Sonntag, September 8

Zum Abschluss des Manövers «Quadriga 2024» richtet Carsten Breuer auf einem Übungsplatz nahe der weissrussischen Grenze markige Worte an die Adresse Wladimir Putins. Doch wie der Krieg in der Ukraine wirklich ist, das wissen eher litauische Freiwillige zu erzählen.

Der deutsche Armeechef steht an einem Rednerpult, hinter ihm Kampf- und Schützenpanzer, ein Artilleriegeschütz und andere Fahrzeuge, vor ihm hohe Offiziere nahezu aller Nato-Länder und der Schweiz. «War das nicht erfolgreich? War das nicht grossartig?», ruft er begeistert in das Mikrofon. Was hier gerade zu sehen gewesen sei, das sei der Kampf für die Freiheit gewesen. Und dann kommt es: «Deutschland steht zu seinem Wort. Wir werden jeden Zentimeter Nato-Boden verteidigen.»

Es sind markige Worte, die der Generalinspekteur Carsten Breuer am Mittwoch auf dem litauischen Militärübungsplatz Pabrade sagt. Als er redet, deutet er mit dem Arm kurz nach Osten. Dort, nur zwölf Kilometer entfernt, befindet sich die Grenze zu Weissrussland, und da, wo Breuer steht, ist der Boden dessen, was die Nato ihre Ostflanke nennt. Mehrere tausend deutsche, niederländische, französische und litauische Truppen haben kurz vorher die mehrmonatige Übung «Quadriga 2024» mit einem Abschlussmanöver zirka 50 Kilometer entfernt von Litauens Hauptstadt Vilnius beendet.

Der Begriff Quadriga stammt aus der Antike. Es handelte sich um einen offenen, zweirädrigen Wagen mit vier nebeneinandergespannten Pferden und einem stehenden Lenker. Die Bundeswehr wählte die Bezeichnung vermutlich deshalb, weil sie sich mit vier Teilübungen an dem Nato-Grossmanöver «Steadfast Defender 2024» beteiligte. Seit Jahresbeginn waren gut 12 000 deutsche Soldaten mit 3000 Fahrzeugen und 30 Flugzeugen an dieser Übung beteiligt.

Die Bundeswehr nutzt das Militärgelände in Pabrade, seitdem sie 2017 die ersten Soldaten in Litauen stationiert hat. Hinter der Zufahrt graben Baufahrzeuge den Boden um. Das Gelände ist eine grosse Baustelle, es entstehen Unterkünfte, Versorgungs- und Arbeitsgebäude. In einigen Jahren wird hier auch die Kampfbrigade üben, die Deutschland dauerhaft in Litauen stationieren will. Gerade sind es noch Soldaten der 10. Panzerdivision aus Standorten überwiegend in Süddeutschland, die sich an dem Manöver beteiligen.

Der Gegner heisst Russland

Bevor es losgeht, erklärt ein Sprecher das Szenario. Die Bundeswehr hatte es bereits im Vorfeld als «beängstigend, aber nicht unrealistisch» beschrieben: Ein Aggressor greife im Nordosten, Südosten und Osten des Nato-Gebiets an, entlang einer Linie von Norwegen und Finnland über die baltischen Staaten bis hinunter zum Schwarzen Meer. Früher benannte die Bundeswehr den Gegner nicht, auf den sie sich in Manövern dieser Art einstellte.

Spätestens seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, schreibt sie diesmal, sei aber klar, dass «ein grossangelegter Angriff auf die Nato in Europa kein militärstrategisches Gedankenspiel» mehr sei, sondern zumindest nicht ausgeschlossen scheine. Die Alliierten seien zwar jedem potenziellen Gegner in puncto Truppenzahl, Waffen und Technik überlegen. Doch müsse das Zusammenspiel geübt werden. Die Nato wolle zeigen, wozu sie in der Lage sei – und Russland solle sehen, was es bei einem Angriff auf das Bündnisgebiet zu erwarten hätte.

Der Gegner ist also klar, die Worte allerdings nicht. Als ein Sprecher, der die militärischen Details der Übung erklärt, davon redet, dass der Einsatz von Minen im «Ukraine-Konflikt» eine Renaissance auf dem Gefechtsfeld erlebt habe, entgleitet einigen Litauern das Gesicht. Es handele sich nicht um einen Konflikt, sondern einen Krieg in der Ukraine, den Russland angefangen habe, sagen sie aufgebracht. Für sie beginnt der Kampf für die Freiheit, von dem Breuer spricht, bereits mit den richtigen Worten dafür, was in der Ukraine passiert.

