Mittwoch, Oktober 2

Die Wirtschaft hängt am Rockzipfel des Fed – und doch wird die US-Notenbank die Zinsen weiter hoch halten. Die Inflation bleibt eine zu grosse Gefahr.

Es kommt selten genug vor, aber für einmal sind die Europäer den Amerikanern voraus. Die Europäische Zentralbank hat am Donnerstag erstmals seit fünf Jahren den Leitzins gesenkt, die Schweizerische Nationalbank wagte den Schritt bereits im März.

Die Amerikaner jedoch zögern, einmal mehr. Am kommenden Mittwoch wird auch die Notenbank Fed ihren nächsten Zinsentscheid kommunizieren. Aber die ganze Welt geht davon aus, dass sie ihren Leitzins im Band zwischen 5,25 und 5,5 Prozent behält.

Die Inflation bleibt eine Gefahr

Zu Recht. Die Teuerung in den USA erweist sich als hartnäckig. Die stark beachtete Kerninflation, in welcher die volatilen Energie- und Lebensmittelpreise nicht berücksichtigt sind, betrug im April gegenüber dem Vorjahr weiterhin 3,6 Prozent und lag damit deutlich über dem Zielwert von 2 Prozent. Am kommenden Mittwoch werden, wenige Stunden vor dem Fed-Entscheid, die Inflationszahlen vom Mai publiziert. Diese müssten aber schon stark vom bisherigen Trend abweichen, um die Fed-Spitze noch umzustimmen.

Bei manchen Fed-Exponenten ist derzeit jedenfalls viel Zurückhaltung zu spüren. Beispielsweise sagte der Präsident des Minneapolis Fed, Neel Kashkari, der «Financial Times», kurz bevor die übliche Schweigeperiode für Fed-Vertreter vor dem Zinsentscheid begann, dass man die Zinsen für eine «längere Zeit» auf dem jetzigen Niveau halten solle. Die starke Verankerung der Zinserwartungen sei seit vierzig Jahren ein wichtiger Baustein des wirtschaftlichen Erfolgs der USA gewesen. «Ich wäre sehr zurückhaltend dabei, das aufs Spiel zu setzen.»

Auch die Zahlen vom amerikanischen Arbeitsmarkt, die am Freitag veröffentlicht wurden, befeuern die Hoffnungen auf eine baldige erste Zinssenkung nicht. Die Arbeitslosenquote bleibt bei tiefen 4,0 Prozent, zudem wurden in den USA ausserhalb der Landwirtschaft im Mai noch einmal 272 000 neue Jobs geschaffen. Die Zahl liegt über dem Jahresschnitt und den Erwartungen (rund 190 000 neue Jobs) und bestätigt, dass die amerikanische Wirtschaft weiterhin rundläuft.

Das wirkt sich auf die zu erwartende Geldpolitik aus, denn das Fed hat ein doppeltes Mandat. Es soll die Preise stabil halten und die Beschäftigung im Land an ihr nachhaltiges Maximum führen. An der letzten Fed-Pressekonferenz im Mai erklärte der Notenbankchef Jay Powell nochmals, wie die Notenbank mit Konflikten zwischen den beiden Ansprüchen umgeht: Ein Ziel beeinflusst den Zinsentscheid umso stärker, je weiter das Fed im Moment vom jeweiligen Zielwert entfernt ist.

Nun läuft also der Arbeitsmarkt noch immer rund, und die Inflation liegt weit über den angestrebten 2 Prozent. Es gibt also wenig Grund, die Zinsen frühzeitig zu senken. Vor diesem Hintergrund erwarten auch die Anleihenmärkte, dass das Fed den Leitzins ein weiteres Mal bei 5,25 bis 5,5 Prozent hält.

Auch den Abbau von Staatsanleihen auf seiner enormen Bilanz dürfte das Fed im selben Tempo fortführen, also mit bloss noch 25 Milliarden Dollar pro Monat. Dies, nachdem die Notenbank die Geschwindigkeit des Abbaus an der letzten Sitzung im Mai bereits stark gedrosselt hat.

Biden macht kaum Druck

Dass die Zinswende weiter auf sich warten lässt, sind eher schlechte Nachrichten für die Regierung von Joe Biden. Eine rasche Zinssenkung würde die Märkte erfreuen und könnte die Stimmung der Konsumenten aufhellen – sprich: der potenziellen Wähler, die ihrem Präsidenten noch immer die Schuld an den hohen Preisen zuschieben. Langfristig hätten tiefere Zinsen die Inflation zwar neu befeuern können – doch die Bescherung wäre wohl erst nach den Präsidentschaftswahlen am 5. November eingetroffen.

Kurzfristig würden dagegen die Hypothekarzinssätze sinken. Diese liegen derzeit noch immer bei rund 7 Prozent für die in den USA übliche 30-jährige Hypothek und vergällen besonders den Jungen einen Hauskauf.

