Mittwoch, Januar 15

Die Gewehrschützin Chiara Leone gewinnt die erste Schweizer Goldmedaille an den Sommerspielen von Paris. Dabei hätte es gut sein können, dass die Aargauerin diese Olympiateilnahme verpasst hätte – aufgrund eines Missgeschicks.

Wie doch das Leben manchmal spielt! Rückblende: Es ist Ende Mai, in der kroatischen Stadt Osijek stehen die Europameisterschaften im Schiessen an. Für Chiara Leone ist es die letzte Chance, sich für einen Start an den Olympischen Spielen aufzudrängen. Sie gehört im Kleinkaliber-Dreistellungsmatch zum Favoritenkreis. Doch, oh Schreck: Als der EM-Wettkampf bevorsteht, bemerkt sie, dass die Schiesstasche fehlt – und sich diese noch in der Schweiz befindet.

In der Tasche sind Zubehör für ihr Gewehr und ihre massangefertigten Schiesskleider. Ohne dieses Material hat sie nicht den Hauch einer Chance auf ein Spitzenresultat. Was nun? Sie informiert ihre Eltern im Aargau – und diese fahren los. Sie laden die Tasche in ihr Auto ein und unternehmen eine gut vierzehnstündige Reise nach Osijek. Aber mit der Kurierfahrt ist noch nichts gewonnen. Leone weiss, sie benötigt ein Spitzenresultat, die Konkurrenz ist unerbittlich – und besser hätte sie diese Aufgabe nicht lösen können: Leone erringt den EM-Titel.

Doch das Zittern geht weiter. Der Schweizer Schiesssport-Verband (SSV) kann in ihrer Disziplin nur zwei Athletinnen an die Spiele schicken, und für die beiden Plätze kommt mindestens ein Trio infrage. Wen werden die Selektionäre zu Hause lassen: Die Olympiasiegerin Nina Christen? Das 15-jährige Supertalent Emely Jäggi, das schon Weltrekorde schiesst? Oder eben doch die Europameisterin?

73 Jahre lang musste die Schweiz auf einen Olympiasieg im Schiessen warten – nun schlagen die Frauen zu

Die Erlösung für Leone folgt erst gut drei Wochen später, als publik wird, dass sie den Zuschlag erhalten hat. Ihr Traum von der ersten Teilnahme an den Sommerspielen geht in Erfüllung – auf einem Anwesen mit Schloss in der Nähe der Stadt Châteauroux, wo sie und ihr Team sich auf den olympischen Wettkampf vorbereiten. Zur Ablenkung versucht Leone, mit vier Bällen zu jonglieren. Oder sie lernt Spanisch, weil sie für den September einen Südamerika-Trip geplant hat.

Und so geht dieses Märchen immer weiter und weiter – bis sie am Freitagmorgen in der Königsdisziplin Dreistellungsmatch im Final steht. Auch da zeigt sie keine Nervenschwäche. Leone bleibt in der Hitze cool und krönt sich mit olympischem Rekord zur Olympiasiegerin. Wie Nina Christen vor drei Jahren in Tokio.

Sie beide sind die einzigen Schweizerinnen, die je Olympiagold im Schiessen gewonnen haben. Vor ihnen hatte das Land sage und schreibe 73 Jahre auf einen Olympiasieg in dieser Sportart warten müssen, was erstaunt, denkt man an die grosse Schützentradition in der Schweiz. Der SSV feiert heuer sein 200-Jahr-Jubiläum, und noch an frühen Olympischen Spielen der Neuzeit steigerten sich seine ausschliesslich männlichen Vertreter in einen regelrechten Goldrausch. So etwa anno 1900, als die IOK-Familie erstmals in Paris zu Gast war. Der Ostschweizer Konrad Stäheli avancierte sogar zu einem Star jener Spiele.

Chiara Leone darf nun 124 Jahre später immerhin für sich in Anspruch nehmen, für die erste Goldmedaille der Schweizer Delegation gesorgt zu haben. Und wer weiss, vielleicht hat sie damit einen Bann gebrochen, nachdem Swiss Olympic an den ersten Tagen von Paris doch einige Ernüchterungen wegzustecken hatte. Aber wer ist diese neue Schützenkönigin überhaupt?

Auf dem Pausenplatz gab sie den Fussballgoalie

Chiara Leone, 26 Jahre alt, stammt aus dem Aargauer Fricktal. Ihren Lebensmittelpunkt hat sie jedoch nach der Matura nach Biel verlegt, wo ihr Verband ein nationales Leistungszentrum betreibt. Wer dort einen Ausbildungsplatz erhält, hat die Chance, das Schiessen hauptberuflich auszuüben.

