingehört: im Gefängnis der eigenen Barbarei und Blödigkeit.

Bei Thomas Lehr wird diese Geschichte Satire, Parabel und höherer Unfug zugleich. Zorrgh schleust Manfred in das menschliche «Deep View Project» ein, das sich die Eroberung des Weltalls zum Ziel gemacht hat und dem «zutreffenden Gedanken» gefährlich nahekommen könnte. Mit dabei sind das Algorithmen-Genie Axel und der Autobahntoilettenmillionär Roland. Dessen Frau Sabine war einmal Kurzzeitgeliebte von Manfred, und schon ist man im Roman beim Leib-Seele-Problem.

Schielende Augen

Während Manfreds Intellekt sich dank Zorrghs Hilfe in schwindelerregende Höhen erhebt, fordern auch die niedrigeren, die leiblichen Regionen ihr Recht. Vorübergehend Abhilfe bei «praktischer Geschlechtstraurigkeit» schaffen zwei Damen mit überschaubar eindeutigen Attributen, das wahre Ziel aber bleibt Sabine.

Mit immer mehr Romanpersonal und immer verwirrenderer Handlung schraubt Thomas Lehr die Teleskope des «Deep View Project» in Richtung All und ins dortige «wahre Universum». Eine der schönsten Pointen der Geschichte findet sich wohl im schielenden Blick zweier Entitäten. Je näher sich Irdische und Ausserirdische kommen, umso weniger sehen sie einander. Das sollte der Nasa und ihrer Abteilung für «unidentifizierte anomale Phänomene» (UAP) eine erste Warnung sein.

Der Roman «Manfred» des gelernten Informatikers Thomas Lehr ist voll von delirierendem Wissen. Etwas weniger Beziehungsreichtum hätte das Buch nicht ärmer gemacht, und so hängt man in einem Kosmos fest, in dem alles Platz hat: Descartes und die Covid-Pandemie, Klimakatastrophe und Nonsens. Das extraterrestrisch-auswärtige Amt hat einen Katalog von Qualifikationen erstellt, die dazu führen könnten, dass die Menschlinge doch noch der Begrenztheit ihrer irdischen Verhältnisse entkommen.

Es ist so ziemlich das Gegenprogramm zu dem, was heute auf der Welt schiefläuft: einfach weniger lügen, Erziehung zur Idee der Harmonie und Schönheit, mehr auf die Umwelt achten und so weiter. Die kleinen grünen Männchen sind tatsächlich Grüne. Wer hätte das gedacht.

Thomas Lehr: Manfred. Bekenntnisse eines Ausserirdischen. Roman. Hanser-Verlag, München 2023. 336 S., Fr. 37.90.

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