Sonntag, Oktober 6

Die französische Schweiz schaut auf eine grosse Zeitungstradition zurück. Die angekündigten Restrukturierungen der Tamedia-Gruppe treffen die Westschweiz umso härter.

Nach der Rosskur ist vor der Rosskur. Nach vielen Sparrunden kündigt die Zürcher TX/Tamedia-Gruppe, zu der neben dem «Tages-Anzeiger» und «20 Minuten» auch die auflagenstärksten Westschweizer Zeitungen gehören, eine neue Restrukturierung an, die besonders die welsche Schweiz trifft. Das Druckzentrum in Bussigny soll offenbar geschlossen, die «Tribune de Genève» ausgedünnt werden. Die Romandie ist empört.

Die französische Schweiz schaut auf eine grosse Tradition in Druck und Presse zurück. Zu einem guten Teil ist dies den Hugenotten zu verdanken, die in der Reformationszeit in die Romandie einwanderten und die Westschweiz zu einem Zentrum des europäischen Buch- und Zeitschriftendrucks machten. Die «Feuille d’Avis de Neuchâtel» gehört zu den ältesten Zeitungen überhaupt. Sie wurde 1738 gegründet – ist also ein halbes Jahrhundert älter als die auch nicht mehr ganz junge NZZ.

Im 19. Jahrhundert wurde die Romandie, wie auch die Deutschschweiz, zu einem Eldorado der Meinungspresse. In den welschen Kantonen entstand eine Vielzahl von Parteizeitungen, die meist von parteinahen Druckereibesitzern, gleichsam mit der linken Hand, verlegt wurden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Genf eine liberale, eine freisinnige, eine katholisch-konservative, eine sozialistische und eine kommunistische Zeitung.

Die Breitenwirkung dieser Blätter blieb beschränkt, weil sie sich an Leser richteten, die ohnehin gleich dachten. Die neuen Informationsbedürfnisse wurden anderweitig abgedeckt. 1898 entstand in Genf die erste Boulevardzeitung der Schweiz. Sie wurde für 5 Centimes auf der Strasse verkauft und war auf Sensationelles aus. Ihre erste Sondernummer produzierte sie im Mai 1898, als Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn, die berühmte «Sisi», beim Schiffsquai von einem italienischen Anarchisten ermordet wurde.

Regionale Mini-Oligopole

Bis in die 1960er Jahre gehörte die Westschweiz zu den Regionen mit der weltweit grössten Dichte an Zeitungstiteln. Dann setzte eine grosse Fusions- und Konzentrationswelle ein. Viele parteigebundene Zeitungen verschwanden; die cleversten öffneten sich und kauften die weniger cleveren auf. Es entstanden regionale «Mini-Oligopole». Den Waadtländer Markt beherrschte die Lousonna-Gruppe der Familien Lamunière und Payot, in Genf gab Jean-Claude Nicole den Ton an.

Im Wallis hatte der vierschrötig katholisch-konservative André Luisier das Sagen, bevor er sein Vermögen im FC Sion verlochte. Neuenburg war wie immer in zwei Hälften gespalten: Im unteren Kantonsteil war der liberal-konservative «Express» der Familie Wolfrath der Bandleader, in La Chaux-de-Fonds gab Gilles Baillod, ein breitschultriger Koloss mit exotischem Neuenburger Jura-Accent und im Winter mit Pelzmütze, den Pressezaren. Und in Freiburg fuhr die von Klosterfrauen geführte «Liberté» seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil einen fortschrittlich katholischen Kurs.

Diese Zeitungen blieben meist in kantonalen Grenzen gefangen. Dies änderte sich aber nach und nach. Der Genfer «La Suisse»-Verleger Nicole versuchte, mit roten Schlagzeilen, vielen Sportnachrichten und aggressivem Marketing die ganze Romandie zu erobern; die Lousonna-Gruppe, zur «Edipresse» umgewandelt, hielt mit «Le Matin» dagegen. Auch auf dem Sonntagsmarkt knallte es: Hier kamen sich «La Suisse» und «Le Matin Dimanche» ins Gehege. Doch Nicole hatte sich überschätzt: Die Lamunière verbündeten sich mit der grossen Inseratefirma Publicitas und fuhren den Genfer an die Wand. 1994 musste «La Suisse» Konkurs anmelden. Edipresse war jetzt der unbestrittene Platzhirsch.

Die Zürcher kommen

Doch bald pirschten sich neue Konkurrenten heran. In den 1980er Jahren verstärkte die Ringier-Gruppe, die das Wochenblatt «L’Illustré» verlegte, ihr Engagement. Als die Zürcher das Magazin «Die Woche» lancierten, gaben sie ihm einen kleinen welschen Ableger namens «L’Hebdo». Sein Chefredaktor wurde der begabte Waadtländer Journalist Jacques Pilet.