Auf ihrer Website gibt Leone Einblick in das Leben, das sie bis dato geführt hat. Sie gibt preis, dass es vor einem Wettkampf ihr Ritual sei, den linken Schuh immer vor dem rechten zu binden. Oder sie geht auf ihre italienischen Wurzeln ein, die sie ihrem schiessbegeisterten Vater zu verdanken hat. Dass sie zum Beispiel eine Vorliebe hat für die selbstgemachten Gnocchi ihrer Nonna. Über ein allfälliges südländisches Temperament lässt sie verlauten: «Früher liess ich mich von Emotionen leiten, heute kann ich besser damit umgehen.»

Auf diesem Portal beantwortet sie auch die Frage, welche Schlagzeile man über sie lesen würde, hätte sie nicht zum Sportschiessen gefunden. Leone gab zwei Antworten. «Flachländerin rast auf das Ski-Weltcup-Podest». Und: «Das nächste Fussballtalent aus dem Fricktal nach Ivan Rakitic». Weil sie in ihrer Jugend auch anderen Sportarten frönte; sie ging gerne Ski fahren und gab auf dem Pausenplatz jeweils den Fussballgoalie.

Wer Vergleiche mit Rakitic zieht, muss über Selbstvertrauen verfügen; er gewann mit dem FC Barcelona die Champions League und war WM-Finalist mit Kroatien. Aber Leone hat aus ihren Ambitionen nie ein Geheimnis gemacht. Schon vor längerem teilte sie auf ihrer Website mit, sie wolle im Schiessen die Nummer 1 der Welt werden.

Auch wenn sie nun in diese Sphäre aufgestiegen ist: Für Leone sind die Verdienstmöglichkeiten um Lichtjahre schlechter als für Rakitic. Leone muss nur schon froh sein, wenn eine regionale Apotheke sie sponsert. Und das ist das Besondere an der Schützinnengeneration um sie, Nina Christen und Audrey Gogniat, die am Montag Bronze mit dem Luftgewehr errang: Sie alle hätten beste schulische Voraussetzungen, um einen anderen, finanziell lukrativeren Job anzupeilen. Aber die jungen Frauen wollen vor allem eines: Schiessen. Pro Jahr gibt jede von ihnen gegen 50 000 Schuss ab.

Christen schaffte es als Olympiasiegerin immerhin, ein paar Partnerschaften abzuschliessen. Ihre Passion ist das Helikopterfliegen, und zu ihren wichtigsten Gönnern zählt heute eine Helikopterfirma. Für welche Art Werbung könnte Chiara Leone infrage kommen? Für Zahnpasta, weil ihr Lachen so strahlend weisse Zähne zum Vorschein bringt? Für «Kinder»-Schokolade? Oder für handgefertigte Gnocchi? Die nächsten Monate werden es zeigen.

Aber Leone wird auch Ruhe brauchen, um den ungewohnten Rummel zu verarbeiten. Ihre Vorgängerin Nina Christen musste in dieser Hinsicht schwierige Erfahrungen machen, die Nidwaldnerin sprach nach Tokio sogar von einer «postolympischen Depression». Vielleicht ist es für Leone gar nicht so schlecht, verabschiedet sie sich im Spätsommer nach Südamerika, um etwas durchatmen zu können.

Chiara Leone im Interview

Aus Nina Christens Schatten getreten

Nicht zu vergessen ist in der Stunde ihres grössten Erfolgs ihr Coach, der Deutsche Enrico Friedemann. Ihn und Leone verbindet ein starkes Vertrauensverhältnis. Dabei war Friedemann öffentlich unter Druck geraten, als bekanntwurde, dass die Olympiasiegerin Christen nicht mehr mit ihm als Nationaltrainer zusammenarbeiten will. Nun hat er es geschafft, Leone aus Christens Schatten heraus auf den Gipfel zu führen.

Christen hingegen musste in den letzten Tagen lauter Enttäuschungen verdauen. Es hiess, sie habe zu viel Puls gehabt. Wie es mit ihrer Karriere weitergeht, scheint offen. Vor den Spielen hat die 30-Jährige gesagt, sie werde nach Paris eine Auslegeordnung machen.

Eine solche hat kürzlich auch Chiara Leone gemacht, aber nur, um zu prüfen, ob sie auf der Reise an die Olympischen Spiele alles Notwendige dabei hat. Gegenüber SRF sagte sie, sie habe nun «dreimal kontrolliert», ob sie wirklich alles eingepackt habe. Aber egal, wie das Leben gespielt hätte: Wäre etwas vergessengegangen, hätten die Eltern bestimmt keinen Aufwand gescheut, den Traum ihrer Tochter mit einer weiteren Kurierfahrt am Leben zu erhalten. Im Vergleich zu Osijek wäre Châteauroux ja ein Katzensprung gewesen.

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