Brutal hat das Lukaschenko-Regime Weissrussland von allem gesäubert, was der Herrschaft des Diktators widerspricht. Viele Oppositionelle sind in Haft, die meisten aber leben im Ausland. Paradoxerweise findet die Kultur hier zu neuem Selbstbewusstsein.
Das Maschinenhaus der Berliner Kulturbrauerei füllt sich an einem Dezemberabend langsam mit jungen Menschen aus Weissrussland. Seit dem Beginn der Massenrepressionen gegen Protestierende im Herbst 2020 lebt ein grosser Teil der Fans der Rockband Schlinge der Leidenschaft im Ausland. «Für die meisten Besucher aus Minsk ist das Konzert wirksamer als eine Therapiesitzung», erklärt eine junge Frau, die schon länger in Berlin lebt.
Der poetische Gesang von Ilja Tscherepko-Samochwalow klingt wie der Soundtrack in einem Film über die Entstehung einer neuen weissrussischen Diaspora. Diese findet sich 2024 nicht nur im politischen Protest gegen die Diktatur in der Republik Weissrussland zusammen, sondern auch in der Sehnsucht nach den Melodien des alten Lebens in Minsk.
Renaissance der Sprache
Eine Welle der Rührung geht durch die Reihen der Tanzenden, als der Gitarrist die Melodie des Hits «Grus» spielt, dessen Refrain lautet: «Ich bin gar nicht so schlecht.» Die Musik erlaubt eine sichere Gedankenreise in die weissrussische Hauptstadt vor 2020, als die Niederschlagung der Proteste nach gefälschten Präsidentschaftswahlen alles veränderte. Die bis heute anhaltenden Verhaftungen des dortigen Staatsapparats aktualisieren jeden Tag aufs Neue den Kontext, in dem dieses Konzert zu einem bedeutsamen Ereignis wird. Jeder hier kennt jemanden, der vom KGB oder vom Innenministerium für Jahre im Gefängnis festgehalten wird, vielen der Anwesenden droht die Verhaftung, würden sie ihre Eltern in Weissrussland besuchen.
In der Pause zwischen zwei Liedern ruft ein Besucher lauthals: «Slawa Ukraini – Ruhm der Ukraine!» Auch der anhaltende russische Krieg gegen die Ukraine gehört zu diesem Kontext des Konzerts. Vom Ausgang des Kriegs hängt die Zukunft von Alexander Lukaschenko ab. Der Bassist Timofei Sawizki ballt die Faust und streckt seinen Arm zum Publikum. Er ruft gemeinsam mit dem Publikum im Gleichklang: «Gerojam Slawa – Ruhm den Helden!» Erst nach diesem Ritual ruft ein anderer Konzertgänger: «Zhiwje Belarus – hoch lebe Weissrussland!» Die kollektive Antwort lautet: «Wetschna zhiwje – lang soll es hochleben!» Der Bassist verharrt noch immer mit geballter Faust und geneigtem Haupt im Scheinwerferlicht. Das Intermezzo rahmt das Konzert, das sonst unpolitisch wirkt.
Die im Oktober 2024 erschienene neue LP «Superpasizija» der Band ist die erste in weissrussischer Sprache. Die feine, aber wichtige Veränderung zeigt, dass das Leben im Exil nicht ohne Folgen für die Kunst bleibt. Alle bisherigen Hits waren auf Russisch.
Zahlreiche Fans in Russland beschimpften die Band umgehend auf der Plattform Telegram für den Wechsel von der einen zur anderen ostslawischen Sprache. Sie respektieren die künstlerische und politische Entscheidung der Band für eine symbolische Veränderung nicht, denn nun verstehen sie den Singsang von Schlinge der Leidenschaft nicht mehr ohne Übersetzungshilfe, da Russisch und Weissrussisch im linguistischen Kontinuum ostslawischer Dialekte so weit voneinander entfernt sind wie Hochdeutsch aus Niedersachsen und Höchstalemannisch aus dem Wallis. Die LP ist nicht nur dank der demonstrativen Entscheidung für Weissrussisch eine Auseinandersetzung mit der neuen Wirklichkeit, die von den Repressionen in Minsk ebenso geprägt wird wie vom Krieg in Kiew.
Seit dem vollumfänglichen russischen Überfall auf die Ukraine ist der öffentliche Wechsel von Russisch zu Weissrussisch Ausdruck einer kollektiven Bewegung der neuen Diaspora auf der Suche nach kultureller Eigenständigkeit. Diese öffentlich manifestierte Form des Protests ist weit mehr als die Forderung nach einem Ende der Diktatur. Mit der Sprache geht bei den Musikern von Schlinge der Leidenschaft auch ein neues Spiel mit dem musikalischen Erbe der weissrussischen Folklore einher, die vorher kaum eine Spur in ihrem Werk hinterlassen hatte. Die neuen Lieder wirken zunächst unpolitisch. Doch bezeugen einzelne Songs wie «Katastrophe» oder «Schrecken», wie umfassend die Erfahrung des Exils das Leben der Künstler durch Gewalt und ein Eindunkeln der Gegenwart veränderte.
