Die Weltwirtschaft wird nicht zur «Normalität» zurückkehren, die in den Jahren vor der Pandemie geherrscht hatte. Welche langfristigen, strukturellen Trends werden die kommenden Jahre prägen? Vier Themen bieten sich an.
«Die alte Welt liegt im Sterben, die neue Welt kämpft darum, zum Leben zu erwachen; das ist die Zeit der Monster.»
Antonio Gramsci, ital. Philosoph, Journalist und Politiker (1891–1937)
The New Normal, die neue Normalität. Dieser Begriff wurde nach der Finanzkrise von 2008 in den Kommentarspalten zur Standardfloskel, um das Umfeld in der Weltwirtschaft und an den Finanzmärkten zu erklären. Es war eine Zeit, in der von «säkularer Stagnation» die Rede war; eine Zeit, in der Null- und Negativzinsen herrschten, in den westlichen Volkswirtschaften latent die Furcht vor einem Abgleiten in die Deflation kursierte und die Zentralbanken deswegen mit gigantischen Anleihenkaufprogrammen ihre Bilanzen aufblähten wie nie zuvor.
Den Schlusspunkt dieser neuen Normalität bildeten die riesigen staatlichen Stützungsprogramme zur Bekämpfung des Schocks der Covid-Pandemie. Sie zogen den heftigsten Inflationsschub und den schärfsten Zinsanstieg seit mehr als vier Jahrzehnten nach sich.
Von säkularer Stagnation und latenter Deflation spricht heute niemand mehr. Auch wenn der Inflationsschub mittlerweile grösstenteils vorüber ist und die Zentralbanken begonnen haben, die Zinsen wieder zu senken, so ist doch evident: Die Weltwirtschaft wird nicht zur «Normalität» zurückkehren, die in den Jahren seit der globalen Finanzkrise geherrscht hatte. Nichts an dieser Zeit war normal.
Aber wie sieht die neue Welt aus, in der sich Wirtschaft und Finanzmärkte in den kommenden Jahren bewegen werden? Was sind die strukturellen, langfristigen Trends – losgelöst von der kurzfristigen Frage, ob in den kommenden Monaten eine Rezession droht oder nicht?
Vier Themen bieten sich an.
Die fragmentierte Globalisierung
Erstens, die Neuordnung der globalen Lieferketten. Das Thema mag nicht mehr besonders neu klingen, sorgt es doch schon seit den ersten Monaten der Pandemie für Schlagzeilen. Aber es ist eine der tiefgreifendsten und folgenschwersten Entwicklungen für die Weltwirtschaft seit Jahrzehnten, da es um nichts weniger geht als eine Umkehr des Trends, der die Weltwirtschaft seit den Achtzigerjahren geprägt hatte. Jedes produzierende Unternehmen weltweit muss sich damit befassen. Deglobalisierung ist der falsche Begriff, treffender sind «De-Risking» oder «Nearshoring».
Unternehmen verlagern, teils aus politischem Druck, teils aus Risikoüberlegungen, einen Teil ihrer Produktionskapazitäten und Lieferketten aus China in andere Staaten. Das gilt selbst für chinesische Unternehmen – prominente Beispiele unter vielen sind die Automobil- und Batteriehersteller BYD und CATL –, die Fabriken in Ländern wie Mexiko oder Ungarn bauen, um den Zugang zu ihren Absatzmärkten zu sichern.
Eine Neuordnung der globalen Lieferketten ist aber viel einfacher gesagt als getan. China hat sich in den knapp vier Jahrzehnten seit dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik als Produktionsstandort erster Wahl etabliert und in gewissen Industrien unschlagbar effiziente Zuliefer-Cluster aufgebaut. Weder Vietnam noch Mexiko noch Indien können auf Anhieb die gleiche Effizienz bieten, geschweige denn das Kostenniveau der chinesischen Cluster. Das muss derzeit beispielsweise auch Apple erfahren: Der Tech-Konzern hat zwar angekündigt, einen Teil seiner iPhones künftig in Indien zu fertigen – aber der Grossteil der Komponenten kommt immer noch aus China.