Es ist den Demokraten insofern hoch anzurechnen, dass sie die Geldpolitik des Fed nicht allzu forsch kritisieren, obwohl die Notenbank ihnen diesen Stimulus vorenthält. Donald Trump hatte als Präsident jeweils wenig Hemmung gezeigt, die Zinspolitik des Fed zu kritisieren und eine «businessfreundliche» Tiefzinspolitik zu fordern.

Höher für längere Zeit

Weil sich an der Zinspolitik vorerst nichts ändert, werden am Mittwoch einmal mehr die sogenannten «Dot-Plots» am meisten Interesse hervorrufen, das heisst die Verteilung der mittel- und langfristigen Zinserwartungen der 19 Fed-Vertreter. Diese Erwartungen passen die Notenbanker jeweils nur an jeder zweiten Sitzung an, das letzte Mal im März. Damals waren die Finanzmärkte noch optimistisch, dass das Fed die Zinsen 2024 mehrfach und deutlich senken werde. Die seither publizierten Inflations- und Arbeitsmarktzahlen liessen dieses rosige Szenario aber zunehmend illusorisch erscheinen.

Der Konsens erwartet, dass die Mehrheit der Fed-Vertreter für 2024 nur noch eine oder zwei Zinssenkungen à 0,25 Prozentpunkte als wahrscheinlich erachtet und auch für 2025 und 2026 mit einem leicht höheren Leitzins rechnet.

Eine Wirtschaft am Rockzipfel des Fed

Für die Anleger ist der Fed-Entscheid so wichtig wie noch selten. Daten zeigen, dass die Bewertung der S&P-500-Firmen stärker auf den Leitzins reagiert als je zuvor.

Eine Ausnahme bilden ausgerechnet die grossen Tech-Aktien: Amazon, Microsoft, Apple, Nvidia, Alphabet und Meta. Mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von teilweise deutlich mehr als 30 sind diese Titel sehr hoch bewertet. Beziehungsweise: Die Anleger erwarten von ihnen Gewinnsprünge, die sich nicht aus den bisherigen Resultaten herleiten lassen.

Dass sich ausgerechnet die Bewertungen der Techfirmen vom Fed-Entscheid etwas entkoppeln, erstaunt auf den ersten Blick. Früher waren sie nämlich besonders zinssensitiv. Als die amerikanische Notenbank die Zinsen 2022 stark heraufsetzte, um die hohe Inflation in den Griff zu bekommen, traf dies Meta und Co. besonders stark.

Das ist intuitiv verständlich, weil bei der Bewertung von Techunternehmen das Wachstumspotenzial, also zukünftige Gewinne, eine grössere Rolle spielt als die heutigen Gewinne. Bei Versicherungen oder Lebensmittelhändlern ist das umgekehrt, weil sich deren Geschäftsmodell auf absehbare Zeit nicht komplett verändern wird. Zukünftige Gewinne sind aber heute weniger wert, wenn sich das investierte Geld dank hohen Zinsen auch anderswo profitabel anlegen lässt.

Die Giganten dominieren

Der Grund für diese Entkoppelung vom Zinssatz ist die absehbare Dominanz der grossen Technologieunternehmen bei der Entwicklung auf dem Feld der künstlichen Intelligenz. Die Märkte erwarten, dass diese Handvoll Firmen die Forschung vorantreiben und später auch von den Resultaten profitieren wird.

Zwar beobachten die beiden amerikanischen Wettbewerbshüter – die Federal Trade Commission (FTC) sowie das Justizministerium – das Verhalten der Tech-Giganten inzwischen sehr genau. So hat die FTC gemäss Medienberichten unlängst eine Untersuchung dazu lanciert, ob ein Deal von Microsoft mit dem angesagten KI-Startup Inflection ein Problem darstellt. Doch die Anleger erwarten offenbar nicht, dass die Behörden die Marktmacht der Techfirmen substanziell einschränken werden.

Ob wirklich alle grossen Technologieunternehmen beim KI-Rennen vorne mittun werden, ist aber ungewiss. Bis jetzt profitieren vor allem Nvidia, das mit seinen Grafikprozessoren einen wichtigen Teil der Hardware für das KI-Rennen liefert, und mit Abstrichen Alphabet und Microsoft.

Mit Spannung wird Apples Entwicklerkonferenz von kommender Woche erwartet, weil der iPhone-Konzern Neues zu seiner KI-Strategie preisgeben dürfte. Nvidia hat derweil seinen unglaublichen Lauf an der Börse fortgesetzt, eine Marktbewertung von über 3 Billionen Dollar erlangt und Apple als zweitgrösstes Unternehmen der Welt abgelöst. Nur Microsoft hat noch knapp die Nase vorn.

Für die kleineren und mittelgrossen Unternehmen im S&P 500 bleibt dagegen das Fed derzeit das Mass aller Dinge. Es ist zu erwarten, dass sie von einer Zinssenkung überdurchschnittlich profitieren und an der Börse einen Teil ihres Rückstands auf die Grossen aufholen würden.

Aber eben: Bis das Fed ihnen diese erste Zinssenkung gewährt, dauert es.

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