Montag, Februar 3

Medikamente wie Ozempic und Mounjaro hemmen die Nachfrage nach Lebensmitteln. Die Industrie lernt gerade, damit umzugehen.

Wenn man so will, wacht John Furner über ein riesiges Testlabor für Konsumenten. Als Chef von Walmart weiss er von Millionen von Menschen, was sie in ihren Einkaufswagen legen – und was nicht. Und weil Walmart neben Supermärkten auch Apotheken besitzt, kann Furner Zusammenhänge herstellen, die andere übersehen. So bemerkte er, dass Kunden, die sich ein Medikament gegen Fettleibigkeit spritzen, anders einkaufen. «Weniger Einheiten und weniger Kalorien», so fasste er es für die Nachrichtenagentur Bloomberg zusammen.

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Das war im Herbst 2023. Seitdem ist die Zahl der Menschen, die Ozempic oder ähnliche Medikamente einnehmen, nochmals angestiegen. Laut Schätzungen sind es derzeit alleine in den USA fünf Millionen. Die meisten behandeln mit den Spritzen ihren Typ-2-Diabetes. Immer mehr wollen damit abnehmen. Da jeder vierte Erwachsene in den USA als fettleibig gilt, geht die Bank Morgan Stanley davon aus, dass in zehn Jahren mehr als 24 Millionen Menschen solche Abnehmspritzen nutzen werden.

Die Pharmaindustrie freut sich über die steigenden Absätze. Nun spüren auch andere Branchen erste Folgen. Die Ivy-League-Universität Cornell hat untersucht, wie sich die Nachfrage nach Lebensmitteln verändert, wenn sich Personen während mehr als sechs Monaten ein Medikament zur Gewichtsreduktion spritzen. Das Resultat der kürzlich veröffentlichten Studie zeigt: Sie kaufen weniger Snacks, weniger Süssigkeiten und weniger andere kalorienreiche Lebensmittel.

Weniger Kalorien, weniger Zucker

«Sie haben Angst», sagte Lars Fruergaard Jörgensen, der Chef von Novo Nordisk, vor einigen Monaten in einem Interview mit Bloomberg. Mit «sie» meinte er die Lebensmittelkonzerne – und ihre Furcht galt Novo Nordisks Abnehmspritzen Ozempic und Wegovy. «Einige CEO aus der Branche haben mich deshalb bereits angerufen», sagte Jörgensen.

Denn wer Ozempic, Wegovy, Mounjaro und wie die Medikamente alle heissen nutzt, nimmt im Schnitt noch etwa 1500 Kalorien pro Tag zu sich. Das ist zwei Drittel der empfohlenen Menge für Männer. Zudem hört jeder Vierte auf, Alkohol zu trinken. Jeder Fünfte verzichtet auf Süssgetränke.

Die Lebensmittelindustrie trifft das in ihrem Kern. Die Diät ist der Feind ihres Geschäftsmodells, das in gewisser Weise davon lebt, dass Menschen nicht aufhören können zu essen. Nun merken die Konzerne: Sie können es doch. Der Grund dafür ist der Wirkstoff GLP-1, der in den Spritzen enthalten ist. Er verlangsamt die Verdauung, dämpft das Hungergefühl – und verändert damit das Kaufverhalten.

Morgan Stanley schätzt, dass die Nachfrage nach Süssgetränken, Backwaren und salzigen Snacks in den USA bis zum Jahr 2035 um 3 Prozent zurückgehen könnte.

Für die grossen Konzerne bedeutet das: umdenken. Jean-Philippe Bertschy, Finanzanalyst bei der Bank Vontobel, sagt: «Die Unsicherheit rund um die GLP-1-Medikamente in Bezug auf das künftige Mengenwachstum wird eine wichtige Debatte in der Branche werden.»

Schon lange versucht die Industrie, auch gesundheitsbewusste Konsumenten für ihre Produkte zu gewinnen. Doch wie geht man mit Menschen um, die plötzlich nur noch die Hälfte essen? Das versuchen die Nahrungsmittelkonzerne gerade herauszufinden.

Nestlé hat Linie für Ozempic-Anwender lanciert

Nestlé etwa hat im Herbst eine Produktlinie auf den Markt gebracht, die sich gezielt an Nutzer von Abnehmspritzen richtet. «Vital Pursuit» heissen die Tiefkühlgerichte, die den heutigen Empfehlungen für eine ausgewogene Ernährung entsprechen: Sie sind reich an Eiweiss und Ballaststoffen und haben wenig Fett. Die Pizzen, Sandwiches und Pasta-Bowls sind aber vor allem eines: vernünftig portioniert.

Bis jetzt gibt es «Vital Pursuit» nur in den USA. Wie gut die Produktlinie ankommt, verrät Nestlé nicht. «Für eine Schlussfolgerung ist es noch zu früh, aber die erste Resonanz ist ermutigend», sagt ein Sprecher.