Als der erste Schuss fällt, zerreisst es die Luft. Eine Panzerhaubitze feuert Artilleriegeschosse in den Wald am Horizont, aus dem der Gegner «mit Radpanzern aus der Sowjetzeit» angreift. Nach und nach fahren Deutsche, Franzosen, Niederländer und Litauer auf, was sie nach Pabrade gebracht haben. Der deutsche Schützenpanzer Puma ist dabei, der jahrelang als Pannenpanzer galt, weil er mit vielen technischen Unzulänglichkeiten zu kämpfen hatte.

Auch der Kampfhelikopter Tiger fliegt und feuert Panzerabwehrraketen in Richtung Horizont. Dafür war er ursprünglich einmal gedacht, als er in den 1980er Jahren entwickelt wurde. Die Bundeswehr will ihn in den nächsten Jahren dennoch ausmustern. Er ist zu teuer, zu anfällig – und hätte in Anbetracht moderner Flugabwehrsysteme auf dem Gefechtsfeld heute kaum eine Überlebenschance.

Alles nur eine Übung

Das ist nicht die einzige Übungskünstlichkeit. So fahren Soldaten in offenen Militärjeeps vor, obwohl der Krieg in der Ukraine zeigt, dass dies allzu oft tödlich endet. Die allgegenwärtigen Drohnen stürzen sich auf beiden Seiten mit Vorliebe auf ungeschützte Ziele. Aus den Lautsprechern erklärt eine Stimme, alles sei zeitlich gerafft, man dürfe sich nicht vorstellen, dass der Kampf in der Realität so schnell stattfinde. Es sei eben alles eine Übung, um das Gefecht zu veranschaulichen. Das Gefecht, wie es sich die Nato, wie es sich die Bundeswehr im Krieg gegen Russland vorstellt.

Einer von denen, die in diesem Krieg tatsächlich kämpfen, sitzt gut eine Fahrstunde von Pabrade entfernt in einem unscheinbaren Gebäude in einer Seitenstrasse der litauischen Hauptstadt Vilnius. Arunas Kumpis trägt ein olivgrünes Hemd zu ebensolcher Hose, seine Sonnenbrille gleitet pausenlos durch seine Finger. In einer Ecke des Raumes stehen Transportbehälter für Panzerabwehr- und Flugabwehrraketen aus amerikanischer und russischer Produktion. «Wir scheren uns nicht um Verluste, wir sprechen nicht darüber. Uns interessiert nur, wie wir die Russen schlagen können», sagt Kumpis.

Um ihn herum sitzen Mitarbeiter von Blue Yellow, einer litauischen Organisation, die seit 2014 Spenden sammelt, um der Ukraine in ihrem Kampf gegen Russland zu helfen. 80 Millionen Euro, sagt eine Vertreterin der Organisation, hätten sie zusammenbekommen und vor allem in Kampfausrüstung für die ukrainische Armee investiert.

Ein Mitarbeiter nimmt einen olivgrünen Gefechtshelm von einem Tisch, an dem ein Gerät angebracht ist, das wie ein Kurzfernrohr aussieht. Die Ukrainer würden von den Amerikanern mit Nachtsichtgeräten ausgestattet, erklärt er, die aber Restriktionen unterlägen. «Wir liefern ihnen Nachtsichtgeräte», und er deutet auf den Helm, «die von guter Qualität sind.»

Arunas Kumpis nickt. Seit März 2022, nur wenige Wochen nach dem russischen Überfall, kämpfe er als Freiwilliger in einer regulären ukrainischen Einheit. Zunächst sei er in Charkiw, dann in Cherson, später in Bachmut und Awdijiwka eingesetzt worden. Erst habe er russische Panzer bekämpft, dann russische Flugzeuge und Helikopter. Inzwischen sei er «Drohnen-Operateur» und der Krieg ein völlig anderer als in der Anfangszeit. «Tagsüber sieht man nichts, die Drohnen kontrollieren alles, wir können nur nachts aus unseren Bunkern», sagt er. Für ihn sind gute Nachtsichtgeräte eine Überlebensgarantie.

Ein Ukraine-Kämpfer als Nationalheld

Kumpis ist in Litauen sehr bekannt. Der hochgewachsene, durchtrainierte 58-Jährige mit markanter Glatze gibt Interviews und tritt im Fernsehen auf. Politiker lassen sich mit ihm fotografieren, ganz anders als in der Bundesrepublik. Deutsche, die in der Ukraine kämpfen, bleiben lieber anonym, weil sie Angst vor Belästigung oder Angriffen auf ihre Familien haben. Dass er noch lebe, sei reines Glück, sagt Kumpis, viele seiner Freunde habe es erwischt. Sie alle kämpften, um die freie Welt zu verteidigen, sie trügen grosse Verantwortung, sagt einer in der Runde.

Die Russen aber, sagt Kumpis, kämpften, weil der Krieg ein «Geschäft» sei, weil sie damit Geld verdienten. Für viele russische Soldaten mache es keinen Unterschied, ob sie am Alkohol oder in einem Graben in der Ukraine umkämen. Im Militär erhielten sie Geld, sehr viel mehr als in ihren Dörfern. «Der Krieg ist ein Geschäft, darauf ist das ganze System von Putin aufgebaut.»