Während «Die Woche» bald einging, machte Pilet sein Blatt (mit der Rückendeckung des Ringier-Souffleurs Frank A. Meyer) zu einem auflüpfigen, frechen, hedonistischen und sehr europhilen modernen Magazin, das voll den welschen Zeitgeist traf. Es wurde ein Blatt für die Boomer, und es boomte auch, zumindest für damalige Vorstellungen: In den besten Zeiten erreichte «L’Hebdo» eine Auflage von gegen 40 000 Exemplaren – sehr zum Ärger der Marktleader Lamunière. Diese sahen es nicht gern, dass die Zürcher in ihrem Revier zu wildern begannen.

Flugs holten sie den talentierten Monsieur Pilet in ihr Boot. Sie lancierten unter seiner Führung die Tageszeitung «Le Nouveau Quotidien» («NQ»), die mit Kunstfotos und violetten Titeln die welschen Yuppies begeisterte. In ihrem Untertitel bezeichnete sich die Zeitung als «journal suisse et européen». Dieser Aktivismus blieb nicht ohne Folgen: Im Dezember 1992 brach bei der eidgenössischen Abstimmung über den EWR (Europäischen Wirtschaftsraum) die europapolitische Kluft zwischen den EU-freundlichen Romands und den skeptischeren Deutschschweizern und Tessinern voll auf.

Damit hatte Pilet seinen Zenit erreicht, aber auch schon überschritten. Was danach kam, war weniger glorreich. Der «NQ» begann zu schlittern. Die Lamunière begannen, sich Gedanken über die Zukunft dieses zwar munteren, aber teuren Babys zu machen. Und weil das traditionsreiche, liberale «Journal de Genève» ebenfalls schlingerte und auch die Genfer Privatbankiers keine Lust mehr hatten, Presseförderung zu betreiben, wurden das altehrwürdige Journal und der junge, freche «NQ» im Jahr 1998 zu «Le Temps» fusioniert, in der Hoffnung, dass daraus eine Art welscher NZZ entstehe. Aber auch der qualitativ hochstehende Neuling «Le Temps» kam nie wirklich auf einen grünen Zweig.

Big Bang

Edipresse war mit dieser Fusion nicht aus dem Schneider. 2006 kam es auf dem welschen Medienmarkt zu einem Big Bang: Die Tamedia-Gruppe, Besitzerin der Cashmaschine «20 Minuten», warf Edipresse den Fehdehandschuh hin und lancierte die Gratiszeitung «20 minutes». Dies liess der welsche Marktleader nicht auf sich sitzen: Mit «Le Matin bleu» versuchte er den Angriff abzuwehren – erfolglos. Nun reifte bei Lamunière Vater und Sohn die Einsicht, dass man nicht auf Konfrontationskurs gehen, sondern sich mit der Tamedia verständigen sollte. Die Zeiten hatten sich geändert.

Der Vater Marc Lamunière war noch ein Verleger im klassischen Sinn, der subtile und erotisch angehauchte Novellen schrieb, Schlagzeug spielte und sich gern mit Musikern und Journalisten und anderen zwielichtigen Gestalten umgab. Sein Sohn Pierre dagegen gilt als kühl rechnender und international ausgerichteter Unternehmer. Und er handelte kühn und kühl: Im Jahr 2009 verkaufte er seine Schweizer Presseaktivitäten kurzerhand der Tamedia-Gruppe – zu einem sehr guten Preis, wie es heisst – und er widmete sich fortan dem internationalen Geschäft und seinen Immobilien.

Damit gingen die grössten welschen Zeitungen in Zürcher Besitz. Die Tamedia-Gruppe fegte jetzt mit eisernem Besen. «Le Matin» wurde werktags eingestellt; «24 heures» und «Tribune de Genève» verschmolzen. Natürlich werden diese Zeitungen wie auch «Le Matin Dimanche» auch weiterhin grösstenteils von welschen Journalisten gemacht.

Und dennoch bleibt die verstörende Tatsache, dass ein Grossteil der welschen Presse heute ferngesteuert und fremdbestimmt ist. Dies kam nie schöner zum Ausdruck als vor einigen Tagen, als offenbar ein französisch sprechender «Avatar» der Tamedia-Chefin Jessica Peppel-Schulz ihrer welschen Belegschaft die neue Restrukturierung erklärte.

Vielfalt mit Grenzen

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die neuere Geschichte der welschen Presse ist die Geschichte eines Niedergangs. Zwar findet man in der Romandie nach wie vor eine lebendige Lokalpresse und neben den Tamedia-Titeln mehrere lesenswerte Tageszeitungen (von denen notabene einige von der französischen Hersant-Gruppe kontrolliert werden).

Zudem sorgen kleine Aussenseiter – wie der linke «Courrier de Genève», das christliche «Echo Magazine» in Genf, das Satiremagazin «Vigousse», die von der Ligue vaudoise herausgegebene Wochenzeitung «La Nation» oder die Kulturzeitschrift «La couleur des jours» – für etwas Vielfalt. Aber diese hat Grenzen. Eine gewisse Verflachung der Inhalte ist unübersehbar.

Aber Klagen nützt nichts. Es gibt in der welschen Schweiz genug grosse Vermögen und kluge Leute. An ihnen wäre es, der Romandie wieder zu einer vielfältigen eigenständigen Presse zu verhelfen, die ihrer grossen Tradition würdig ist.

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