Daneben setzt Nestlé auf seinen Geschäftsbereich Health Science, der Nahrungsergänzungsmittel herstellt. «Diese Produkte sind jetzt schon komplementär und sprechen die Bedürfnisse von GLP-1-Benutzern an.» Denn wer in kurzer Zeit viel abnimmt, muss darauf achten, weiterhin ausreichend Nährstoffe zu sich zu nehmen.

Zur Vermarktung hat Nestlé eine eigene Website eingerichtet. Dort geben Experten Tipps zum Umgang mit Nebenwirkungen und erklären, wie man sich «für seinen sich verändernden Körper» richtig kleidet. Im Mittelpunkt stehen jedoch, wenig überraschend: die eigenen Produkte.

Ein Joghurt als Mahlzeit

Auch andere Unternehmen versuchen sich zu positionieren. Der Snacks-und Süsswaren-Konzern Mondelez betont, dass viele seiner Produkte jetzt schon einen hohen Proteinanteil hätten. Danone wiederum will seine Joghurts verstärkt bei Menschen vermarkten, die weniger essen. Und sogar Campbell’s hofft auf einen Aufschwung für sein harziges Suppengeschäft.

Doch die Spritzen zügeln nicht nur den Appetit, sie scheinen auch die Vorlieben der Konsumenten zu verändern. Viele GLP-1-Nutzer berichten, dass sie das Interesse an hochverarbeiteten Lebensmitteln verloren hätten – also an Produkten mit Zutaten, die in einer normalen Küche nicht vorkommen. Dazu gehören etwa Farbstoffe und künstliche Süssstoffe, wie sie in Glace, Schokolade oder Tiefkühlpizzen vorkommen.

Welche Folgen das für die Lebensmittelbranche hat, lässt sich noch kaum abschätzen. Zumindest Nestlé, den grössten Nahrungsmittelkonzern der Welt, dürfte der Wandel nicht allzu hart treffen. Seine umsatzstärksten Kategorien sind Kaffee und Heimtiernahrung.

Müssen sich Supermärkte anpassen?

Die Studie der Cornell-Universität hat nicht nur untersucht, welche Lebensmittel weniger eingekauft werden, sie wollte auch wissen, wie stark die Ausgaben für Essen sinken. Das Ergebnis: In Haushalten mit mindestens einem GLP-1-Nutzer gingen die Lebensmittelkosten um bis zu 8 Prozent zurück. Bei den hochverarbeiteten kalorienreichen Snacks war der Rückgang noch höher.

Die Autoren der Studie halten es deshalb für denkbar, dass Supermärkte ihr Sortiment künftig anpassen. Auch die Platzierung der Produkte könnte sich verändern. Gesündere Produkte rücken in den Fokus, während Snacks und Süssigkeiten in die unteren Regale rutschen.

In der Schweiz ist man von solchen Überlegungen noch weit entfernt. Der Detailhändler Coop etwa schreibt: «Das Einkaufsverhalten hat sich in letzter Zeit nicht signifikant verändert.»

Das liegt daran, dass die Abnehmspritzen hier längst nicht so weit verbreitet sind wie in den USA. Weniger Menschen sind übergewichtig, und eine Kostenfrage ist es auch. Wegovy ist derzeit die einzige von der Grundversicherung gedeckte Abnehmspritze. Ozempic und Mounjaro sind zwar ebenfalls zugelassen, die Kosten werden aber nur zur Behandlung von Diabetes übernommen.

Wundermittel Ozempic?

Global betrachtet ist aber eines bekannt: Die Menschen werden dicker. Seit dem Jahr 1980 hat sich die Zahl der Übergewichtigen weltweit verdoppelt, und es gibt keine Anzeichen, dass sich dieser Anstieg verlangsamt. Die World Obesity Federation geht davon aus, dass im Jahr 2035 einer von vier Menschen fettleibig sein wird.

Und während sich die Lebensmittelindustrie noch auf die neue Realität einstellt, gibt es Hinweise, dass die GLP-1-Medikamente weit mehr sein könnten als eine Lösung gegen Übergewicht. Jüngste Erkenntnisse aus der Medizin lassen vermuten, dass das Hormon nicht nur den Appetit dämpft, sondern auch das Risiko für Herzinfarkte und Nierenerkrankungen senken könnte.

Patienten berichten zudem, dass sie mit Ozempic nicht nur Gewicht verloren haben, sondern auch aufgehört haben zu rauchen und Alkohol zu trinken. Sollte sich das als wahr herausstellen, werden wohl noch mehr CEO wie John Furner von Walmart erkennen, wie grundlegend sich ihr Geschäft gerade verändert.

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