Dieser Prozess der Neuordnung der Lieferketten wird viele Jahre beanspruchen und enorme Investitionen in Infrastruktur und Produktionskapazitäten benötigen.
Latenter Inflationsdruck
Zweitens, die Energiewende. Die Weltwirtschaft wird dekarbonisiert und elektrifiziert. Was zunächst ein politisches Projekt war, folgt mittlerweile ökonomischer Logik. Strom aus erneuerbaren Quellen wird immer wettbewerbsfähiger, und dieser Trend wird sich beschleunigen. Das bedeutet nicht, dass fossile Energieträger wie Öl und Gas verschwinden werden – im Gegenteil: Auch ihr Verbrauch wird weiter wachsen. Doch der grösste Teil des Grenzwachstums des weltweiten Energiebedarfs wird künftig von Elektrizität gedeckt werden.
Auch das ist ein Prozess, der viele Jahre in Anspruch nehmen wird. Er wird billionenschwere Investitionen in die Produktion, die Distribution und in die Speicherung von elektrischer Energie nach sich ziehen und riesige Mengen an Industriemetallen wie Kupfer, Aluminium oder Nickel benötigen.
Beide diese Trends, die Neuordnung der Lieferketten und die Energiewende, werden von staatlicher Industriepolitik begleitet. Staaten und Regionen buhlen mit Subventionen und Steuergeschenken darum, Investitionen zu sich zu locken. Beide werden einen Boom in den Kapitalinvestitionen begünstigen, und beide werden für die Weltwirtschaft in Summe inflationär wirken – nicht zuletzt deshalb, weil eine strukturell steigende Nachfrage in gewissen Rohstoffsektoren, etwa Kupfer, auf ein kurzfristig starres Angebot trifft.
Fiskalische Dominanz
Das dritte Thema, das die kommenden Jahre prägen wird, lässt sich mit dem Begriff fiskalische Dominanz umfassen. Die Staatsschulden, vor allem in den Industrienationen, sind in den Jahren seit der Finanzkrise laufend gestiegen. Die USA, Japan, Grossbritannien, Italien oder Frankreich weisen eine offizielle Schuldenquote von mehr als 100% des Bruttoinlandprodukts – im Fall von Japan deutlich mehr – auf. Das sind Werte, die letztmals unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht wurden.
Schuldenberge dieser Grösse sind nicht schmerzlos abzutragen. Es gibt kein modernes Beispiel einer grossen Volkswirtschaft, die allein über Ausgabenkürzungen oder reales BIP-Wachstum einer derart grossen Verschuldung entkommen ist. Was es jedoch mit Blick auf die Historie gibt, sind Beispiele, wie Inflation bewusst als Teil der Lösung des Schuldenproblems eingesetzt wurde – etwa in Grossbritannien und den USA nach 1945. Wenn sich das reale BIP-Wachstum nicht beschleunigen lässt, so doch das nominale – nämlich über die Inflation. Für diesen Prozess hat sich der Begriff finanzielle Repression etabliert.
Es ist davon auszugehen, dass auch die künftigen Jahre in diversen westlichen Volkswirtschaften von finanzieller Repression geprägt sein werden. Damit die Erosion der Schulden durch Inflation gelingt, muss die Zentralbank – explizit oder implizit – in den Dienst der Fiskalpolitik gestellt werden. Sie muss dafür sorgen, dass die nominale Verzinsung der Staatsanleihen unter der Inflationsrate bleibt. Die Währungen der Staaten, die auf diese Art finanzielle Repression betreiben, werden sich gegenüber Währungen fiskalpolitisch «vernünftiger» Staaten abwerten.
Multipolare Weltordnung
Viertens, die multipolare Weltordnung. Es ist evident, dass die unipolare Phase der Weltmacht USA – die Ära nach dem Fall der Sowjetunion – vorbei ist. Müsste man ein Jahr bestimmen, welches ihr Ende einläutete, dann ist es 2008: Die Finanzkrise sowie die Programme, die zur Rettung Dutzender Banken beschlossen werden mussten, haben dem auf Finanzkapitalismus und freien Märkten basierenden «Modell USA» tiefe Kratzer zugefügt.