Bücherfestival auf Reisen
Pawel Barkuski verlor seine Arbeit als Philosophiedozent an einer Hochschule in Minsk 2021. Da seine Arbeit an die Sprache gebunden ist und es anders als im Fall der ukrainischen Diaspora in den USA bis jetzt im Ausland keine Wissenschaftszentren des weissrussischen Denkens gibt, wechselte er den Beruf und wurde Kulturmanager. Mit «Pradmowa» versucht Barkuski unermüdlich von Warschau aus ein Festival des intellektuellen Buchs zu einem fliegenden Kaffeehaus zu machen, in dem die neue Diaspora in ungezwungener Atmosphäre eine neue Qualität des gemeinsamen Gesprächs einübt.
«Pradmowa» findet im Wechsel in jenen Städten statt, in denen die 200 000 bis 300 000 politisch aktiven Weissrussinnen und Weissrussen heute leben: Warschau, Vilnius, Tbilissi, Poznan und Berlin. Zwischen den Festivalterminen vor Ort lädt Barkuski online zum Austausch. Im Oktober 2024 findet das Festival in einer Berliner Fabrik statt, die von einem Künstlerkollektiv aus Mariupol betrieben wird. Sie nennen es in Erinnerung an ihr Kunstlaboratorium im zerstörten Mariupol «Hotel Continental».
Parallel finden hier an drei Tagen von morgens bis abends drei Sitzungen statt, in denen sich Weissrussen über ihre Gegenwart in Europa verständigen. Die Schriftsteller Alherd Bacharewitsch und Swetlana Alexijewitsch diskutieren, wie die Literatur die Rückkehr der Albträume des 20. Jahrhunderts verarbeiten kann. Wissenschafter im Exil fragen nach der Veränderung von Staatsbürgerschaft im Angesicht der Versuche des Minsker Regimes, die Ausgabe von Pässen an die im Ausland lebenden Weissrussen zu erschweren. Die Theatertruppe Wolnyja Kupalaucy inszeniert den dokumentarischen Roman «Zekamerone» von Maxim Znak, der in hundert Fragmenten das Leben hinter Gittern seziert. Am Ende von «Pradmowa» gibt zu therapeutischen Zwecken der Rockstar Lawon Wolski ein akustisches Konzert.
Neue Künstlergruppe
Zu den neuen künstlerischen Suchbewegungen im Exil gehört die Gründung der Künstlergruppe Pawetra. «Das bedeutet auf Deutsch ‹Luft›», erklärt die Tänzerin Taziana Kupreitschyk im Theatermuseum Düsseldorf. Gemeinsam mit in Nordrhein-Westfalen lebenden Musikern, Komponisten und Künstlern sucht die Gruppe nach einer neuen Formensprache. In Videoprojektionen legen Maxim Tyminko und Andrei Dureika drei visuelle Ebenen nebeneinander: die Porträts politischer Gefangener, die Bilder des russisch-ukrainischen Kriegs und die künstlerische Verarbeitung der Flucht aus Weissrussland. Damit erinnern sie an mehr als 1400 politische Gefangene des Lukaschenko-Regimes und an den seit über 1000 Tagen andauernden Krieg.
Einen besonderen Klang hat der Abend durch die weissrussische Variante des Hackbretts, die Zymbal heisst und von Nadzeya Karakulka gespielt wird. Im Hintergrund arbeitet Oxana Omelchuk an elektronischen Bässen, die bald leise begleiten, bald am Rande von sonorer Gewalt wandern. In einem Zwiegespräch denken Schauspieler über das Miteinander im Wahrnehmen, Erzählen und Zuhören im 21. Jahrhundert nach.
Während einer Neuinterpretation des Lieds «Morgen» von Richard Strauss erscheinen Bilder von der annektierten Krim. Während sich in einem der im Raum verteilten Spiegel ein Tourist zu einem Raketeneinschlag umdreht, erklingen die Worte: «Und morgen wird die Sonne scheinen.» Weiter heisst es im Original von John Henry Mackay: «Und zu dem Strand, dem weiten, wogenblauen, / werden wir still und langsam niedersteigen, / stumm werden wir uns in die Augen schauen, / und auf uns sinkt des Glückes stummes Schweigen . . .»