Man kann mit Kumpis über das Geschehen an der Front reden und wie es sich seit Februar 2022 verändert hat. Er redet leise, langsam und klingt nicht wie jemand, der etwas erfindet oder hinzudichtet. Zum Beweis zeigt er Videos auf seinem Handy, Aufnahmen, wie er sagt, seiner Drohneneinsätze. Sie bilden die Perspektive der Drohne ab, seinen Blick auf das Gefechtsfeld, so wie er es in der Videobrille sieht. Er trägt sie in einem Bunker oder Graben nahe der Front, ein paar Kilometer vom Angriffsziel entfernt.

Einmal stürzt er die mit einer Panzerabwehrgranate bewaffnete Drohne in ein russisches Flugabwehrsystem. Man erkennt es erst kurz bevor das Video erlischt. Ein andermal steuert er ein russisches Munitionslager an. Auch von der anschliessenden Explosion hat er ein Video, aufgenommen von einer zweiten Drohne, die den Angriff gefilmt hat. Später schickt er noch ein Foto, das ihn in ukrainischer Uniform vor einer ganzen Batterie von Kamikazedrohnen zeigt.

Ein Kampf der Zivilisationen

Neben ihm sitzt Skirmantas Krunkaitis, die Arme vor der Brust verschränkt und deutlich jünger als Kumpis. Krunkaitis ist Arzt und arbeitet freiwillig in Orten, die nahe der Front in der Ukraine liegen. Er präsentiert Bilder, die ihn in der Ukraine zeigen, vor ihm ein Mann, dem weite Teile der Oberschenkel fehlen, das verbliebene Muskelgewebe hängt an den Knochen. Sie behandelten in der Regel ukrainische Zivilisten, sagt er, alte und arme Menschen, die ihre Heimatorte nicht verlassen wollten.

Doch Krunkaitis kennt auch die Verwundungen der Soldaten. An der Front sei es inzwischen so schlimm, sagt er, dass die Verletzten tagelang mit abgebundenen Gliedmassen in Gräben liegen müssten, ehe sie nach hinten geschafft werden könnten. Bis dahin, das zeigen die Erfahrungen der Ukrainer, sind selbst kleine Wunden so schwer infiziert, dass oftmals eine Amputation nötig ist.

Krunkaitis erlebt den Krieg aus einer anderen Perspektive als Kumpis. Er ist leiser, nachdenklicher. Es sei kein Krieg um Land, den Russland in der Ukraine führe, sagt Kumpis. «Es ist ein Kampf der Zivilisationen. Sie versuchen, den Westen zu zerstören.» Putin denke nicht im Heute, nicht in Jahren. Sein Krieg sei auf Jahrzehnte angelegt, im Westen habe man das noch immer nicht verstanden. Er höre im Westen, man müsse mit Putin reden, sagt er. Dann schüttelt er den Kopf. Man könne mit den Russen nicht reden, es gebe da nichts zu verhandeln. «Wie soll man mit einem Verrückten sprechen?», ergänzt Krunkaitis mit Bezug auf Putin.

Trotz aller Zugewandtheit während des Gesprächs wird bei diesem Punkt ein grosses Unverständnis spürbar. Auf die Frage, was geschehen werde, wenn man Putin den okkupierten Teil der Ukraine zugestehe, um in Verhandlungen zu kommen, so wie es implizit der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Rolf Mützenich, geäussert hat, ist es kurz mit der Freundlichkeit der Gastgeber vorbei.

«Wie wäre es mit einem Teil Deutschlands? Vielleicht gebt ihr Putin einen Teil Deutschlands?», sagt Kumpis leicht aufbrausend. Was geschehe, wenn man den Russen Gebietszugeständnisse mache, fragt Krunkaitis. Machten sie dann halt, oder nähmen sie sich als Nächstes Georgien? Oder die Moldau? «Und dann irgendwann uns?»

Deutschland solle der Realität ins Auge blicken. Putin verstehe nur Härte. «Deutschland gibt riesige Mengen an Hilfe an die Ukraine, in absoluten Zahlen seid ihr das führende Land in Europa. Aber die politischen Stimmen lassen grossen Raum dafür, was das Ziel ist», sagt Arunas Kumpis. Das sei «soft», weich, und das nutze Russland.

Es wird nicht klar, was konkret gemeint ist. Vielleicht sind es die nur 18 Kampfpanzer Leopard 2, die Deutschland geliefert hat, oder der Marschflugkörper Taurus, den Kanzler Olaf Scholz nicht schicken will. Aber das Unverständnis ist zu spüren. «Russland versteht nur einen ganz klaren Schlag ins Gesicht», sagt Kumpis.

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