Das gilt sowohl aus der Perspektive der Schwellenländer – die Finanzkrise bekräftigte den späteren Parteichef Xi Jinping in der Ansicht, dass es für China an der Zeit ist, die Zurückhaltung abzulegen – als auch in den Bevölkerungen diverser westlicher Industrieländer: Die Wahl von Trump und der Brexit-Entscheid 2016 sowie der Aufstieg populistischer Parteien an beiden Extremen des Spektrums können zwar nicht kausal auf die Finanzkrise zurückgeführt werden, aber sie manifestieren die gesellschaftliche Spaltung zwischen breiten Teilen der Bevölkerung und ihren «Eliten». Letztere haben jahrelang dem globalisierten Finanzkapitalismus gefrönt, während sich immer mehr Menschen in den unteren und mittleren Schichten abgehängt fühlten.
Doch was tritt an die Stelle der unipolaren Ordnung? Eine Weile sah es so aus, als etabliere sich eine bipolare Ordnung mit China auf der einen und den USA auf der anderen Seite. Das Buch «Destined for War: Can America and China Escape Thucydides’ Trap?» von Graham Allison im Jahr 2017 war der Zenit dieses bipolaren Moments. Doch Chinas hartnäckige Wirtschaftskrise und seine desaströse demografische Entwicklung sprechen nicht für eine Welt mit zwei ebenbürtigen Supermächten. Viel eher setzt sich das Bild einer multipolaren Weltordnung durch: Die USA und China stehen zwar in einem grossen, ideologisch geprägten Konflikt, doch zahlreiche weitere Staaten üben auf regionaler oder globaler Ebene Macht aus, ohne sich in den Dienst der USA oder Chinas zu stellen. Indien, Saudi-Arabien, Iran, die Türkei oder Brasilien sind Beispiele.
Multipolare Weltordnungen sind historisch betrachtet von einer Häufung von regionalen Konflikten, von schwachen Bündnissen und von Opportunismus geprägt. Das dreiste Vorgehen Putins als Diktator der sich im Niedergang befindlichen Grossmacht Russland ist ein Beispiel für die Art Konflikte, die sich in einer multipolaren Welt häufen. Ein Beispiel für Opportunismus ist Indien, das sich als «wichtigsten Freund der USA» feiern lässt, gleichzeitig riesige Mengen Rohöl aus Russland kauft und es in Form von Diesel nach Europa exportiert.
Kehren sich die USA von der Welt ab?
Multipolare Weltordnungen werden dann gefährlich, wenn sich der bisherige Hegemon – im heutigen Fall die USA – von der Weltbühne verabschiedet. Letztmals war das nach dem Ersten Weltkrieg der Fall, als Grossbritannien nicht mehr in der Lage war, seine Hegemonialrolle zu spielen, während die USA keine koordinierende Rolle übernehmen wollten und sich nach innen wandten.
Die Weltwirtschaftskrise der frühen Dreissigerjahre und der Zweite Weltkrieg waren eine Folge dieses Vakuums. Wenn deshalb die Republikanische Partei unter ihrem Führer Donald Trump damit liebäugelt, sich mit den USA vom Rest der Welt abzukehren, ruft das Besorgnis hervor.
Chancen – und Monster
Das, was vor zehn Jahren als «New Normal» beschrieben wurde, ist vorbei. Ebenso die Weltordnung, die die vergangenen gut dreissig Jahre geprägt hatte. Eine neue Welt ist im Entstehen begriffen, und dieser Prozess wird Jahre beanspruchen – Jahre, die bisweilen von Chaos geprägt sein dürften. Wiederkehrende Inflation, Protektionismus und staatliche Industriepolitik, ausufernde Schulden und eine Häufung von Konflikten werden eine neue – in gewisser Weise auch alte – Normalität schaffen. Diese Normalität könnte mehr Parallelen zu den Siebzigerjahren und der Zwischenkriegszeit aufweisen als zu den vergangenen drei Jahrzehnten.
Auch diese Normalität wird agilen Investoren, Unternehmen und Staaten Chancen bieten, daran besteht kein Zweifel. Es droht aber auch, um es mit den Worten von Gramsci zu sagen, eine Zeit der Monster zu sein.